Harlequin Mozart
Neuaufgelegtes, Neues, Originelles und Überflüssiges zum Mozart-Jahr
Von Günter Meinhold
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Ich sage ihnen vor gott, als ein ehrlicher Mann, ihr Sohn ist der größte Componist, den ich von Persohn und Nahmen kenne: er hat geschmack, und über das die größte Compositionswissenschaft." So äußerte sich kein Geringerer als Joseph Haydn über seinen Kollegen Wolfgang Amadé Mozart. Diesem vom Vater Leopold Mozart in etwas krauser Orthographie und Grammatik überlieferten Diktum würden heutzutage nur wenige ihre Zustimmung verweigern. Damals - 1785 - war man sich indes über den singulären Rang Mozarts keineswegs einig. Gewiss: Man hatte das durch Europa reisende Wunderkind angestaunt, und nach dem Bruch mit dem Salzburger Fürsterzbischof Colloredo feierte Mozart in Wien zunächst Erfolge, von dem Enthusiasmus der Prager Musikszene anlässlich der Aufführungen von "Le nozze di Figaro" und "Don Giovanni" gar nicht zu reden. In den letzten Wiener Jahren aber ließ das Interesse an Mozarts Musik nach; so z.B. ermahnte der mit Mozart freundschaftlich verbundene Verleger Hoffmeister den Komponisten, er möge populärer schreiben.
1798, wenige Jahre nach Mozarts Tod - die Situation hatte sich trotz des sensationellen Erfolgs der "Zauberflöte" nicht sehr geändert - erschien Franz Xaver Niemetscheks Mozart-Biografie, die nach Schlichtegrolls Nekrolog von 1794 zweite Lebensbeschreibung. Niemetschek (1766 - 1849), Professor für Philosophie an der Prager Universität, brachte gute Voraussetzungen für eine Hommage à Mozart mit: Er war Pianist (wenngleich kein hauptberuflicher), Musikkritiker der einflussreichen Leipziger "Allgemeinen Musikalischen Zeitung", und er kannte Mozart sowie dessen Familie (Mozarts Kinder lebten zeitweilig bei ihm). Die Witwe Constanze stellte ihm für seine Biografie Briefe zur Verfügung und gab bereitwillig Auskünfte. Niemetschek versichert, er habe nicht alles geglaubt, was "Madame Mozart" ihm gesagt und gezeigt habe. Trotz dieser Vorsicht im Umgang mit einer wichtigen Zeitzeugin sollte man Niemetscheks Büchlein nicht als verlässliche Quelle biografischer Fakten und Daten lesen. Aber es ist ein folgenreiches Werk gewesen: Niemetschek referiert (übrigens nicht als erster) die Legende von der Vergiftung Mozarts, was bis heute zu allerlei Spekulationen und noch mehr Druckseiten Anlass gegeben hat; und er polemisiert gegen die "schlauen Italiener", die aus purem Neid gegen Mozart intrigiert hätten, sei ihnen doch klar gewesen, dass "ein solcher Kopf für ihr welsches Geklingel bald gefährlich werden dürfte." Ein Name wird nicht genannt, aber dass Antonio Salieri gemeint war (der damals noch lebte), liegt auf der Hand. Dem Autor dieses und anderes zur Legendenbildung Taugliche, Anekdotenfreudigkeit, falsche Datierungen und sachliche Irrtümer bzw. Fehler vorzuwerfen, wäre ahistorische Besserwisserei eines Nachgeborenen. Der Wert dieser Schrift und ihrer Lektüre liegt nicht in den Biographica, sondern darin, dass Niemetschek Mozart emphatisch als Klassiker wahrnimmt - zu einer Zeit, als dies nicht die opinio communis war.
Der Herausgeber Jost Perfahl hat dem schön gestalteten Band eine Einführung und ein Nachwort über das Leben Niemetscheks beigegeben, darüber hinaus einen Anhang mit Erläuterungen zum Text, ein Verzeichnis mit den von der Erstauflage abweichenden Stellen der zweiten Auflage von 1808 sowie eine Auswahlbibliografie. Problematisch ist das Nachwort, dem man tendenziösen Charakter attestieren muss. Perfahl zitiert aus einem Brief Niemetscheks an den Verlag Breitkopf & Härtel; in ihm heißt es, dass "ich [= Niemetschek] allerdings mit Mozart umgegangen bin; nur nicht lange, nämlich bei seinem letzten Aufenthalt in Prag." Diese Bemerkung hat Perfahl (oder den Verlag) veranlasst, den sachlich-trockenen Titel der Erstausgabe "Leben des K. K. Kapellmeisters Wolfgang Gottlieb Mozart" in den schlagzeilenträchtigen "Ich kannte Mozart" zu ändern. Es mag noch angehen, den Status des Augenzeugen auf diese Weise hervorzuheben. Aus der zurückhaltenden Bemerkung Niemetscheks jedoch flugs einen "freundschaftlichen Umgang" zu machen oder gar eine "Freundschaft", ist entschieden zu viel des Guten.
Frei von Legendentradierung und auf dem Stand der Forschung präsentiert Fritz Hennenberg Leben und Werk Mozarts in der bewährten Reihe von "rowohlts monographien". Auf 160 Seiten entfaltet der Musikwissenschaftler und Operndramaturg Hennenberg ein Porträt Mozarts, das zur Einführung vorzüglich geeignet ist. Die Darstellung bietet, wie man es von den Monografien dieser Reihe kennt, kompakt die wichtigsten Daten und Fakten, zudem viele klug ausgesuchte Zitate, Bildmaterial, eine Zeittafel, Zeugnisse prominenter Mozartverehrer und eine Auswahlbibliografie.
Hervorzuheben ist das Kapitel mit der Überschrift "... dass ich so zu sagen in der Musique stecke ...", in dem Hennenberg Mozarts Art zu komponieren analysiert, auf dessen produktive Rezeption der Werke Haydns eingeht und sich (hierin Niemetscheks Bemerkungen vergleichbar) mit der zeitgenössischen Kritik an Mozarts Werken befasst. Zeitgenossen und Komponistenkollegen monierten das, was uns heute als meisterlich gilt. Karl Ditters von Dittersdorf etwa bemängelte die verschwenderischen musikalischen Einfälle, die man, weil sie Schlag auf Schlag folgten, in ihrer Schönheit nicht genießen könne. Und der Zürcher Musikpädagoge Hans Georg Nägeli beanstandete in seinen Vorlesungen (1826) die "Styllosigkeit" Mozarts, die darin bestehe, durch "übertriebenes, ausschweifendes Kontrastieren" wirken zu wollen.
Die Bibliografie kann selbstverständlich nur eine Auswahl aus der kaum noch zu überschauenden Mozart-Literatur bieten, und es ist leicht, hier Kritik zu üben. Deshalb nur eine Bitte für zukünftige Auflagen - sie betrifft Hanns-Josef Ortheils wunderbares Buch "Mozart im Innern seiner Sprachen" (zuerst 1982), ein Essay, der dem Leser den ungewöhnlichen Briefschreiber Mozart nahe bringt und zugleich eine Darstellung seiner Emanzipation ist - der vom Vater, von Salzburg, aber auch der in musikalischer Hinsicht.
Ist Niemetscheks Biografie als frühe Huldigung an Mozart auch heute noch empfehlenswert und Hennenbergs Monografie als prägnante Einführung sehr gut geeignet, so gehört Paul Barz' biografischer Roman "Mozart. Prinz und Papageno" zu den schlicht überflüssigen Erzeugnissen, die im Kontext des Mozart-Jahres 2006 erschienen sind. Wenn man es vorher nicht gewusst haben sollte, nach der Lektüre weiß man es ganz genau: Mozart hat sich gewaschen, Zitronensorbet gegessen und Schaumwein getrunken, Billard gespielt und sich mit seiner Frau Constanze und anderen Frauen an jene Wonnen gemacht, die nur Gott verleiht. Kurzum: Er war ein Mensch wie Papageno, was so viel bedeutet wie: Er war ein Mensch wie du und ich - mit seinen Vorzügen und seinen Schwächen, seinem Selbstbewusstsein und seinen Selbstzweifeln. Und er war ein "Prinz" - diese Chiffre steht in Barz' Buch für das Genie im Reich der Töne. Der Trivialität dieser den Roman regierenden Auffassung entspricht die unzulängliche literarische Gestaltung. Barz erzählt in Dialogen und Rückblenden das Leben Mozarts. Die Darstellung der einzelnen Lebensabschnitte wird unterbrochen durch die sukzessive (andersfarbig gedruckte) Schilderung, wie die "Zauberflöte" entstanden ist. Dem Autor gelingt es jedoch nicht, Leben und Werk überzeugend in die Romanform zu transponieren. Nur eines von zahlreichen Beispielen: Während seines Londoner Aufenthaltes unterhält sich Mozart mit Johann Christian Bach. Barz legt ihm diese Abschiedsworte in den Mund: "Nie habe ich eigene Kinder haben wollen. Die Geschwister daheim in Leipzig waren mir genug." Anstatt nun den Bach-Sohn ein Lamento über die Beschwerlichkeiten anstimmen zu lassen, die die allzu vielen Geschwister mit sich brachten, unterbricht Barz die wörtliche Rede mit dem Einschub "auf insgesamt zwanzig Kinder hatte er es der alte Bach gebracht", um danach erst Bach direkt fortfahren zu lassen, "aber einen Sohn wie dich, den hätte ich ganz gern." Auf fast jeder Seite findet man mehrfach dieses auktoriale Intervenieren, mit dem dem Leser parenthetisch Informationen verabreicht werden, die erzählerisch zu integrieren gewesen wären. Warum dann nicht gleich eine traditionelle Biografie schreiben?
Das Buch enthält neben einer Zeittafel auch ein Literaturverzeichnis; Barz hat die einschlägigen Dokumente zu Leben und Werk Mozarts sowie Forschungsliteratur zu Rate gezogen, präsentiert jedoch, unbekümmert um die Ergebnisse der (neueren) wissenschaftlichen Mozart-Literatur das Märchen, wonach das Libretto der "Zauberflöte" während der Kompositionsphase eine durchgreifende Änderung erfahren habe. Dergleichen ist, auch unter Berücksichtigung des (semi)fiktionalen Charakters dieser Biografie, ein Unding.
Die flache figurative Gestaltung ist mindestens ebenso ärgerlich, vor allem, was Frauen betrifft. Constanze Mozart kann zwar nicht kochen, erfreut sich aber an Mozart, dem "Kerl mit kräftiger Rute", die Cousine Maria Anna Thekla (das "Bäsle") ist "drall" und zieht Mozart am liebsten "die Hose von den schmalen Hüften". Endlich die Schwiegermutter, Maria Cäcilie Weber: "eine herrschsüchtig ordinäre Madame", "stets von einer Alkoholfahne umweht".
Derart einseitige Charakterisierungen, wie man sie leider auch in anderen Mozart-Biografien findet, sollten sich angesichts der prekären Quellenlage verbieten. Man vergleiche Barz' Beilfertigkeit mit folgendem Zitat: "Wir wissen zu wenig über Cäcilie Weber, ihre Denkweise und ihr Wesen, als dass uns eine bündige Charakterisierung gelänge. War sie tatsächlich eine grobe Person, dem Alkohol zugetan, herrisch über ihre minderjährigen Töchter wachend und immer darauf bedacht, aus deren Hochzeiten Profit zu schlagen? Oder war sie eine weitsichtige Witwe, die um die Fährnisse des Lebens von Frauen ihres Standes und ihrer Zeit wusste: um finanzielle Abhängigkeiten, rechtliche Unsicherheiten und moralische Schnürleiber?" Die Musikwissenschaftlerin Melanie Unseld spürt in ihrem Buch "Mozarts Frauen" mit kritischer Sympathie den Frauen Mozarts nach und holt sie aus seinem Schatten heraus - die Mutter und die Schwester, Cäcilie und Aloysia Weber, Constanze Mozart, Schülerinnen, Kolleginnen und Wiener Primadonnen.
Unseld beschäftigt sich mit dem Leben der Frauen Mozarts in ihrer Zeit, einer Zeit, die von Fragen bestimmt war, die uns heute abwegig erscheinen: "Darf eine Frau als Künstlerin tätig sein? Darf sie sich als Künstlerin öffentlich präsentieren? Oder überschreitet sie damit die Schicklichkeitsgrenzen?"
Diese Fragen sind der Einleitung entnommen, in der Unseld über Ziel und Methode ihrer Untersuchung Auskunft gibt. Quellen aus jener Zeit fließen reichlich - Briefe, Tagebuchaufzeichnungen, Zeitungsberichte und andere Materialien -, aber die weitaus meisten Quellen stammen nicht von den porträtierten Frauen selbst. So zum Beispiel sind aus dem Jahrzehnt zwischen 1781 und 1791 lediglich ein kurzer Brief und drei Briefnachschriften Constanze Mozarts erhalten. Quellenkritik wird zu einem eben so heiklen wie notwendigen Unternehmen: Darf man z.B. Mozarts brieflicher Charakterisierung Constanzes trauen, in der er dem Vater die zukünftige Schwiegertochter beschreibt? Oder ist jener Brief vom 15. Dezember 1781 mit der Schilderung der hausfraulichen Vorzüge Constanzes auf das Misstrauen des Vaters berechnet, das leicht zu erregen und vor allem dann überwach war, wenn es um Frauen ging? Schließlich gibt es "Leerstellen", und die Versuchung ist nicht gering, sie mit Vermutungen zu füllen. Unseld legt sich in der Einleitung Askese auf: "Geeigneter [scil. als Vermutungen] scheint der Mut zur Lücke, der dort zu schreiben aufhört, wo Mutmaßungen anfangen würden." Ein Beispiel dieses Mutes zur Lücke sind die oben zitierten Fragen im Zusammenhang mit Mozarts Schwiegermutter. Dieser Mut verlässt die Autorin jedoch zu oft. Es stellen sich häufig Formulierungen ein wie "doch ist zu vermuten" oder es "darf durchaus vermutet werden". Wie plausibel Unselds Vermutungen auch sind, die inkonsequente Befolgung des programmatisch formulierten Vorsatzes steht diesem insgesamt gelungenen Buch nicht gut an.
Die von Unseld Charakterisierten kommen auch in Mozart-Biografien vor - manche lediglich in Nebensätzen und Fußnoten. Man mache die Probe aufs Exempel und frage Bekannte nach Marianne Kirchgessner, Maria Theresia Paradis oder Marianne Martines - und empfehle ihnen Unselds Porträtgalerie.
Der Dortmunder Musikwissenschaftler Martin Geck hätte seinem Buch "Mozart. Eine Biographie" viel lieber den Titel "Harlequin komponiert" gegeben. Der dann doch verworfene Titel führt in das Zentrum dieses Werkes, und zwar sowohl was den Aufbau als auch was den Gehalt betrifft. Exakt in der Mitte, flankiert von jeweils zwölf Kapiteln, in denen das Leben Mozarts erzählt und das Œuvre analysiert werden, gibt der Autor unter der Rubrik "Ästhetik" Auskunft darüber, welchen Mozart er dem Leser nahe bringen will: den Harlequin. Das ist keine Reverenz vor dem heutigen Event- und Spaßgetue. Vielmehr orientiert sich Geck an einem hoch seriösen philosophischen Gewährsmann, an Leibniz nämlich, der Harlequin als jemanden auffasst, der die Kunst verstehe, Schwieriges leicht zu machen und dessen Wesen darin bestehe, letztlich nicht fassbar zu sein: Als man Harlequin auf der Bühne habe entkleiden wollen, habe man kein Ende finden können, da unter jedem Gewand ein neues zum Vorschein gekommen sei. Dem so verstandenen harlequinesken oder karnevalesken Charakter der Musik Mozarts gesellt Geck die kritisch-reflexive Dimension in Mozarts Komponieren zu: "Harlequins komponieren zwar nicht, können aber einem reflektierenden Komponisten die Feder führen. Und umgekehrt: Reflektierende Komponisten sind keine Harlequins, können sich aber so aufführen." Man sieht: Die Metapher Harlequin hat es in sich. Aus dem Merkmal Harlequins, sich jeder Eindeutigkeit zu entziehen, folge das vergebliche Bemühen, "Mozarts Musik auf den Grund zu kommen", ein "Annäherungsversuch" sei allenfalls denkbar.
Diese "Annäherungen" (wie Gecks Kollege Georg Knepler sein glanzvolles Mozart-Buch genannt hat) beginnen mit der Lebensbeschreibung, wobei der Autor, unter Einschaltung von Vorgriffen und Rückblenden, den Akzent auf die "Schaffensbiographie" legt. Da fallen dann lieb gewordene Anekdoten weg. So z.B. die von einem Freund der Familie, dem Hoftrompeter Schachtner, berichtete, wie Leopold Mozart angesichts einer Komposition des etwa fünfjährigen Knaben in Tränen der Bewunderung ausgebrochen sei. Geck misstraut der gängigen Wunderkind-Auffassung, sofern das komponierende Kind Mozart gemeint ist. Auch ein Mozart habe (wie Schubert oder Mendelssohn Bartholdy) siebzehn Jahre alt werden müssen, um große Werke schreiben zu können.
Dem biografischen Teil kann selbst der musikalische Nicht-Fachmann ohne Schwierigkeiten folgen. Hier wird Geck seiner Maxime gerecht, auch für Fachleute zu schreiben, aber nicht in erster Linie für sie. Die Verstehbarkeit hängt nicht nur damit zusammen, dass eine Biografie den meisten Lesern weniger Probleme bereitet als eine technisch-musikalische Analyse, sondern ist auf den unprätentiösen, feuilletonistischen Stil zurückzuführen. Man gewinnt den Eindruck, dass Geck zwar kein Harlequin ist, aber als Autor und Wissenschaftler Harlequineskem nicht fern steht. Ihm gelingt es zwar nicht durchweg, aber häufig genug, das Schwierige leicht oder mindestens leichter zu machen. Wann jemals las man in einem Buch eines deutschen Professors für Musikwissenschaft über das Sonatensatzschema, es sei die "einschläferndste Droge, welche die musikwissenschaftliche Analyse je für sich und andere entdeckt hat"? Manchmal jedoch übertreibt Geck das angenehm zu lesende Parlando; dann akkomodiert er sich kurrentem Gerede, spricht von Tamino als einem "Weichei" und scheut nicht vor der à la mode-Floskel "auf gleicher Augenhöhe" zurück.
Es ist nicht möglich, im Rahmen einer Rezension der Fülle der Aspekte gerecht zu werden, die Geck dem Leser in den Werkanalysen präsentiert. Deshalb zunächst nur einige Stichworte. Ob Geck den Idomeneo als Mozarts schönstes Geschenk an die überlebte Opera seria bezeichnet, der Entführung aus dem Serail das Epitheton "Singspiel aller Singspiele" verleiht, die Finali in Così fan tutte (vor allem das zweite Finale) nicht auf dem Niveau des Figaro oder Don Giovanni sieht, im Klavierkonzert A-Dur (KV 488) das unergründliche Lächeln der Mona Lisa wahrnimmt, das Harlequineske in den Joseph Haydn gewidmeten Streichquartetten herausarbeitet oder die Kleine Nachtmusik zu den rätselhafteren Werken Mozarts rechnet - stets sind die Betrachtungen originell, mindestens aber anregend, auch zum Widerspruch.
Der Abschnitt über die Haydn dedizierten Streichquartette trägt die Überschrift "Ein Kapitel für Kenner" - diese Überschrift hätte über allen den Werken gewidmeten Kapiteln stehen können. Zwar stellt Geck fest, dass das "Reden über Musik ohne Kenntnis ihrer Technik schnell phrasenhaft wird"; aber ebenso ist er davon überzeugt, "dass man zehn Seiten zur Erläuterung von zehn Tönen bräuchte und dennoch nichts wirklich 'erklärt' hätte." Nein, das Problem der Werkanalysen liegt nicht darin, dass sich plötzlich der Musikwissenschaftler vordrängt und einschläfernd musikologisch doziert (was nicht der Fall ist), sondern darin, dass Geck zu viele Aspekte nur kurz umreißt und eher dem Kenner als dem "normalen" Leser, der doch sein eigentlicher Adressat ist, gerecht wird. Im Kapitel zur "Zauberflöte" etwa sieht Geck den Schlüssel dieser Oper darin, dass sie ein "Spektakel mit vielen Maschineneffekten" ist. Darüber ließe sich reden. Kaum aber hat Geck diesen Gedanken geäußert, wechselt er zur Charakterisierung der Sarastrosphäre, erörtert prägnant die Bruchtheorie, zitiert Kierkegaard, geht knapp auf einzelne Arien und die Ouvertüre sowie auf Freimaurertum und Esoterik ein. Es schließen sich kritische Bemerkungen zum abstrusen Zahlenhokuspokus an (Noten und Takte der Zauberflöten-Partitur werden gezählt, um aus ihnen nach einem Zahlenalphabet irgendwelche Geheimbotschaften heraus- bzw. hineinlesen zu können) und bezeichnet am Ende die Zauberflöte zunächst als eine "Archäologie des Wissens", dann als eine "Archäologie der Liebe" und endlich als ein "spätes Geschenk der einstmals ungeschiedenen Volkskultur." Das Harlequineske, das in den theoretischen Überlegungen die entscheidende Metapher war und für das die Zauberflöte ein Paradigma bietet, wird, erstaunlich genug, nur am Rande erwähnt. Mit dem Blick auf die Zauberflöte fragt Geck: "Fügt sich das zu einem Ganzen?" Eine Frage, die man auch an den Autor richten möchte: Die Fülle der Aspekte fügt sich nicht (immer) zu einem kohärenten Ganzen.
Trotzdem: Mit Martin Gecks Biografie liegt ein originelles Werk vor. Der Rezensent gibt gern zu, dass er, angeregt durch die Lektüre diese des Öfteren unterbrochen hat: um Mozart zu hören. Der ZEIT-Herausgeber Michael Naumann befürchtet für das Mozartjahr 2006 das Schlimmste (DIE ZEIT Nr. 1, 29. Dezember 2005) - musikalischen "öffentlich- rechtlichen Terrorismus", "Dauerberieselung", die die bekannten Ohrwürmer in "Ohrkakerlaken" verwandeln werde, und so ist sein Wunsch verständlich, "lieber taub als betäubt zu werden." Als Gegengift bietet sich Martin Gecks Buch an, das am Ende mit einer Diskografie aufwartet, die Überraschungen bereithält; Geck empfiehlt, um nur zwei Werke zu nennen, das Klarinettenquintett KV 581 mit Benny Goodman und die Zauberflöte in der Einspielung unter Otto Klemperer. Letzteres ruft den entschiedenen Widerspruch des Rezensenten hervor, sind doch in dieser Operneinspielung die Sprechpartien gestrichen worden.
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