Warum der Wal ein Fisch ist

Ein neuer Sammelband widmet sich der "Fülle der combination" in Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte

Von Andy HahnemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andy Hahnemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erst jüngst war es Karl Heinz Bohrer, der mit dem Schlachtruf "Literatur ist nicht Kultur" (SZ, 31.10./1.11.2005) wieder einmal die Literaturwissenschaften zur Selbstbesinnung aufgerufen hat: Nicht Kulturwissenschaft solle man betreiben, sondern sich endlich wieder auf die inkommensurablen und genuin ästhetischen Qualitäten von Literatur konzentrieren. Die Sprache ist alles, die Referenz nichts, und die "absolute und prinzipielle Differenz zwischen Geschichte/Realität einerseits und Literatur andererseits" nicht zu hintergehen.

Manch einem mag diese unzeitgemäße Polemik allerdings entgangen sein, war doch auf derselben Seite ein ungleich anziehenderer Artikel zu finden, der über die neueste Tagung des "Zentrums für Literaturforschung" berichtet hat. Hier wurde offenbar nicht geschmollt, sondern munter drauflos geforscht: Es ging um "Intuition und Kalkül" (nicht nur) in den Wissenschaften, um die (rechtsdrehende) Liebe, den "Columbus-Effekt" bei der Erforschung von Gelatine und die "Vermessung der Engel" im 19. Jahrhundert. Auch um Literatur, unter anderem.

Das Verhältnis von Literatur und Wissen(schaft) ist wohl das jüngste und erfolgreichste Forschungsfeld, auf dem sich momentan die Avantgarde kulturwissenschaftlicher Forschung austobt, und das "Zentrum für Literaturforschung" ist nicht ganz unschuldig daran. Schon vor fünf Jahren mit einer Tagung zu "Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte" zum Forschungsschwerpunkt ausgerufen, wird seitdem einer Kulturgeschichte des Wissens nachgespürt, in der auch die scheinbar resistenten Unternehmungen der harten Wissenschaften auf ihre diskursiven und poetischen Qualitäten abgeklopft werden. Der Band zu dieser Gründungstagung liegt jetzt, mit einiger Verspätung, vor und heißt ganz zu Recht - und gleichsam rechtfertigend - "Die Fülle der combination".

Denn zugemutet wird selbst dem geneigten Leser einiges. Da wird die russische Literatur des 19. Jahrhundert infrastrukturgeschichtlich als Epoche der Post ausgedeutet (Sven Spieker) und der "Generationswechsel" als Figur zwischen Literatur und Mikroskopie bestimmt (Ohad Parnes). Hans Jörg Rheinberger nimmt sich den Kritzeln und Schnipseln der täglichen Laborarbeit an, deren - allzu oft übersehene - produktive Funktion gerade darin besteht, einen Raum zwischen der Materialität der Experimentalsysteme und den begrifflich geordneten und präsentablen Ergebnissen zu strukturieren.

Aber natürlich fehlen auch die üblichen Verdächtigen nicht. Musils "anderer Zustand" wird von Wolf Kittler nach einigen eleganten Sprüngen von Einstein über Kafka und das Internet vor allem als Zitat der kinetischen Gastheorie und ihrer "Zustandsgleichungen" ausgemacht. Goethe, Humboldt, Schlegel und Benn treten auf und (wieder) in Kontakt mit den sie umgebenden Wissensordnungen und Inszenierungsweisen von Wissen.

Gerade in Christoph Hoffmanns Aufsatz über die medizinischen Schriften Benns zeigen sich aber auch die Beschränkungen einer scheinbar grenzenlosen Kombinatorik. Wenn das Fazit seiner luziden Analyse von Benns Dissertation in der Aufforderung aufgeht, die medizinischen Schriften Benns "als Schriftformen des medizinischen Wissens zu vergegenwärtigen" und den Bezug zu seiner literarischen Produktion vorerst zurückzustellen, sind Tautologie oder Unsinn nicht mehr weit. Denn wenn es um wissenschaftsgeschichtliche Einsichten geht, braucht man nun wirklich nicht die eher unterdurchschnittliche Dissertation eines Literaten zu analysieren, und geht es um das Werk eines großen Dichters, so ist eben doch nicht jeder zusammenkompilierte Fetzen Papier interessant.

Vor allem in der fast immer überraschenden und artistischen Überwindung dieses aporetischen "Weder-Noch", vielleicht mehr noch als in der methodischen Grundlegung einer "Poetologie des Wissens", zeigt sich der Zusammenhalt eines Forschungsfeldes (und der des Sammelbands), dessen Ränder zu den Mittelpunkten zweier unterschiedlicher Disziplinen und Erkenntnisinteressen gravitieren. Denn erst wenn man, wie Robert Stockhammer in vorliegendem Band, plausibel machen kann, warum der Wal ein Fisch ist, kommen Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte so wirklich zueinander.


Titelbild

Bernhard J. Dotzler / Sigrid Weigel (Hg.): "Fülle der combination". Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2005.
397 Seiten, 52,00 EUR.
ISBN-10: 3770540778

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