Grenzerprobungen
Slavoj Zizek, radikales Denken und der Konsens
Von Kai Köhler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEin ungewöhnliches Buch: Nach 200 Seiten weiß man nicht, welches sein Thema ist - und dann ist es auch schon aus. Man hat viel gelesen über Autorität und das moralische Gesetz, über Lacan und Butler, über Levinas' Ethik des Anderen und deren Unzulänglichkeiten, über die Scham und das Gesicht, über David Lynch, Charlie Chaplin und Robert Schumann (als "Theoretiker der Ideologie"). Die Reihenfolge der Kapitel ist ebenso austauschbar wie sich die Zwischenüberschriften, die etwas wie eine Gliederung suggerieren, verschieben oder durch ganz andere ersetzen ließen.
Durchgehend herrscht eine Rhetorik der Suggestion, die den Leser einzuschüchtern geeignet ist: "Es ist offenkundig, daß die theoretischen Felder von Laclau/Mouffe einerseits und Negri/Hardt andererseits einander wie Kant und Spinoza gegenüberstehen." Mag ja sein, nur werden die immerhin vier "theoretischen Felder" nirgends erklärt, sondern nur in einem Halbsatz skizziert: "einerseits die irreduzible Absenz, Lücke, das Mißlingen des Versuchs, Identität mit sich selber zu erlangen, andererseits die Positivität der reinen Immanenz". Das hat man irgendwie zu glauben, und so geht es immer weiter, in irrwitzigem Tempo durch unterschiedlichste Theorien - "natürlich" und "zweifellos" sind dabei Lieblingswörter Slavoj Žižeks, im Zusammenhang von Behauptungen, die wenigstens einer Begründung bedürften.
Manchmal rücken auch Kunstwerke in den Blick; so setzt Žižek irgendwann zu einer Interpretation von Kafkas "Die Sorge des Hausvaters" an, wohl bedingt dadurch, dass das Wesen Odradek, um das es dort geht, irgendwie mit Entmenschlichung in Beziehung zu setzen ist. Žižek schweift ab, zu Terry Gilliams Film "Brazil" (Bürokratie!), ruft sich zur Ordnung: "Zurück zu Odradek" - und entziffert mit einer Interpretation Jean-Claude Milners den Namen als Anagramm des griechischen "dodekaedron", eines zwölfflächigen Körpers, der ihn an Lacans Überlegungen zur "Libido als Organ" erinnert. Eingeleitet wurden die Bemerkungen zu Kafka übrigens mit dem Satz: "All dies (die "Standardinterpretationen") gilt es zu streichen und stattdessen eine Art kindlicher Naivität wiederzuerlangen, um als Leser imstande zu sein, die rohe Kraft von Kafkas Universum zu verspüren."
Es gibt wirklich keinen Anhaltspunkt dafür, dass Žižek das einmal auf dem Flug von einer Konferenz zur nächsten ins Notebook Getippte vor der Publikation noch einmal überflogen hätte. Hier könnte eine Rezension schließen. Aber - noch ungewöhnlicher: Trotz allem bleibt die Lektüre wenigstens der zweiten Buchhälfte nicht gänzlich ohne Ertrag. Die ersten 100 Seiten gelten vermutlich dem Versuch, über Begründungen von Ethik zu philosophieren, was ohne ein Mindestmaß an Stringenz sinnlos bleiben muss. Danach aber geht es um politische Interventionen, und da können Gedanken erhellend wirken, die nur destruktiv sind - soweit sie Illusionen zerstören, die den Blick auf die Realität oder das Handeln in ihr behindern.
Hauptgegner in beiden Teilen ist liberales Denken, sei es von rechts oder von links. Im ersten Teil geht es wohl, wie auch immer verwirrend, um die Setzung von Werten, gegen die Vorstellung, sie ergäben sich aus einem konkreten Gegenüber (Levinas) oder aus intersubjektiv verpflichtender Kommunikation (Habermas); darum Žižeks Interesse an Religion, insbesondere an Religion in Form von Monotheismus. Im zweiten Teil geht es gegen linke Vorstellungen, die liberale Demokratie für eigene Zwecke zu nutzen oder zu radikalisieren, auch gegen Politiken mit (religiöser, ethnischer, kultureller, sexueller) Differenz, die sich tatsächlich von der Steigerung des eigenen Marktwerts im herrschenden Kapitalismus kaum unterscheiden lassen.
Hier ist Žižeks böser Blick produktiv. Man möchte ganze Absätze zitieren. Scharfsichtig zeigt er zum Beispiel, wie die Identitätspolitik von ethnischen oder sexuellen Gruppen strukturell doch nur den heterosexuellen weißen Mann als Norm bekräftigen - denn gerade indem es ihm (aus links-emanzipatorischer Sicht, wenn auch nicht in der herrschenden Realität) verwehrt wird, sich positiv auf die eigene Identität zu beziehen, bleibt er doch das Zentrum, an dem sich alle anderen abarbeiten. En passant gibt Žižek der Forschung zur faschistischen Ideologie, die sich auf das Vorbild des heroischen Opfers konzentriert, einen wichtigen Hinweis: dass die Behauptung, sich zu opfern, nicht nur den Rezipienten faschistischer Kunst einen angenehmen Kitzel verschaffte, sondern den realen Genuss der Macht verdeckte. (Was aber war mit den meist jungen Faschisten, die sich 1945 real opferten? Von der Ideologie verführt waren sie sicher, doch erlaubt Žižeks Gedanke, die Verführung als Widerspruchsverhältnis statt als Schema von Reiz und Reaktion zu interpretieren.)
Brillant ist die Demontage der "Empire"-Theorie von Negri und Hardt, und nicht minder zugespitzt ist die Entlarvung des "liberalen Schwindels", des Geredes von Liberalen, die sich über offenkundigen Rassismus aufregen, doch ihn selbst, in Form legaler und vorgeblich rationaler staatlicher Politik, betreiben. Die Linke erscheint in Žižeks Sicht als Partei opportunistischen Nachgebens - interessanterweise parallelisiert zur Kirche im Prozess der Säkularisierung: Um irgendwie weiter mitmachen zu dürfen, wurde wirklich jede Position aufgegeben. Traurige Gestalten wie Blair oder Schröder stehen exemplarisch für den Endpunkt dieser Entwicklung.
Nicht weniger deutlich werden Globalisierungsgegner mit ihrer Strategie der Differenz kritisiert: Insofern Traditionalisten und Teile der modernen Elite, Anhänger nationaler Eigenheit und solche eines internationalen Bürgerrechts, Verteidiger geschützter privilegierter Wirtschaftsräume wie Anwälte der "Dritten Welt" zusammenarbeiten, gibt es keine politische Entscheidung. Man kann das praktisch begründen: Man brauche eben alle Kräfte zum Kampf. Doch indem dieser Kampf ein Kampf gegen etwas bleibt und nicht zu einem für etwas anderes wird, bleibt er strukturell auf die herrschende Ordnung bezogen.
Wie könnte es anders sein? Žižek wagt es, hässliche Wörter zu gebrauchen. Er spricht von Klassen, und zwar nicht nur in dem noch halbwegs im Feuilleton akzeptierten Sinne, dass Klasse irgendetwas Schlimmes neben Rasse und Geschlecht sei. Überzeugend begründet er zum einen, wie - zumindest in der Tradition von Marx - allein Klasse auf kein essentialisierbares harmonisches Wesen rückführbar ist, sich dem Stalinismus entgegen, einem Totalitarismus also sperrt. Zum anderen zeigt er, dass der Klassengegensatz die Auseinandersetzungen um Rasse und Geschlecht grundiert: Der offene Rassismus ist die Haltung der ärmsten weißen Arbeiter, die durch die Konkurrenz von Einwanderern am meisten zu verlieren haben; der Feminismus ist die Haltung von Frauen der oberen Mittelschicht, die ihren Anteil am Gewinn einfordern.
Der Bezug auf Klasse spitzt zu. Warum? Gerade weil er sich jedem Essentialismus sperrt. Zwar zielt der Klassenkampf auf ein Utopisches: auf die ganz andere Gesellschaft. Doch kann man von einer Klasse zur anderen übergehen, kann ein Offizier wie ein Intellektueller oder ein Fabrikbesitzer die Fronten wechseln, was nichts daran ändert, dass es eine Front gibt: im Unterschied zu den anderen Kategorien. Antirassisten oder Feministinnen mögen zum Ziel ausrufen, dass jeder auf seine Weise glücklich werden möge - welcher Hautfarbe, kulturellen Prägung, religiösen Überzeugung, Ausstattung mit Geschlechtsorganen oder sexuellen Vorlieben auch immer. Damit wäre das liberal-demokratische Ideal, dass jedeR seines/ihres Glückes SchmiedIn sei, erreicht. Der Klassenkampf hat dagegen nicht als Zielvorstellung, dass der Bourgeois seine Bourgeoisität möglichst ungestört ausleben möge. Damit erweist er sich als die einzig radikale Waffe der Opposition.
Ein kluges Buch also, klassentheoretisch und darin, dass Demokratie nicht dafür kritisiert wird, dass sie ja noch gar nicht vollständig verwirklicht sei, sondern grundlegender so, dass Wertsetzung jeder Verhandlung vorauszugehen habe - und gleichzeitig ein wirres Buch, das keinerlei gedankliche Ordnung kennt. Über diesen Widerspruch kann man den Kopf schütteln, man kann ihn aber auch analysieren. Žižek schreibt Gedanken hin, die zu verraten seit anderthalb Jahrzehnten jedem Intellektuellen im Normalfall zwar nicht den Kopf kosten würden, aber doch die Möglichkeit, in wichtigen europäischen Zeitungen oder einem Verlag wie Suhrkamp zu publizieren. Darum überrascht sein Erfolg, und es stellt sich die Frage nach dem Grund.
Auf sie sind drei Antworten möglich. Die erste ist formal: Wo soviel angedacht wird, doch nichts bis an sein Ende, zählen einzelne Effekte doch höchstens als Versuch, den eigenen Marktwert zu behaupten. Die Wirrnis ist die Narrenfreiheit, eine wertlose Freiheit also. Die zweite Möglichkeit ist die autoritäre; schließlich ist seit ein paar Jahren von Religion genug die Rede. Es handelt sich um die Gemeinsamkeit derjenigen, die überhaupt eine Überzeugung haben, gegen diejenigen, die Wahrheit als Verhandlungssache sehen: Žižek steht, wenn nicht für etwas, so wenigstens gegen postmoderne Beliebigkeit. Damit steht er weniger allein, als er suggeriert, und das gibt Anlass zur Sorge. Wenn überhaupt, setzt sich gegen Wertlosigkeit gegenwärtig eher eine konservative Bindung durch. Die dritte Antwort aber ist die einer allgemeinen Ermüdung: Wo man der längst widerlegten Utopie eines liberalistischen Kapitalismus überdrüssig ist, schielen Intellektuelle, gerade weil sie marktorientiert sind, auf das Andere. Und das, tatsächlich, könnte sie davor retten, Lobredner des Immergleichen und Immerschlechten zu bleiben.
Žižek, ob gewollt oder nicht, gibt ihnen zu diesem Zweck Gedanken in bekömmlichen Dosierungen. Einstweilen ist damit noch kein Aufruf zur unbequemen Aktion verknüpft: Es bleibt unentschieden, ob Utopie mit Lenin als "Drang des Augenblicks" auf Verwirklichung im Heute zielt oder auf Rückzug und Verweigerung jedes pragmatischen Handelns, wie sie Žižek andernorts fordert. Auf den letzten Seiten seines Buchs entdeckt Žižek die Slumbewohner der "Dritten Welt" als revolutionäres Subjekt; auch das mag sein, müsste er statistisch und soziologisch untermauern, nimmt aber den Leser, den Intellektuellen der Ersten Welt, nicht in die Pflicht.
Fürs mögliche Verpuffen ins Leere kann Žižek nichts, aber dafür, es nicht zu reflektieren. Sein Erfolg als rasender Philosoph ist der Erfolg, bestimmte Gedanken nicht nur aussprechbar zu halten, sondern sie erst aussprechbar zu machen. Ob die Gedanken eben dadurch neutralisiert werden, insofern sie jeder Konsequenz enthoben sind, dürfte die weitere Rezeption seiner Bücher zeigen.
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