Hinter der Erfahrung der Entfremdung

Michèle Godau über Mythos und Ritual bei Adalbert Stifter und Hanns Henny Jahnn.

Von Oliver RufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Ruf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

All den Lobgesängen, die dieser Tage zu seinem 200. Geburtstag erscheinen, ist eines gemeinsam: Janusköpfig sei die Stifter-Rezeption. Unter den großen Erzählern des 19. Jahrhunderts wurden viele vor manch dummen Ressentiment kaum verschont. Dass ein Autor allerdings so rigoros geliebt oder gehasst, anbetungswürdig verehrt oder überdrüssig beiseite gelegt wurde, ist dann doch eine Seltenheit. Und auch die Interpreten überbieten sich in der Explikation eben dieser rezeptiven Zweigesichtigkeit. Neu ist allerdings, das Außenseitertum Adalbert Stifters zu berachten und darin jenen Umstand zu sehen, der ihn mit anderen, vermeintlich ganz andersartigen Autoren vergleichbar macht. Genau dies tut Michèle Godau in ihrer jüngst erschienen Untersuchung, in der er es gleich zu Beginn heißt: "Adalbert Stifter und Hans Henny Jahnn vergleichend zu untersuchen, hat zunächst den Anschein aberwitziger Willkür, denn unterschiedlicher können zwei Autoren auf den ersten Blick nicht sein."

Stifter, der in einem böhmischen Dorf am 23. Oktober 1805 geboren wurde und dort aufwuchs, der ein sehr guter Schüler war und ein beinahe schlechter Student, der später Hauslehrer wurde und schließlich zu einem einigermaßen erfolgreichen und vielschreibenden Schriftsteller avancierte, dessen Erfolg in den letzten Lebensjahren merklich nachließ, muss seit jeher für körper-induzierte Lektüren herhalten: Er habe sich "totgefressen" (W. G. Sebald) - wegen eines Daseins von rundweg entsetzlicher Ödnis. Aber ist deshalb auch seine Dichtung eintönig? Thomas Mann nannte Stifter schließlich den "größten und ermutigendsten Ehrenretter der Langeweile".

Gerade das ist Michèle Godau bewusst. Gerade deswegen setzt sie ihre neue Lektüre von solchen der Vergangenheit ab - etwa von Küppers Arbeit über "Literatur und Langeweile" von 1968 oder Wildbolz' Studie über "Langeweile und Faszination" aus dem Jahr 1976 - und findet gegenüber dem Tenor der jüngeren Stifter-Interpretationen deutliche Worte. Wenn es zum Beispiel bei Piechotta um ein "Universum tendenziell bedeutungsloser, sinnlos kommunizierender Signifikanten" geht, spricht Michèle Godau davon, dass solche Sichtweisen ihr "fragwürdig" erscheinen. Sinnvoller findet sie es, Stifter mit Jahnn zu vergleichen, um "andere Aspekte seiner Aktualität zu betrachten": "Das Schreiben beider bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen Banalität und Bedeutsamkeit". Beide Autoren wurden zu Lebzeiten abgelehnt beziehungsweise kaum rezipiert; heute bewundern beide wenn überhaupt nur verschworene Zirkel. Warum das so ist, versucht Godau mit einem interessanten Ansatz zu erklären.

Ihr Verfahren begründet Godau in der Einleitung mit der Beobachtung, dass sich im Werk beider Dialoge und Handlungspassagen ausmachen lassen, die rituellen Charakter haben und auf diese Weise bedeutsam erscheinen. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht das mittlere und späte Werk Stifters sowie die Prosa Jahnns, kaum überraschend in erster Linie die Romantrilogie "Fluß ohne Ufer". "Das Ritual" als Eigentümlichkeit im jeweiligen Werk hat Godau vermuten lassen, dass Stifter wie Jahnn "auf den Verlust verläßlicher Wirklichkeitskonzepte in ähnlicher Weise reagieren: mit dem Entwurf fiktiver Wirklichkeiten, in denen kollektiv gültige Rituale ein überindividuell verbindliches Wertesystem zum Ausdruck bringen, dessen Bestand sie zugleich zu gewährleisten scheinen."

Elemente des Mythos, folgert Godau, dienen genauso zur Gestaltung einer Wirklichkeit, "in welcher der Zweifel keinen Platz erhalten soll". Deshalb weist sie im Folgenden nach, wie beide Autoren ihren Wirklichkeitsdarstellungen mit Elementen des Mythos und des Rituals eine "spezifische Bedeutsamkeit" zu geben versuchen - ein durchaus lohnendes Unterfangen.

Dazu werden die Einzelanalysen sowohl zu Stifter als auch zu Jahnn direkt nebeneinander gestellt. Dadurch wird das ganze Ausmaß der Gemeinsamkeiten besonders deutlich. Godaus Arbeit gliedert sich in drei große Schritte, die den Darstellungen von Tradition, Raum und Zeit in den Romanen hinsichtlich mythischer Erzählstrukturen geschuldet sind. Aspekte der Wirklichkeit (bei Godau heißt dies "Wirkliche Wirklichkeit") werden umrissen, d. h. jeweils "das Problem der Wirklichkeit" - angefangen von Wirklichkeit als unveränderliche, in sich sinnvolle Ordnung über Wirklichkeit als sinnliches Erleben bis hin zur Gegenüberstellung von Wirklichkeit und Erinnerung sowie Wirklichkeit und Traum. Kunsttheoretische Positionen in der jeweiligen historischen Situation (Kunst und Isolation, Der Künstler als Medium etc.) komplettieren den ersten Untersuchungsschritt, der als Fundament für alle weiteren Überlegungen dient, die sich wiederum unter den beiden komplexen Themengebieten "Mythos" einerseits und "Ritual" andererseits subsumieren.

Selbstverständlich fällt das Ergebnis am Ende einmütig aus: Michèle Godau erkennt im Œuvre von Stifter und Jahnn etwas "Besonderes", das sie in den mythischen und kultisch-rituellen Überformungen sieht: "Gegenüber dem ständigen Verlust sinnhafter Zusammenhänge, der die Gesellschaft des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts bestimmt, verwenden sie Erzählstrukturen, mit denen sie in ihren Romanen und Erzählungen der Wirklichkeit den Anschein einer in sich bedeutungsvollen Ordnung verleihen." Auch das lässt sich anlässlich des diesjährigen Stifter-Jubiläums ausmachen: Wir haben es mit einem Autor zu tun, dessen Bedeutung gerade im Vergleich mit anderen, in gleicher Weise verkannten Schriftstellern aufscheint - beispielsweise indem überzeugend nachgewiesen wird, wie bei Stifter auf Strukturen des mythischen Erzählens zurückgegriffen wird, um eine 'Welt' zu idealisieren. Godau liest denn auch das Bemühen von Stifter und Jahnn, den Dingen und Ereignissen "eine selbstverständliche Bedeutung" zuzusprechen, als Versuch, "hinter der Erfahrung der Entfremdung" zurückzutreten. Mittels Mythos und Ritual wird diese überhöhte Wirklichkeitsdarstellung transparent; in dieser Prosa begegnet uns in praxi der Pleonasmus der "Wirklichen Wirklichkeit".

Da Godau in ihrer Arbeit fundiert den literarischen Rang eines Autors darlegt, von dessen erstaunlicher Erzählung "Nachsommer" Friedrich Hebbel einstmals sagte, derjenige, der sie bis zum Ende durchlese, gebühre die Krone Polens, ist ihr Buch ein wissenschaftlicher Leuchtturm in der Flut aus Werkausgaben und Stifter-Apologien, die uns derzeit überrollt. Empfehlenswert bleibt dennoch, Godaus Untersuchung gemeinsam mit derart klugen Anthologien wie Wolfgang Frühwalds Auswahl "Sonnenfinsternis und Schneesturm - Adalbert Stifter erzählt die Natur" (DuMont 2005) oder mit Bekenntnis-Büchern wie Arnold Stadlers "Mein Stifter" (DuMont 2005) oder Leopold Federmairs Essay "Adalbert Stifter und die Freuden der Bigotterie" (Otto Müller 2005) sowie mit Wolfgang Matz' fabelhafter Biografie "Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge" (dtv 2005) zu lesen.

Doch ersetzt dies alles freilich nicht die historisch-kritische Gesamtausgabe von Stifters Werken und Briefen (Kohlhammer), die tatsächlich kurz vor ihrem Abschluss stehen soll.

Titelbild

Michele Godau: "Wirkliche Wirklichkeit". Mythos und Ritual bei Adalbert Stifter und Hans Henny Jahnn.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2005.
218 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-10: 3826030834

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