Verlogenheitsenthusiasmus, gefälliger

Kunst als das Höchste und Widerwärtigste zugleich: Thomas Holtzmanns klassische Lesung des Thomas Bernhard-Romans "Alte Meister" ist endlich im "Hörverlag" erschienen

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wer alles liest, hat nichts begriffen, sagte er", spricht Thomas Holtzmann. "Der lesende Mensch ist wie der fleischfressende auf die widerwärtigste Weise gefräßig und verdirbt sich wie der fleischfressende den Magen und die gesamte Gesundheit, den Kopf und die ganze geistige Existenz", sagt Reger, formuliert Holtzmann. "Die höchste Lust haben wir ja an den Fragmenten", liest Holtzmann trotzdem einfach weiter, "wie wir am Leben ja auch dann die höchste Lust empfinden, wenn wir es als Fragment betrachten, und wie grauenhaft ist uns das Ganze und ist uns im Grunde das fertige Vollkommene".

Holtzmann, mehrfach preisgekrönter Tragikomiker und bekannter TV-Star vom Bayerischen Staatsschauspiel zu München, trägt Thomas Bernhards als "Komödie" untertitelten Roman "Alte Meister" (1985) in der nun im Hörverlag erschienenen Aufnahme von 1991 also ganz vor. Und so lehnt man sich denn wohlig zurück, um über mehrere Abende verteilt auf sechs CDs dieser meist eher ruhig und immer sehr deutlich sprechenden Stimme eines Trägers des Großen Bundesverdienstkreuzes zuzuhören, die ungerührt Dinge vom Stapel lässt wie: "Der Staat hat mich, wie alle anderen auch, in sich hineingezwungen und mich für ihn, den Staat, gefügig gemacht und aus mir einen Staatsmenschen gemacht, einen reglementierten und registrierten und trainierten und absolvierten und pervertierten und deprimierten, wie alle anderen".

Unweigerlich sieht man Holtzmann, der im Jahr nach seiner im Südwestfunk (heute: Südwestrundfunk) ausgestrahlten Lesung die höchste Auszeichung der Bundesrepublik Deutschland annahm, während solcher Passagen vor sich. Und man hört das von tiefen Stirnfalten durchfurchte Schauspielergesicht wie in Stein gemeißelt sagen: "Wenn wir Menschen sehen, sehen wir nur Staatsmenschen, Staatsdiener, die ihr ganzes Leben dem Staat dienen und also ihr ganzes Leben der Unnatur dienen".

In den knapp fünfzehn Jahren seit ihrer Entstehung hat diese Aufnahme neue zeitgeschichtliche Kontexte gewonnen, und es ist ein Dokument, das nicht zuletzt den Vorleser selbst als monumentalen Selbstironiker erscheinen lässt: "Der Staatsmensch als der einzig menschenmögliche Mensch" namens Reger, der als Hauptfigur in Bernhards grandiosem Roman über die "katholische Staatskunst" permanent herzieht, bekommt durch Holtzmann eine in jeder Hinsicht passende Stimme verliehen. Sie verdient es, durch so viele deutsche Wohnzimmer wie möglich zu schallen: "Die Künstler sind die Verlogensten, noch viel verlogener als die Politiker, also die Kunstkünstler sind noch viel verlogener als die Staatskünstler, höre ich jetzt wieder Reger", schreibt Bernhard, bekennt Holtzmann.

Das ist, naturgemäß, zum Brüllen komisch. Ein Mann, der an fast allen wichtigen Schauspielhäusern der deutschsprachigen Theaterwelt gespielt hat, den "König Lear" William Shakespeares und Heinrich von Kleists "Prinz Friedrich von Homburg", säuselt uns hier zu unserer verdienten Belustigung in die Ohren: "Wehe, Sie lesen eindringlicher, Sie ruinieren sich alles, was Sie lesen. Es ist ganz gleich, was Sie lesen, es wird am Ende lächerlich und ist am Ende nichts wert", behauptet Holtzmanns sonore Stimme. "Hüten Sie sich vor dem Eindringen in Kunstwerke, sagte er, Sie verderben sich alles und jedes, selbst das Geliebteste"!

Genau das aber ist es natürlich, was diese Lesung ausmacht, der wir mit wachsender Begeisterung lauschen. Denn dann kommen sie ja auch schon, diese wunderbar ambigen Künstler-Vernichtungspassagen eines der wichtigsten Bernhard-Romane, und spätestens hier hat sich Holtzmann warmgesprochen: "Stifter schreibt einen fürchterlichen Stil, der noch dazu grammatikalisch unter jeder Kritik ist, genauso ist ja auch Bruckner mit seinem chaotisch-wilden, auch noch im hohen Alter religiös-pubertären Notenrausch durchgegangen."

Selbstverständlich bekommt man da nicht nur Lust, Bernhard sofort wieder selbst zu lesen, sondern möchte gleich auch noch Adalbert Stifters Werke mit hinzunehmen und Anton Bruckners Sinfonien andächtigst lauschen. Erst beim Hören dieser besonnenen Rezitation des Romans fällt es einem nämlich wie Schuppen von den Augen, wie wunderbar Harold Blooms berühmtes Theorem der literarischen Einflussangst auf Bernhards totale Stifter-Polemik als Vatermord anwendbar ist: Blooms These lautet, große Dichter versuchten, ihre berühmten Ahnen durch polemische "Fehllesungen" aus dem Weg zu räumen - indem sie ihre Literatur so weiterdächten, wie sie allein es für richtig hielten, zu ihrem poetischen Ruhm.

Holtzmanns Vortrag nun ersetzt ganze Vorlesungsreihen an der Universität, indem er uns in seiner glasklaren Intonation des "Alte Meister"-Texts auf so entwaffnend ehrliche Bernhard-Zitate wie dieses stößt: "Die sogenannten Großen lösen wir auf, zersetzen sie mit der Zeit, heben sie auf, sagte er, die großen Maler, die großen Musiker, die großen Schriftsteller, weil wir mit ihrer Größe nicht leben können, weil wir denken und alles zu Ende denken, sagte er", verblüfft uns Holtzmann.

Gleich im Anschluss daran wird dann auch schon Martin Heidegger als "nationalsozialistischer Pumphosenspießer" und "urdeutscher Philosophiewiederkäuer" abgefertigt - man hatte schon genüsslich darauf gewartet. Das erstaunliche an Holtzmanns Lesung ist es nun, dass seine Stimme auch beim Vortrag dieser satirischen Totaltiraden niemals ins Aggressive kippt, sondern höchstens eine Nuance näselnder, betonter und insistierender klingt. Holtzmann nutzt einige der spektakulärsten Schimpfpassagen in Bernhards gesamtem Werk also weniger dazu, das Naheliegende mit ihnen zu machen: Er gibt gerade nicht die Rampensau, sondern eher einen besonnenen protestantischen Prediger, der in ungetrübter Seelenruhe weltliterarische Denkmäler in Grund und Boden stampft.

Die ungeheure Kraft, die diese Jahrhundertsatire als Text in sich birgt, wird also durch Holtzmanns gezügelten Vortrag sogar noch einmal besonders betont. Seiner ruhigen Propagierung Bernhards zu lauschen, tut wohl. Mehr noch: Sie gehört rauf und runter gespielt, auf dass man den Roman endlich überall weiterlese, ihn vorlese wie eine moderne, schwarze Antibibel gegen alles - als Manifest befreienden Lachens über die Verzweiflung.

Anmerkung der Redaktion: Der Text ist bereits in "Theater heute" 12/05 erschienen.


Titelbild

Thomas Bernhard: Alte Meister. Gelesen von Thomas Holtzmann.
Der Hörverlag, München 2005.
450 Minuten, 39,95 EUR.
ISBN-10: 3895849502

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