Peinliche Verwandtschaft

Über Adalbert Stifters Rolle im Werk Thomas Bernhards - mit einigen Seitenblicken auf Arnold Stadlers Annäherung "Mein Stifter"

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Beim Wiederlesen im "Nachsommer", erzählt Arnold Stadler in seinem rechtzeitig zum 200. Geburtstag Adalbert Stifters vorgelegten Buch "Mein Stifter", "fiel mir ein, daß Thomas Bernhard, der Lästerer, doch nichts anderes gemacht hat, als das zu realisieren im Leben, wovon Adalbert Stifter nur träumen konnte und das allenfalls in der Literatur Realität wurde".

Stadler formuliert damit keine gerade neue Beobachtung: Denn dass Bernhard, dessen letztvollendeter Roman "Alte Meister" (1985) tatsächlich kein gutes Haar mehr an dem literarischen Ahnen Stifter ließ, in seinem berühmten Ohlsdorfer Vierkanthof selbst ein Anwesen bewohnte, das verdächtig an dasjenige des Freiherrn von Risach in Stifters "Nachsommer" erinnert, ist in den biografischen Niederungen der Bernhard-Philologie längst eine olle Kamelle.

Doch Stadlers Buch will auch gar keine wissenschaftliche Abhandlung über Stifter sein, "sondern das Zeichen einer persönlichen Anhänglichkeit", wie der Autor in einer einleitenden "Notiz" betont. Als (auto-)biografische Hommage versammelt es kreisende, persönliche Gedanken über das Leben des verehrten Schriftstellers, die eigenen Stifter-Lektüren, ihre Wandlungen und ihre Spiegelungen in der (literarischen) Stifter-Rezeption anderer Autoren.

In diesem Sinne müssen natürlich von Stadler auch diejenigen thematisiert werden, die sich weniger nett über das große Geburtstagskind und seinen berühmtesten Roman geäußert haben: "Der Nachsommer darf weiterhin ungestraft als monströs, verunglückt, das langweiligste aller Bücher, die geschrieben wurden, bezeichnet werden [...], immer wieder abgefertigt werden, als wäre Stifter zum Abschuß freigegeben. Warum dieser Haß?"

Stifter "hatte naturgemäß auch ehemalige Bewunderer", präzisiert der Meßkirchener Georg-Büchner-Preisträger von 1999 in koketter Anlehnung an den typischen Bernhard-Sound, "und das sind, wie wir wissen, die schlimmsten, so zum Beispiel Arno Schmidt, der ein ganzes Buch über Stifter schrieb; und eben naturgemäß [!] auch Thomas Bernhard, der in der Maske Regers" - also des Protagonisten in "Alte Meister" - "über Stifter herfällt".

Der Satz ist in zweierlei Hinsicht problematisch. Erstens hat Schmidt niemals "ein ganzes Buch" über Stifter geschrieben, und den Autor Bernhard einfach mit seiner Figur Reger gleichzusetzen, ist nicht nur innerhalb literaturwissenschaftlicher Gepflogenheiten fragwürdig. Was der Germanist Stadler auch einräumt, um es für seine eigenen Betrachtungen vorsorglich gleich wieder von sich zu weisen: "Das ist ein Verfahren, das in der Literaturwissenschaft zwar als sträflich gilt, beim Lesen von Thomas Bernhard sich geradezu aufdrängt", behauptet er.

Wie auch immer - offensichtlich hat Stadler sein Buch schnell geschrieben, in großer Eile, um zum großen Stifter-Geburtstag und, wie er selbst betont, 20-jährigen Erscheinungsjubiläum von Bernhards "Alte Meister" seine schriftstellerische Duftmarke absetzen zu können.

Bernhard und Stifter so ausführlich nebeneinander zu stellen, wie es Stadler in seinem Buch macht, hat dabei durchaus gute Gründe. Ist doch Bernhards persönliche und besondere Verehrung Stifters schon seit Langem kein Geheimnis mehr. Am 2.3.1971 schreibt der österreichische Schriftsteller an Hilde Spiel: "Was Wittgenstein betrifft, er ist die Reinheit Stifters, Klarheit Kants in einem und seit (und mit ihm) Stifter der Größte."

Das ist nur eine von vielen Textstellen, an denen Bernhard nebenbei durchblicken lässt, wie hoch er Stifter neben anderen seiner Vorbilder einschätzte. "Stifter war für Thomas Bernhard offenbar eine Gestalt, die ihn wie keine andere zur Auseinandersetzung herausforderte, sie war ihm Vorbild und Gegenbild in einem, und durch eine schroff wechselnde Ausleuchtung erhält sowohl die Tradition als auch das, was aus dieser Tradition geworden ist, scharfe, ungewohnte Konturen", schreibt der Literaturwissenschaftler Alfred Doppler über diese eigentümliche literarische Liaison.

Nicht selten wird der Prosaautor Bernhard von seinen Interpreten sogar geradezu als 'Schüler' Stifters gesehen und mit der angeblichen 'Genauigkeit' seiner Prosa in Verbindung gebracht. So bemerkt der Salzburger Germanist Hans Höller über die kontemplative Szene aus Bernhards "Korrektur" (1975), in der der Protagonist Roithamer eine gelbe Papierrose betrachtet und sich der besonderen Begebenheit erinnert, die mit ihr wie eine Epiphanie verbunden ist: "Solche Stellen in Bernhards Werk zeigen sein ästhetisches Gefühl für kleine, tief berührende Bilder und Szenen, die an größere Autoren denken lassen, an Jean Paul, Büchner, Stifter oder Musil."

Umgekehrt lassen sich auch bei Stifter schon Vorboten jener literarischen Moderne ausmachen, die zu zentralen Motiven Bernhard'schen Schreibens werden sollten. Leopold Federmair verweist da etwa auf Stifters letzte Erzählung mit dem passenden Titel "Nachkommenschaften", "wo ein Maler seine vergeblichen Versuche, den Dachstein abzubilden, schildert: eine Darstellung der Undarstellbarkeit des Gegebenen, die über das Eingeständnis persönlicher Unfähigkeit hinausgeht, vorgetragen in einem insistierenden, halb komischen, halb tragischen Ton, den mehr als hundert Jahre später Thomas Bernhard zur Virtuosität bringen sollte".

Stadlers Kritik an Bernhard bleibt jedoch trotz alledem über weite Strecken in der feuilletonistischen Perspektive der 80er-Jahre verhaftet. Den grandiosen Roman "Holzfällen" (1984) etwa rezipiert er immer noch als bloßes Skandal- und Klatschbuch. Dazu versuchte es jedoch damals allein Bernhards ehemaliger Maria Saaler Mäzen Gerhard Lampersberg zu machen, der seinen einstigen Freund erfolgreich verklagte und den Roman kurzerhand von der österreichischen Polizei beschlagnahmen ließ, weil er sich in der dort verspotteten Figur Auersberger wiederzuerkennen glaubte.

"Das erste von [Bernhard] geschriebene Buch, das ich las, war Holzfällen", berichtet uns nun Stadler, "auf den Lampertsberg [sic!]-Skandal hin, als wollte Bernhard das Outing vorwegnehmen; dieser Skandal verschaffte zum ersten Mal die lange gewünschte Publizität über den hermetischen Literaturkreis hinaus - er litt ja zeitlebens am jungen Ruhm Peter Handkes".

Auch dies ist leider kompletter Unsinn: Bernhard war nun wirklich schon lange zuvor, und zwar bereits mit seinem Debütroman "Frost" (1962) quasi über Nacht berühmt geworden und hatte für das Erstlingswerk bis 1970 bereits fast alle wichtigen deutschen und österreichischen Literaturpreise eingeheimst. Im selben Jahr hatte er dann auch noch mit dem großen Erfolg von "Ein Fest für Boris" (als Beginn der bis zu seinem Tod währenden Zusammenarbeit mit dem Regisseur Claus Peymann) seine phänomenale Dramatikerkarriere fulminant begründet und war allerspätestens seit dem so genannten "Notlichtskandal" um das Drama "Der Ignorant und der Wahnsinnige" (1972 bei den Salzburger Festspielen) und dem - knapp zehn Jahre vor "Holzfällen"! - prozessualen Nachspiel um seinen autobiografischen Roman "Die Ursache" (1975) in aller Munde.

Nur eine kulturelle Auszeichnung, die er sich nach Angaben seines langjährigen Freunds und Nachbarn Karl Ignaz Hennetmair sehr gewünscht hatte, sollte Bernhard allerdings nie verliehen bekommen: Den "Adalbert Stifter-Preis".

Und hier ist auch Stadler in seiner unbedarften, locker dahin parlierenden Art durchaus handfesten Widersprüchen zu Bernhards später, polemisch-fiktionalisierter Stifter-Beschimpfung auf der Spur. Stadlers demonstrative Distanzierung von Bernhard wird zudem auch von ihm selbst immer wieder zurückgenommen und allein schon dadurch konterkariert, dass er in seinem "Kein Exkurs" untertitelten Bernhard-Kapitel doch auch sehr viel über dessen Stifter-Rezeption hinaus thematisiert. So etwa Bernhards merkwürdig ambivalente Rezeption Martin Heideggers und Anton Bruckners, die in "Alte Meister" eng mit den Hasstiraden gegen Stifter verknüpft ist: "Warum Bernhard in diesem oberösterreichischen Zusammenhang noch Heidegger dazunimmt, ist mir nicht klargeworden", grübelt Stadler. Doch einiges darüber wird in seinen tastenden Ausführungen dennoch deutlich, gipfelnd in dem treffenden Satz: "Das ganze Buch Alte Meister ist ja, darf ich sagen, auch ein Stifter-Buch. Thomas Bernhards Mein Stifter. Auch ein Heidegger-Buch. Und ein Bruckner-Buch. Also Thomas Bernhards Mein Stifter, mein Bruckner, mein Heidegger, meine Alten Meister in einem."

Trotz alledem kann Stadler seine heutige Empörung über den Roman nicht verhehlen: "Ich weiß nicht, ob Thomas B. ein Zyniker war. In einem Buch wie Alte Meister gewiß. Es soll ja eine Komödie sein, ist es aber nicht. Auf Kosten eines Reger sich derart über einen wie Stifter herzumachen!"

Mit dieser Einschätzung liegt Stadler wieder einmal daneben: Es geht in dem teils satirischen Roman "Alte Meister" wohl auch um so etwas wie den produktiven Versuch der Befreiung von literarischen und musikalischen Übervätern - und damit um die explizite Beschreibung künstlerischer Verwandtschaften. Somit ist der Text keineswegs "zynisch" zu nennen, sondern vielmehr, zugespitzt formuliert, geradezu als verkappte Liebeserklärung und Selbstbeschreibung Bernhards lesbar - vor allem im Blick auf den in "Alte Meister" durch die grantelnde Figur Regers auf den ersten Blick so vollkommen vernichteten Stifter: "Wenn wir Stifter mit dem Rotstift zu lesen anfangen, kommen wir aus dem Korrigieren nicht heraus, sagte Reger. Hier hat kein Genie zur Feder gegriffen, sagte er, sondern ein übler Stümper. Wenn es je einen Begriff einer geschmacklosen, faden und sentimentalen und zwecklosen Literatur gegeben hat, so trifft er genau auf das zu, das Stifter geschrieben hat", heißt es in "Alte Meister" - einerseits.

Doch andererseits gibt es kaum einen Autor, bei dem so sehr wie bei Bernhard in endlosen, ebenso "zwecklos" erscheinenden apodiktischen Satzwiederholungen das immergleiche negative Weltbild beschworen wird - und das noch dazu mit einer mindestens ebenso großen Handlungsarmut, wie sie in den späten Romanen Stifters zu verzeichnen ist. So wird auch in "Alte Meister" der Bruch, der die (ehemalige) Wertschätzung des Vorbilds Stifter von der modernen Perspektive eines Weltliteraten des 20. Jahrhunderts trennt, deutlich benannt: "Wie ich Stifter wirklich gelesen habe vor einem Jahr, diesen Großmeister der Prosa, als welcher er ja auch bezeichnet wird, war ich mir selber widerwärtig in der Tatsache, diesen stümperhaften Schreiber jemals verehrt, ja geliebt zu haben. Ich habe Stifter in meiner Jugend gelesen und hatte eine auf diesen Leseerlebnissen begründete Erinnerung an ihn. Ich hatte Stifter mit zwölf und mit sechzehn Jahren gelesen, in einem für mich völlig unkritischen Zeitalter."

Stadler vermutet, dass der Bernhard'sche Protagonist Reger die "Nachsommer"-Romanfigur Risach gleichzeitig in den Schatten stelle und doch auch "irgendwie" von ihr grundiert sei. So erscheint ihm "Alte Meister" am Ende als "Anti-Nachsommer, und die Helden sind Anti-Nachsommer-Helden, vor allem Reger ist eine von Risach her verständliche Gegenfigur".

Eine treffende Einsicht, die die Bernhard-Forschung bereits auch im Blick auf sein opus summum "Auslöschung" (1986) gewonnen hat. "Es ist fast so, als wäre diese Stifter-Passage [in "Alte Meister"] eine Abrechnung Thomas Bernhards mit sich selbst in der Gestalt einer Komödie", schreibt Stadler. "Wenn Stifter so gelebt hätte wie seine Figuren, dann wäre das ganz furchtbar. Denn solche Menschen hätten schon in der Romanwelt nicht leben können. Und das gilt auch für Thomas Bernhard".

Letzteres ist allerdings schon wieder eine seltsam anmutende Bemerkung, die zeigt, wie plötzlich Stadler in seinem Buch immer wieder hinter eigene Einsichten zurückfallen kann, um sich dabei zu ungedeckt formulierten Blödsinnigkeiten hinreißen zu lassen, die ihm die Lektoren trotz aller jubiläumsbedingten Eile wohl besser herausgestrichen hätten. Stifters Roman im Gegenteil als - freilich in sich gebrochene und scheiternde - Wunschbiografie und erschriebene Gegenwelt zur erlittenen eigenen Lebensrealität Stifters zu lesen, ist mittlerweile (nicht nur literaturwissenschaftlicher) Konsens. Mit anderen Worten: So wie seine Romanfiguren leben zu können, wäre aus Stifters Perspektive wahrscheinlich alles andere als "furchtbar" gewesen. Und die Figuren in Stifters und Bernhards Romanen leben doch entgegen Stadlers Behauptung sehr wohl in der poetisch filigran konstruierten Welt, die sich zwischen den beiden Buchdeckeln dieser Bände auftut.

Wenn auch etwa so prekär, wie die von Stifter so geliebten Kakteen in einem dünngläsernen Gewächshaus, auf das gerade ein monströser Hurrican zukommt. Der Unterschied zwischen beiden Schriftstellern ist dabei der, dass Bernhard nicht mehr verschweigt, was Stifter radikal aus seiner erschriebenen Ordnung zu verbannen suchte: "Der Nachsommer ist ein Versuchsaufbau für das richtige Leben und gleichsam unter Laborbedingungen", schreibt Wolfgang Matz in seinem Buch "Gewalt des Gewordenen. Zum Werk Adalbert Stifters". "Um solches möglich zu machen, wird die Bildung der Menschen in einen Mikrokosmos verlegt, der gegen jeden fremden, und das heißt feindlichen Einfluß abgeriegelt ist."

Der zerstörerische Sturm der sich ankündigenden Moderne wird also bei Stifter mit großem erzählerischen Aufwand zum annähernden Verschwinden gebracht, während Bernhard nicht weniger Mühen darauf verwendet, explizit gegen ihn anzuschreien und ihn damit selbst zum unhintergehbaren Ausgangspunkt seiner Prosa zu machen. Sowohl Stifters "Nachsommer" als auch Bernhards moderne Antwort darauf sind somit auf jeweils eigene, spiegelbildliche Weise Monumente scheiternder künstlerischer Protestentwürfe gegen eine als verworfen erfahrene gesellschaftliche Realität.

Ein Gedanke, den Stadler an einer Stelle sogar selbst äußert: "Die Destruktion von Thomas Bernhard ist dem zwanzigsten Jahrhundert geschuldet, die Art der Konstruktion von Stifters Nachsommer einem ins Resignative gewendeten Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts".

Deswegen schimpft Reger in "Alte Meister" vor allem auf die verzerrende Vergötterung Stifters, deren idyllisiertes Ideal mit seiner Literatur am Ende kaum noch etwas gemein hatte, ja sie verfälschte und ideologisch instrumentalisierte. Nicht zuletzt in der Germanistik: "Die Literaturwissenschaftler sind in Stifter nicht nur verliebt, sie sind in Stifter vernarrt. Ich glaube, die Literaturwissenschaftler legen, was Stifter betrifft, absolut einen unzureichenden Maßstab an. Sie schreiben über Stifter immer so viel, wie über keinen anderen Schriftsteller seiner Zeit, und wenn wir lesen, was sie über Stifter schreiben, müssen wir annehmen, daß sie von Stifter überhaupt nichts oder wenigstens alles nur gänzlich oberflächlich gelesen haben."

Bernhards Figur Reger sei bestrebt, Stifter "aus den Sichtweisen einer konventionellen Rezeption herauszulösen", schreibt dazu der Literaturwissenschaftler Alfred Doppler. "Wie die besondere Form der Goetheverehrung in [Bernhards letztpubliziertem Roman] Auslöschung wird in Alte Meister die Stifterverehrung, wie sie in Österrreich und besonders in Oberösterreich gepflegt wird, radikal ins Gegenteil verkehrt."

Bernhards Fiktion wendet sich also in erster Linie gegen einen "weltberühmten" Adalbert Stifter, der nach den Worten Regers lediglich noch als "totes Germanistenpapier" fungiere. Seine Polemik zielt demnach auf den literarischen Götzendienst der universitären und der zeitweise geradezu kultischen gesellschaftlichen Rezeption Stifters in der Nachkriegszeit. Sie machte sich in quasi-religiösen Erscheinungsformen bemerkbar, die übrigens bereits in der nationalsozialistischen Germanistik besonders groteske Formen annahm: "Die ganze Dummheit der Menschen zeigt sich in der Tatsache, daß sie jetzt alle zu Stifter pilgern zu Hunderttausenden und sich niederknien vor jedem einzelnen der Bücher, als wäre jedes einzelne ein Altar", schimpft Reger.

"Die Karikatur", schreibt Doppler, "die die sanktionierten alten Meister von ihrem Heiligenschein befreit, ermöglicht es, den Zustand der Bewunderung so rechtzeitig abzubrechen, daß daraus nicht der Zustand der Verdummung entsteht, sondern Verständnis, Achtung und Respekt sich einstellen." Das hat, in einem seiner en passant geäußerten Nebengedanken, auch Arnold Stadler erfasst: "Vielleicht polemisierte Bernhard auch deswegen so gegen Stifter, [...] weil er zum österreichischen Nationalheiligen der Literatur geworden war. Während Bernhard genau zur Zeit von Alte Meister in der Rolle des Ekels der Nation gefeiert wurde, sich darin verfangen hatte und gefangen war. Dabei liebte er, Bernhard, der viel mehr Österreicher war als Stifter, dieses Österreich doch."

Den letzten Gedanken wird man allerdings, um es genauer zu treffen, schon wieder umformulieren müssen: Bernhard war und ist in seiner literarischen Radikalität genauso wenig für nationale Belange vereinnahmbar wie sein 'Lehrer' Stifter. Sooft der Versuch derartiger ideologischer Ursurpierungen auch gemacht wird und bei einem Großteil des Publikums und der tatsächlichen Nichtleser sogar verfangen mag - einer genauen Lektüre ihrer Werke hält er über die Zeiten hinweg nicht stand.

Literaturwissenschaftlich ließe sich Bernhards Stifter-Polemik nicht zuletzt als "Fehllesung" im Sinne der Einfluss-Angst-These Harold Blooms verstehen, wonach der Dichter, in ödipaler Rivalität mit seinem kastrierenden "Vorläufer" befangen, stets versuche, diese Kraft mittels eigener Kunstwerke zu entwaffnen. Texten also, die er in polemischer Auseinandersetzung an die Stelle ihrer von mächtigen Ahnen geschriebenen Vorgängerwerke zu setzen versucht.

Adalbert Stifter hätte demnach womöglich eine noch viel größere Bedeutung für Bernhard, als die harsche Kritik Regers in "Alte Meister" vorspiegelt. Genauer: Gerade die Polemik Regers belegt die nicht zu unterschätzende Bedeutung der Stifter-Rezeption für die Werke Bernhards. Auch die Literaturwissenschaftlerin Franziska Schößler stellt im Blick auf die daran angeschlossenen Heidegger-Tiraden in "Alte Meister" fest, die Wutausbrüche Regers erschöpften sich nicht in einer planen Ablehnung. Vielmehr sei ihr eine poetologische Selbstbeschreibung eingelagert - "das Gehaßte ist auch das Eigene."

Und letztlich gibt es Reger ja auch noch höchstpersönlich zu: "Wir sind alles aus unseren Vorfahren, sagte Reger, alles zusammen und dazu noch das eigene. [...] Daß ich mit Heidegger [sowie Bruckner und Stifter, J.S.] verwandt bin, habe ich auch immer gewußt, denn die Eltern haben das ja bei jeder Gelegenheit ausgeplaudert." Damit ist eine Schreibstrategie benannt, wie sie auch Daniel Pagenstecher, der Protagonist in Arno Schmidts großen Roman "Zettel's Traum" und ein weiterer poetisch konstruierter Verächter Stifters innerhalb der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, geradezu kongenial formuliert.

Seinen Worten nach könne den literarischen Vorgängern gar nichts 'gestohlen' werden. Lediglich würden ihre Ideen 'übernommen' "- und dann, in bedeutnd=ausführlicher Selbstverunstaltung, parafrisiert, an de Nachwelt weitergegebm." Oder, nach einer früheren Formulierung Schmidts: "Undankbarkeit gegen Vorgänger ist beinahe die Bedingung jedes Fortschreitens in Literatur oder Wissenschaft."

Anmerkung der Redaktion: Detailliertere Ausführungen zu Bernhards Stifter-Rezeption finden sich in Jan Süselbecks demnächst bei Stroemfeld, Frankfurt am Main erscheinender Dissertation "Das Gelächter der Atheisten. Zeitkritik bei Arno Schmidt & Thomas Bernhard", auf die der vorliegende Text passagenweise zurückgeht.


Titelbild

Arnold Stadler: Mein Stifter. Portrait eines Selbstmörders in spe und fünf Photographien.
DuMont Buchverlag, Köln 2005.
197 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3832179097

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