"And the heart goes on and on" - Den Tränen auf der Spur

Nicht nur in Hermann Kappelhoffs Melodramenstudie kommen Filmwissenschaft und Psychoanalyse langsam wieder ins Gespräch

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

'So muß denn doch die Hexe dran'. Die Hexe Metapsychologie nämlich. Ohne metapsychologisches Spekulieren und Theoretisieren - beinahe hätte ich gesagt: Phantasieren - kommt man hier keinen Schritt weiter.
Sigmund Freud

Die letzte Einstellung in dem mit drei Oscars ausgezeichneten US-Melodram "Brokeback Mountain" (Regie: Ang Lee, USA 2005) zeigt einen Blick aus dem Fenster. Wir befinden uns im Wohnwagen Ennis Del Mars (Heath Ledger), des allein gebliebenen Geliebten seines ermordeten Freunds Jack Twist (Jake Gyllenhaal). Alles, was man sieht, ist das fast schon wie eine verfremdete Landschaftsmalerei gerahmte Kamerabild gelber Felder, die am Fuße ferner Berge liegen. Links im Bildvordergrund durchschneidet eine Schranktür mit einer aufgeklebten Postkarte vom "Brokeback Mountain" die ikonografische Komposition - ein Teil jenes Spinds, in dem der vereinsamte Liebhaber die erinnerungsträchtigen Klamotten seines verstorbenen Begleiters wie eine Reliquie der Sehnsucht aufbewahrt. "Das schwör' ich Dir, Jack", hört man Del Mar noch sagen, bevor der Film auch schon zu Ende ist. Der Rest ist Schweigen: Wirkliche Worte für das verzweifelt beteuerte Sehnen des Heroen gibt es nämlich gar nicht mehr - sie bleiben aufgehoben in jenem epiphaniehaften Gemälde, das Lee uns als melodramatisches Schlussikon präsentiert.

Das große Sehnen

Wie Del Mar "am Ende mit zwei blutigen Hemden und einer Postkarte [...] auf die Berge blickt - das ist von so unendlicher Sehnsucht und so fern jeder Attitüde, daß es alle Preise verdient, die Ledger für diese Rolle gewonnen hat", schmachtet Verena Lueken in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". "Wenn die Erzählung von 'Brokeback Mountain' bereits vorbei ist und die Leinwand sich zum Abspann verdunkelt, schickt sie Ang Lee noch einmal in Form eines Songs hinterher", ergänzt ein kaum weniger ergriffener Daniel Kothenschulte in der "Frankfurter Rundschau". "Willie Nelson interpretiert Bob Dylans Ballade 'He was a Friend of Mine'. Diesen Song zu wählen, in dem eine Männerfreundschaft betrauert wird wie eine Liebesbeziehung, trifft den Ton noch einmal ganz genau - und das in der dezentesten möglichen Form." Stets inszeniere Lee seinen Film über den Weg der Empfindung, betont Kothenschulte: "'Brokeback Mountain' gibt jedem ein Gefühl dafür, wie sich eine solche Liebe anfühlt und weckt schließlich eine so tiefe Wehmut nach etwas Ähnlichem, dass mancher sein eigenes Leben dabei in Frage stellt."

Kothenschulte und Lueken beschreiben in diesen aktuellen Filmkritiken nichts weiter als jene traditionelle melodramatische Konvention, die Hermann Kappelhoff in seiner Studie "Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit" in einer weiten Ausholbewegung als Genealogie bürgerlicher Bewusstseinsbildung untersucht, welche er bereits im 18. Jahrhundert mit Jean-Jaques Rousseaus Scène lyrique "Pygmalion" (1762) entstehen sieht. Auf manchmal nur in höchster Konzentration verfolgbarem theoretischen Niveau greift Kappelhoff in seiner Studie zunächst weit zurück auf kanonische Texte wie Gotthold Ephraim Lessings "Laokoon" (1766), um den empfindungsvollen Gestus des entstehenden Melodramengenres als "transitorische Malerei", als rein "zeitliche Struktur gestischer Darstellung" zu fassen.

Auf der Suche nach einer Ur-Sprache

Im Zentrum der Betrachtung steht hier die Erfindung des dunklen Zuschauerraums und der illuminierten Bühne als theatraler "Spiegelautomat", als Illusionsmaschine und Seelenapparatur eines empfindsamen Publikums. Bereits Rousseau entwickelte in seinem "Essai sur l'origine des langues" (1753-1761) die Idee einer für sich stehenden "unmittelbaren Sprache", in der "Freude und Begehren, miteinander vermischt [und] zugleich empfunden" werden könnten.

Kappelhoff zufolge entsteht diese melodramatische Ur-Sprache, verkürzt gesagt, im Moment einer theatralen bzw. filmischen Handlungsdiskontinuität: Im affektiven "Empfindungsbild", in dem entweder eine bestimmte Dekor- oder Bühnenbeleuchtung, ein expressives Landschafts- oder Naturikon, das sehnsuchtsvolle, leidende Gesicht des Schauspielers, bis in die 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein aber vor allem die filmische Nahaufnahme der verzweifelt schönen Heroine zu einer Art 'Seelenspiegel' des mitleidenden und mitfühlenden Zuschauers mutiert.

Genauer: Es geht Kappelhoff überhaupt nicht um die Betrachteridentifikation mit einer als 'real' empfundenen Star-Imago und auch nicht um den "mode of excess" narrativer Strukturen des Genres, wie ihn Thomas Elsaesser und Peter Brooks als Paradigma melodramatischer Inszenierungen mustergültig beschrieben haben - sondern vielmehr um ein im Zuschauer entstehendes "inneres Objekt" der Empfindung, das einen konkreten emotionalen Umwandlungsprozess verursache: Das Theater und schließlich das Kino werden demnach zu einem öffentlichen 'dunklen Raum' "intimer Selbstbezüglichkeit", "der eine deutliche Verbindung zu den Orten ritueller Versammlung und Vergemeinschaftung bewahrt", wie Kappelhoff es formuliert.

Der 'Dark Room' des (Film-)Theaters als 'via regia' ins Interieur der Seele

Vom sentimentalen Roman über die Bühne der Empfindsamkeit bis hin zum Hollywood-Melodram des 20. Jahrhunderts spannt sich nach Kappelhoffs Erkenntnissen eine "Praxis sentimentalen Genießens", die in der "leibhaften Vergegenwärtigung eines fiktiven emotionalen Zustands durch das Publikum" gipfele: dem Weinen. Der dunkle Zuschauerraum und die Bühne bzw. die Leinwand selbst würden in solchen Momenten im Zusammenspiel mit der melodramatischen Musik zu einem "Interieur der Seele", das den Zuschauer "in ein Verhältnis zur eigenen Emotionalität und [...] zur Grenze seines sprachlichen Bewußtseins" versetze, erläutert Kappelhoff.

Damit meint er jenen "prägnante[n] Moment" gefühlsmäßiger Verwandlung im Publikum, den schon Rousseau angesichts der höfischen Uraufführung seines "Pygmalion" wie folgt beschrieb: "Die Freude, so viele liebenswürdige Personen zu rühren, rührte mich selbst bis zu Tränen, und beim ersten Duett konnte ich sie nicht zurückhalten, als ich wahrnahm, daß ich nicht der einzige war, der weinte".

In seiner Studie entwickelt Kappelhoff also einen Begriff vom affektiven Eigenwert des melodramatischen Bildraums, der eben nicht über irgendwelche Handlungsmomente oder genrespezifische Erzählstrategien beschreibbar sei, sondern den er als ein aus solchen Kontinuitäten vollkommen herausfallendes 'Zeitbild' zu verstehen versucht: Vor dem Hintergrund einschlägiger Theorien vor allem Helmuth Plessners und Gilles Deleuze' entwickelt der Berliner Filmprofessor die Idee eines Empfindens aus der subjektiven Versenkung in eine theatrale bzw. filmische Raumkomposition, in der Farben, Dekor und Musik zu einem "tableau vivant" im Sinne Denis Diderots zu mutieren vermögen, das dem Zuschauer als regelrechter 'Spiegel seiner Seele' zu dienen vermöge.

Kino der Gefühle

Kappelhoff gelingt es zudem, seine Thesen mittels konziser szenischer Filmanalysen verschiedenster Sequenzen aus dem frühen bis aktuellen Hollywood-Kino en détail zu untermauern. In der Untersuchung kanonischer Streifen wie Rouben Mamoullians "Applause" (USA 1929), den auratischen Auftritten der klassischen Diven des Woman's Film der 30er und 40er Jahre - Greta Garbo, Marlene Dietrich und Bette Davis - über die bereits viel untersuchten 50er-Jahre-Melodramen Douglas Sirks bis hin zur Analyse von James Camerons Megaerfolg "Titanic" (USA 1997) demonstriert der Autor, wie sich die paradigmatische 'Fantasiearbeit' eines (unerfüllten) Begehrens über die Jahrhunderte stetig perpetuiert und gewandelt hat - als Wiederholung tief verwurzelter bürgerlicher Imagos der Empfindung im Konfliktgefälle zwischen (enttäuschter) Liebe und der (meist bedrohlich und gewaltsam inszenierten) Kraft der Sexualität: "Mal um Mal dekliniert das Melodrama den Konflikt zwischen der Illusion der Liebe als 'idealer Komplementarität der Geschlechter', der Illusion eines sich im geliebten Objekt zur vollkommenen Einheit ergänzenden Ich, und dem Scheitern dieser Illusion an der Antinomie der Geschlechter", bilanziert Kappelhoff.

Vom Horror der Liebe

"So müßte man sich denn vielleicht mit dem Gedanken befreunden, daß eine Ausgleichung der Ansprüche des Sexualtriebs mit den Anforderungen der Kultur überhaupt nicht möglich ist, daß Verzicht und Leiden [...] nicht abgewendet werden können", schreibt Sigmund Freud in seiner Abhandlung "Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens" (1912). Auch Kappelhoff, der Freuds Schriften in seiner Arbeit immer wieder heranzieht, arbeitet sich an der Beschreibung jener melodramatischen Sublimations- und Regressionsstrategien ab, die die von Freud diagnostizierte gesellschaftliche Kontiuität im Spannungsfeld der Genres des Schauerromans und des Horrorfilms, des Melodrams und, last but not least, der Pornografie seit dem 18. und 19. Jahrhundert ungebrochen bestimmen.

Nach einer Relektüre von Leslie A. Fiedlers Studie "Liebe, Sexualität und Tod. Amerika und die Frau" (1964) im Dienste der analytischen Verschränkung von D. W. Griffiths Kinomelodram "Broken Blossoms" (USA 1919) und Stanley Kubricks "Shining" (USA 1980) spitzt Kappelhoff zu: "Sentimentale Rührung und der Thrill des Horrors gehören mit der erotischen Sensation zur triadischen Grundform einer am Genuß des Selbstempfindens orientierten bürgerlichen Unterhaltungskultur. In diesem Sinne ist der sentimentale Roman der Zwilling des Schauerromans oder, wie man gesagt hat, Rousseaus Julie die Zwillingsschwester von de Sades Juliette."

Zurück zu Freud

So kommt der Autor im letzten Drittel seiner Studie auch nicht mehr daran vorbei, angesichts der auffälligen Wiederholungstrukturen, die er in den Plots sentimentaler Erzählungen und Rührstücke über die Jahrhunderte so genau herausgearbeitet hat, zu bemerken, sie stimmten "noch im Detail" mit den von Freud beschriebenen "Familienromanen des Neurotikers" überein. Daran knüpft er die wohl rhetorische Frage: "Ist daraus zu schließen, daß die Psychoanalyse letztlich als eine anthropologische Struktur aufgedeckt hat, was sich in den Aktivitäten sentimentaler Phantasie schon immer manifestierte?"

Kappelhoffs Antwort fällt vor dem Hintergrund einer ausführlichen Rekapitulation der Geschichte psychoanalytischer Filmtheorien einigermaßen differenziert aus. Seine eigene, hier angeschlossene "Psychoanalyse sentimentaler Phantasiearbeit" kommt auf das Verhältnis von Kino und Psychoanalyse zurück "wie auf ein ins Stocken geratenes Gespräch". In einer manchmal vielleicht fast schon zu dicht formulierten Abhandlung ensteht hier das Bild des Kinos als Raum einer 'wachen', erwachsenen Regression in eine quasi 'frühkindliche' Geborgenheit: "Tatsächlich ist die Poetik melodramatischer Filme - etwa die Darstellung masochistischer, narzißtischer oder hysterischer Phantasien - als Inszenierung eines 'inneren Prozesses' zu entfalten, den der Zuschauer durchläuft, indem er die poetische Logik in der Bewegung seiner eigenen Phantasiearbeit verwirklicht", fasst Kappelhoff seine Beschreibung dieses eigentümlichen urmenschlichen Genusses, der die notorische Trennung zwischen "U- und E-Kultur" fragwürdiger denn je erscheinen lässt, zusammen.

Spiegelkabinett schöner Gesichter

In kenntnisreichen Bezugnahmen auf psychoanalytisch inspirierte Theoreme Julia Kristevas, Jaques Lacans und Donald W. Winnicotts richtet der Autor auch hier, gegen Ende seiner umfassenden Studie, den Blick noch einmal auf den zentralen kindlichen Liebeseindruck, den bereits die alten Ägypter als Objekt sentimentaler Phantasie modellierten und den Freud in seiner berühmten Studie über eine "Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci" (1910) anhand der "Mona Lisa" analysierte: Das Lächeln bzw. die ausdrucksstarken Gefühlsregungen des mütterlichen Gesichts. In den flächigen Großaufnahmen des klassischen Hollywood-Melodrams ersteht es zu neuer, zuvor ungekannt intensiver und detaillierter Präsenz: "Am Ende ist das Leiden der Heroine eine lyrische Figuration und ein süßer Schmerz: die Inszenierung eines hysterisch-paranoiden Bewußtseins, eines verliebten Ich im dunklen Raum".

In seinem letzten Kapitel, einer auch für sich rezipierbaren, konzentrierten Analyse von James Camerons apokalyptischem Katastrophen-Melodram "Titanic", läuft Kappelhoff noch einmal zu Hochform auf und veranschaulicht seine Ergebnisse eindrucksvoll an einem der größten Kinoefolge der letzten Jahre. Hier beschreibt er die komplex verwobenen und gespiegelten Zeitebenen des Films als intensive melodramatische Verräumlichung, die er u. a. mit dem Gefühlsexzess von Richard Wagners "Tannhäuser" vergleicht. Kappelhoff zitiert dazu Heiner Müller, der in einem Interview zu seiner eigenen "Tristan"-Inszenierung einmal lapidar bemerkte: "Die Leitmotivtechnik ist natürlich eine Drogentechnik. Der Haupteffekt aller Drogen ist ja die Veränderung des Zeitgefühls, die Droge Wagner ist die Behauptung einer anderen Zeit als der Alltagszeit". Dazu passt auch das von Kappelhoff zitierte Diktum Theodor W. Adornos aus dem "Versuch über Wagner" wie die Faust auf's Auge, wonach sich Wagners Musik gebärde, "als ob ihr keine Stunde schlüge, während sie bloß die Stunden ihrer Dauer verleugnet, indem sie sie zurückführt in den Anfang".

Kappelhoff nimmt diesen Ansatz aber nicht zum berechtigten Anlass ideologiekritischer Auslassungen, kapriziert sich sein spezielles Interesse doch auf die immergleiche Wiederholungsbewegung des Ich, das innerhalb der Illusion des Kinos ganz wie in der bei Freud in "Trauer und Melancholie" (1917) beschriebenen Weise "kein anderes Ziel als das unendliche 'noch einmal', 'noch ein letztes Mal'" kenne, "mit der es die Minuten glücklicher Liebesvereinigung wiederholen und gegen die Ewigkeit eintauschen möchte". Auf dieses Urmotiv beziehe sich ja nicht von ungefähr auch der Titelsong von "Titanic": "Man kann es dann zu Hause im Radio hören, immer wieder, noch einmal und noch einmal: 'And the heart goes on and on'."

Apokalyptisches Begehren

- ((: GOtt, Wer Schiffbrüche mac? ... -)). / Unendlich=noch (Undendlich=noch)
Arno Schmidt, Die Schule der Atheisten

Auch hier wieder liest Kappelhoff den Film also gegen den Strich der bisherigen kritischen Rezeption, indem er den analytischen Schwerpunkt nicht auf Camerons historisch unglaublich detailgetreue Inszenierung der Katastrophe des weltberühmten Schiffsuntergangs legt, sondern auf die zeitliche Evokation eines "gänzlich mit Bewußtsein durchzogene[n] Raums, erträumt, erinnert". Ein gleichsam 'absolutes Innen' kennzeichne diesen "Modus der Darstellung als das genaue Gegenteil realistischer Erzählweise", weist der Autor bisher dominierende Lesarten des cineastischen Blockbusters zurück. Kappelhoff erkennt in dem Vierstunden-Opus die "Vorstellung einer sinngesättigten Welt ohne Kontingenz, in der jedes Ding ein Gefühl, jede Aktion einen Gedanken, jeder Farbwechsel einen Geistesblitz artikuliert, das aber ist die kürzeste Formel, auf die sich die Lektüre des Films 'Titanic' bringen lässt": "Man kann diesem Darstellungsprinzip in allen Formen sentimentaler Populärkultur begegnen", setzt er hinzu. Auch hier - bei einer solchen exzeptionellen Massenwirksamkeit, wie sie 'Titanic' erzielte - sei schließlich jenseits technischer Special-Effect-Mätzchen und archaisch-mythologischer Motivkomplexe davon auszugehen, dass im Publikum "grundlegende psychische Energien auf der Ebene individueller psychischer Erfahrung aktiviert" worden sein müssten.

Es wird weitergeträumt

Kein Zweifel: Das Thema "Psyche im Kino" ist wohl wirklich noch lange nicht abgehandelt. Merkwürdigerweise ohne auf Kappelhoffs instruktive Studie aus dem Jahr 2004 zu rekurrieren, thematisiert auch ein dieses Jahr erschienener, aufwändig und vielfarbig illustrierter Sammelband vielseitige Perspektiven auf den "spannungsreichen Dialog" von Kino und Psychoanalyse, wie es im Vorwort der Herausgeber von "Psyche im Kino. Sigmund Freud und der Film" heißt.

Die Filme besonders Douglas Sirks, David Finchers, Brian de Palmas und David Lynchs erfahren hier eine neuerliche psychoanalytische Betrachtung. Erstaunlich ist die mangelnde Berücksichtigung von Kappelhoffs Vorstoß in dem Band allerdings in besonderem Maße, wenn sich Hanjo Berressem in seinem Beitrag "affektionen und affekte: mit freud und deleuze im melodrama" mit einem nun wirklich sehr ähnlichen Thema auseinander setzt wie sein Vorgänger, ohne ihn auch nur in einer einzigen Fußnote zu nennen - zumal Berressem einen noch hochfahrenderen Wissenschaftssound pflegt als sein Berliner Kollege, um seine staunenswerte Belesenheit in der Melodramenforschung auszuweisen.

David Lynch und die Psychoanalyse

Im selben Band ist auch Matthias Wittmanns Aufsatz mit dem Titel "Hinter dem blauen Samtvorhang: Neun Denkbruchstücke zu David Lynch" an die Beobachtungen Kappelhoffs anschließbar, erkennt doch Wittmann im Kino David Lynchs einen "traumhaft-halluzinatorischen Charakter", der daraus resultiere, dass dort die "Personen, Dinge und Räume immer auch (Trans-)Figurationen innerpsychischer Stimmungen und Zustände darstellen". "Vermittels dieser Koexistenz von Realität und Traum, von Erinnerungs-, Gedanken-, Relationsbildern sowie seherischen Visionen gelingt es Lynch, einen Kosmos ohne Zentralperspektive zu konstruieren, in dem sich das Imaginäre und das Reale permanent austauschen", schreibt Wittmann. Dazu zitiert er einmal mehr Gilles Deleuze: "Der imaginäre Blick macht das Reale zu etwas Imaginärem, während er selbst real wird." Lynchs Filme seien in der Lage, für "kurze Zeit die Ordnung der subjektzentrierten Bilder rückgängig zu machen" und, mit Deleuze gesprochen, jenes nichtzentrierte, "kosmische Flimmern von Bewegungs-Bildern" zu generieren, "die die Welt vor dem Auftauchen eines konstituierenden, wahrnehmenden Subjekts erfüllt haben könnte" - eine Terminologie vorsprachlicher und frühkindlicher Wahrnehmungen also, an die ja auch Kappelhoffs Untersuchungen anknüpfen.

Nun hat sich Lynch im von Chris Rodley herausgegebenen Interview-Band "Lynch über Lynch" (Frankfurt am Main 1998) im Gespräch über seinen surrealen Debütfilm "Eraserhead" (USA 1976) selbst eher spitzbübisch-ablehnend gegenüber psychoanalytischen Lesarten geäußert: "Es mag exakte Wissenschaften geben, aber die Seelenkunde gehört nicht dazu". Doch das bewahrt den umstrittenen Regisseur natürlich nicht davor, dass seine Werke sich aufgrund ihrer spezifischen Traumstrukturen besonders für einen solchen analytischen Zugriff anbieten.

Im Himmel, da ist alles wunderbar

Niemals. Niemals. Nichts wird vergehen. Der Strom fließt dahin. Der Wind weht, die Wolke schwebt, das Herz schlägt.
Weibliche Off-Stimme am Ende von David Lynchs "The Elephant Man" (USA 1980)

"In heaven, everything is fine", singt die freundlich-abstoßende weibliche Traumgestalt in Lynchs Film "Eraserhead" aus dem Heizkörper heraus, den sie (in der Imagination des Protagonisten) zu bewohnen scheint. Innere (Horror-)Fantasien sind bei diesem Regisseur nicht mehr von dem Außen der Figuren zu trennen, weswegen Georg Seeßlen seinen Filmen auch eine 'Dramaturgie der Inversion' bescheinigte: Es ginge hier um einen Menschen, der "immer tiefer in sich selbst oder in seine symbiotischen Beziehungen gelangt", heißt es in Seeßlens Buch "David Lynch und seine Filme" (Marburg 2000).

So bergen "Harmonie und Geborgenheit bei Lynch immer auch ein Moment des Unbehagens", konstatiert auch Wittmann - letztendlich abermals eine melodramatische Konvention der horrorgleich inszenierten Ambivalenz zwischen sanfter Liebe und den Abgründen der Sexualität, wie sie ja Kappelhoff immer wieder beschreibt: "You've got your good things an I've got mine", heißt passenderweise der distanzierende zweite Vers, den die 'Lady in the Radiator' aus "Eraserhead" singt - "auch der Himmel präsentiert sich als ein ewiges Aneinandervorbei", resümiert Wittmann.

Dieses Umkippen des Vertrauten ins Unheimliche bzw. die Identifikation beider als ein Moment verdrängter und somit entfremdeter Ich-Anteile, wie sie Freud in seiner Studie "Das Unheimliche" (1919) beschrieb, erkennt Wittmann allerdings keineswegs erstmalig als zentrales Charakteristikum der Filme Lynchs. Auch Rodley schrieb schon 1998 im Vorwort seines Interview-Bands, Lynchs Inszenierungen verwandelten "das Heim in etwas Un-Heimliches, erzeugt durch ein beunruhigendes Nichtvertrautsein im scheinbar Vertrauten." Oder, wie Freud es formuliere: "Das Unheimliche ist unheimlich, weil es insgeheim allzu vertraut ist, deshalb wird es verdrängt": "Dies ist das Wesen von Lynchs Kino", dekretiert Rodley.

...and on and on...

Wie wenig wegzudenken der psychoanalytische Ansatz aus der aktuellen Filmwissenschaft tatsächlich mittlerweile ist, belegt zuletzt auch der Band "Das Kino der Gesellschaft - die Gesellschaft des Kinos. Interdisziplinäre Positionen, Analysen und Zugänge", der "Kinoanalyse und Gesellschaftsanalyse" kombinieren will. Wenn sich in einem solchen interdisziplinär angelegten Buch, das schwerpunktmäßig das Verhältnis von Soziologie und Film zu perspektivieren sucht, abermals Beiträge etwa zu "Film und Identität: Ein psychoanalytisch-kulturtheoretischer Zugang" (von Brigitte Hippel) oder auch mit dem Titel: "Wir sind doch immer noch Männer? Eine psychoanalytische Betrachtung des Films 'Fight Club' von David Fincher" finden, so darf man getrost annehmen, dass Freuds Ideen im Kino und seiner Analyse weiterleben werden. Das Herz hört noch lange nicht auf zu schlagen.


Kein Bild

Hermann Kappelhoff: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit.
Verlag Vorwerk 8, Berlin 2004.
340 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-10: 3930916614

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Titelbild

Manfred Mai / Rainer Winter (Hg.): Das Kino der Gesellschaft - die Gesellschaft des Kinos. Interdisziplinäre Positionen, Analysen und Zugänge.
Herbert von Halem Verlag, Köln 2006.
320 Seiten,
ISBN-10: 3938258047

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Titelbild

Thomas Ballhausen / Günter Krenn / Lydia Marinelli (Hg.): Psyche im Kino. Sigmund Freud und der Film.
Film Archiv Austria, Wien 2006.
412 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3901932895

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