Eingebildete Krankheiten

Ein Sammelband untersucht die Pathologien der Imagination im frühneuzeitlichen Reden über Sexualität

Von Urte HelduserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Urte Helduser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie eine 1999 erschienene Studie ergab, glauben 30 Prozent der darin befragten Frauen, dass ein erschreckendes Erlebnis einer Schwangeren der Grund für Muttermale ihres Kindes sein können. Mit diesem Beleg sucht Daniela Watzke in ihrem Beitrag ("Embryologische Konzepte zur Entstehung von Missbildungen im 18. Jahrhundert") zu dem von ihr mit herausgegebenen Sammelband "Imagination und Sexualität" die Langlebigkeit von imaginationstheoretischen Konzepten aufzuzeigen: Die Auffassung vom "Versehen", wonach Eindrücke Schwangerer sich nicht nur als Muttermale, sondern auch als körperliche Deformationen dem Neugeborenen einprägen, gehört zu den eindrücklichsten Beispielen imaginationistischer Vorstellungen der Frühen Neuzeit.

Solchen Konzepten der Imagination ist in den Kulturwissenschaften innerhalb der letzten Jahre eine größere Aufmerksamkeit zuteil geworden (vgl. dazu die Rezension von Uwe Lindemann über Verena Olejniczak Lobsien und Eckhard Lobsien, "Die unsichtbare Imagination" in dieser Ausgabe). Der vorliegende Sammelband "Imagination und Sexualität. Pathologien der Einbildungskraft im medizinischen Diskurs der frühen Neuzeit" publiziert Beiträge eines gleichnamigen Workshops, veranstaltet von Mitgliedern der Bochumer Forschergruppe "Imagination und Kultur", aus deren Arbeit bereits eine Reihe von Publikationen zu diesem Themenfeld hervorgegangen ist.

Die Beiträge dieses Bandes umspannen einen Zeitraum vom Mittelalter bis in das ausgehende 18. Jahrhundert, wobei auf dem mit sieben Beiträgen vertretenen Jahrhundert der Aufklärung ein Schwerpunkt liegt. Die einzelnen Aufsätze widmen sich sehr unterschiedlichen Gegenständen, medizinischen Quellen ebenso wie pädagogischen Traktaten und literarischen und künstlerischen Werken. Die Themenstellung erweist sich insgesamt als flexibel für sehr verschiedene Fragestellungen und Akzentuierungen, wie den "medizinischen Diskurs" so muss man auch den Bezug zum Thema Sexualität in dem ein oder anderen Beitrag suchen, wo letztere ausdrücklich Gegenstand ist, bleibt möglicherweise der Aspekt der Imagination im Vagen. Eine ausführlichere Einführung der HerausgeberInnen hätte hier klärend wirken können. Entschädigt für die etwas laxe Handhabung des Themas wird man aber mit durchweg interessanten und einleuchtenden Beiträgen.

Dass die thematische Unbestimmtheit jedoch, zumindest was den Fokus auf Sexualität angeht, auch in der Sache begründet ist, zeigt der Herausgeber Jörn Steigerwald in seinem Beitrag "Encyclopédie der Sexualpathologie". Anhand seiner Analyse von Diderots und D'Alemberts Enzyklopädie stellt er fest, dass der Begriff Sexualität im 18. Jahrhundert noch nicht existiere und man für diese Zeit auch noch nicht von "Sexualpathologie" sprechen könne. Statt eines "krankhaften" gebe es nur einen übermäßigen oder unzureichenden Gebrauch 'sexueller Funktionen' - ein Befund, der sich auch auf den Anteil der Imagination an der Sexualität auswirkt: Die Imagination ist für alle sexuellen Prozesse vom Begehren bis zur Zeugung erforderlich, 'pathologisch' ist das Zuviel oder Zuwenig.

So führt z.B. humoralpathologischen Auffassungen zufolge die Aufheizung der Körpersäfte und Temperamente zu einer Erwärmung der Imagination, die sich dann in sexuellen Exzessen entlädt (ausführlich belegt das Stefanie Zaun in ihrem Beitrag über den spätmittelalterlichen Arzt Bernardus Gordonius, "Die Geburt des Sexus aus dem Geist der Einbildung"). Insgesamt gilt es also, die Einbildungskraft auf ein 'gesundes' Maß zu bringen. Führt der Mangel an Imagination zu Erektionsstörungen, so ist ihr Überschuss verantwortlich für Erotomanie, Nymphomanie, Satyriasis und Priapismus. Die Notwendigkeit einer "Ökonomie der Imagination" (so der Titel von Gabriele Vickermann-Ribémonts Beitrag) gehört somit auch zu den im medizinischen Diskurs vom ausgehenden Mittelalter bis in das 18. Jahrhundert immer wieder geäußerten Auffassungen.

Folgt man der historischen Entwicklungslinie, die der Band verfolgt, so zeichnet sich eine zunehmend imaginationsfeindliche Tendenz ab: Die Imagination wird, wie Watzke anhand der Missbildungstheorien zeigt, als theoretisches Konzept verworfen und in Bezug auf sexuelle Praktiken als schädlich kritisiert: In seinem Beitrag über "Priapian Fantasies" weist Simon Richter darauf hin, dass strenge Sittenwächter wie die "Antionanisten" Johann Heinrich Campe oder Samuel A. Tissot darauf zielten, die Sexualität als reines Fortpflanzungsgeschäft ganz von der Imagination abzulösen. Konnte sie im Feld der Sexualität aus Sicht der Aufklärer jede Menge Schaden anrichten, so galt es, die Imagination auf das Gebiet des Geistes umzulenken: Die geistige Kreativität bot sich, so Anne C. Vila in ihrem Beitrag über "Alternative Pleasures", den gens d'esprit als Kompensation für die sexuelle Lust an. In der Idee des Genies erfährt die Einbildungskraft ihre Rehabilitierung als rare aber deshalb umso wertvollere Gabe.

Dass auch solche Umwege der sexuellen Imagination zum Ziel führen, zeigt Simon Richter am Beispiel der Weimarer Dichtergenies: Der pädagogischen Antierotik zeitgenössischer Antionanie-Traktate zum Trotz huldigen die Autoren der Klassik dem Mythos des Priapus und machen Erotisches so durch den Rückgriff auf die antike Tradition zumindest für einen kleinen Kreis von Lesern akzeptabel.

Mit Käthe Meyer-Drawe ließe sich dieses literarische Genre der "Priapean Fantasies" (Richter) als Technologie des Selbst im Foucault'schen Sinne deuten: In ihrem Beitrag über den "Selbstbefleckungs"-Diskurs um 1800 schildert Meyer-Drawe eine Form der Erziehung zur Sinnlichkeit, die die Einbildungskraft im Interesse der sexuellen Hygiene reguliert. Als "hygienische Imagination" behauptet die Einbildungskraft somit entgegen allen aufklärerischen Austreibungsversuchen ihren Anteil an der Konstruktion und Regulierung des modernen Subjekts.

Titelbild

Stefanie Zaun / Daniela Watzke (Hg.): Imagination und Sexualität. Pathologien der Einbildungskraft im medizinischen Diskurs der frühen Neuzeit.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2004.
244 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-10: 3465032969

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