Visitenkarten und Duelle

Paul Bourgets Roman "Ein Frauenherz" erzählt von den Ab- und Hintergründen gefährlicher Liebschaften in der "Dritten Republik"

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 1891 veröffentlichte Hermann Bahr, der spiritus rector der Jungwiener 'Nervenkünstler' um Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler, seine berühmte Programmschrift "Die Überwindung des Naturalismus", in der er zur Abkehr von Materialismus, Positivismus und der bloßen Mimesis des Tatsächlichen in der Literatur aufrief und die Transformation der "Sachstände" in "Seelenstände" forderte. Hinter dieser Forderung verbirgt sich - wie der Titel der Schrift schon deutlich erkennen lässt - nicht nur eine vehemente Kritik an der Literaturästhetik der Naturalisten. Anhand dieser beiden signifikanten Begriffe lassen sich auch die literarhistorischen Entwicklungen des späten 19. Jahrhunderts skizzieren, wo unterschiedliche und konkurrierende, sich zeitlich teilweise überlagernde Literaturkonzepte und Strömungen zu beobachten sind, die ihrerseits nur im Kontext eines umfangreichen, heute oftmals schwer zugänglichen kulturkritischen und naturwissenschaftlichen Schrifttums zu verstehen sind - erwähnt seien hier nur die wirkungsmächtigen Schriften von Ernst Mach, Wilhelm Bölsche und Max Nordau. Die literaturwissenschaftlichen Termini wie Realismus, Naturalismus, Ästhetizismus und Junges Wien spiegeln diesen Stilpluralismus am Ende des 19. Jahrhunderts wider, der besonders anschaulich wird, hält man sich einige Publikationsdaten wichtiger Werke vor Augen: so entstanden in geringem zeitlichen Abstand etwa Hugo von Hofmannsthals Dramen "Gestern" (1891) und "Der Thor und der Tod" (1894) sowie Arthur Schnitzlers Einakter "Anatol" (1893). Daneben schrieb Gerhart Hauptmann mit "Die Weber" 1892 eines der wichtigsten Stücke des Naturalismus, das Wilhelm II. als "Rinnsteinkunst" bezeichnete und nach dessen Uraufführung er seine Loge im Deutschen Theater kündigte.

Auch in Frankreich setzte in den 1880er Jahren eine Naturalismuskritik ein, die sich in zahlreichen Publikationen von Literaturkonzepten manifestiert und deren Ausgangspunkt und Grundlage oftmals die kontrovers geführten Diskussionen um die Romane Émile Zolas bilden. Der 1852 in Amiens geborene und 1935 in Paris gestorbene Paul Bourget gilt neben Stendhal als einer der bedeutendsten Vertreter des so genannten psychologischen Realismus in Frankreich. Wie Hermann Bahr, der zunächst selbst als Verfechter des Naturalismus und Mitarbeiter der naturalistischen Zeitschrift "Freie Bühne" literarhistorisch in Erscheinung trat, stand auch Paul Bourget der naturalistischen Bewegung anfangs nahe. Die Begegnungen mit Bourget in Paris in den Jahren 1888 und 1889 waren für Bahr wohl die wesentlichen Impulsgeber für seine Abwendung vom Naturalismus, was sich nicht zuletzt in seiner an Bourget angelehnten Unterscheidung von Sachständen (états de choses) und Seelenständen (états d'ames) zeigt.

Paul Bourgets 1890 erschienener Roman "Un coeur de femme" liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung mit dem Titel "Ein Frauenherz" in einer ansprechenden Ausgabe des Manesse-Verlags vor und liest sich wie eine vorweggenommene Umsetzung der Bahr'schen Forderung - die "Sachstände" des Romans sind daher schnell nacherzählt: Durch eine Kette von Zufällen lernt die seit dem Tode ihres Mannes im deutsch-französischen Krieg 1870/71 verwitwete Juliette de Tillières auf einer Abendgesellschaft ihrer Freundin Gabrielle de Candale den berüchtigten Lebemann und Junggesellen Raymond Casal kennen. Fortan fühlt sie sich, obwohl ungebunden, hin- und hergerissen zwischen ihrem "Freund" Henry de Poyanne und Raymond Casal; die Männer tauschen Visitenkarten, es kommt zu einem wenig ehrenhaften Duell, und am Ende geht die schöne Seele Juliette de Tillières ins Kloster.

Ähnlich wie in den Romanen Theodor Fontanes - zu dessen "Cécile" Bourgets Roman frappierende Ähnlichkeiten aufweist - ist die Handlung in "Ein Frauenherz" auf ein Minimum reduziert. Seine literarhistorische Bedeutung und literarische Qualität gewinnt Bourgets Roman indes durch die Darstellung facettenreich gebrochener Spiegelungen nicht nur der Frauenherzen und die Entfaltung von "Seelenständen" und inneren Entwicklungen der Protagonisten sowie deren pathologisch-medizinischer Auswirkungen. Nicht zufällig wird erwähnt, dass Madame de Tillières nach dem Tode ihres Mannes eine "Nervenkrise" erlitt und einige der Nebenfiguren - wie etwa die Frau des Hausfreundes d'Avançon - durch ihr "Nervenleiden" nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Die erregte Angespanntheit der 'leidenden' Personen spiegelt sich sowohl in ihren Gedanken als auch in ihrem Habitus, ihren Bewegungen und Gesten wider.

Im literarischen Medium des Gesellschaftsromans verarbeitet der Autor Bourget zeitgenössische psychologische und medizinische Diskurse, an deren Entwicklung er selbst Anteil hatte und die sich mit den Epochenworten "Nerven" und "Nervosität" zusammenfassen lassen. Seine 1881-82 zunächst in Zeitschriften publizierten, 1885 dann in Buchform erweiterten "Essais de psychologie contemporaine" stießen vor allem bei den Jungwiener Autoren auf große Resonanz und nehmen schon die Dekadenzthematik des Fin de siècle vorweg, die Hugo von Hofmannsthal zehn Jahre später auf die Formel "hübsche Möbel und überfeine Nerven" brachte.

Wie stark Bourgets Romane von seinen medizinisch-naturwissenschaftlichen und philosophischen Schriften geprägt sind, lässt sich am besten anhand der Beziehungsentwicklung der beiden Hauptfiguren, Madame de Tillières und Raymond Casal, demonstrieren. Wie der mondänen Welt überhaupt - zu der sie zwar vom Vermögen und Stand her angehört, in der sie aber gleichsam wie ein Fremdkörper wahrgenommen wird - bringt Madame de Tillières auch Casal zunächst nur Verachtung entgegen, fühlt sich aber auf "mysteriöse" Weise zu ihm hingezogen. Mit ungeheurer analytischer Schärfe und Differenziertheit entwirft der allwissende Erzähler nicht nur das Psychogramm einer Frau zwischen tugendhaftem Standhalten, nervösem Zaudern und selbstvergessenen Leidenschaftsphantasmagorien mit der Folge von psychopathologisch bedingten Erschöpfungsmomenten. Dass die Schilderung dieser Spannung zwischen gesellschaftlichen Moralvorstellungen und individuellen seelischen Kämpfen auch den deutschen Leser gebannt weiterlesen lässt, liegt vor allem an der eindrucksvollen, den jeweiligen 'Ton' der Personen im Original treffenden Übersetzung von Caroline Vollmann.

Auch die Figur des Lebemannes Raymond Casal wird ambivalent und vielfach gebrochen dargestellt. Anfangs erscheint er noch als ein Mann vom Schlage eines Vicomte de Valmont, ein Mann von schier übernatürlichen sinnlichen Fähigkeiten und intellektueller Begabung, der über Denkvermögen trotz Oberflächlichkeit "in einer Welt voller Belanglosigkeiten" verfügt und der abwartet, bis die scheinbar tugendhafte, vor Selbstbeherrschung strotzende Frau die Fassung verliert. Nicht die Eroberung einer Frau stellt für ihn den größten Reiz dar, sondern die Zerstörung eines Mythos': den von der tugendhaften, für sinnliche Verlockungen der mondänen Gesellschaft offenbar unempfänglichen Frau. Dass diese Zerstörung eines Mythos' für ihn indes nur ein Spiel wie das Fechten ist, zeigt sich mitunter auch in der Doppelbödigkeit des Gespräches über die Jagd, dem Madam de Tillières wie gebannt folgt und das unversehens zu einer Allegorie einer ganz anderen Jagd, der 'Frauenjagd' gerät.

Was die beiden später verbindet sind ähnliche Erfahrungshorizonte ("Auch er war übersättigt an Erfahrungen"), die in ihrer Konsequenz lediglich zu unterschiedlichen Lebensentwürfen - Lebemann hier, Entsagende dort - geführt haben, die sie aber auch nur für kurze Zeit einander näherzubringen vermögen. Die für die psychische Verfassung der Personen maßgeblichen Ereignisse werden allerdings nicht detailliert beschrieben. Es bleibt dem Leser überlassen, sich anhand von 'Ereignisspuren' wie Blicken, Gedanken und Verhaltensweisen ein Bild der vergangenen Ereignisse zu machen. Mehr noch als die Versklavung durch die Vergangenheit, die letztlich verantwortlich ist für ihr nervöses Leiden, fürchtet Madame de Tillières jene durch "das Krebsgeschwür der Leidenschaften". Selbst ein ehrlich gemeinter, oft wiederholter Heiratsantrag Casals, in dem sich die Vorstellung von der Ehe als Institution zur Neutralisierung und 'Domestizierung' sexueller Leidenschaften noch einmal verdichtet, ändert an der entsagenden Haltung seiner Geliebten nichts: Die psychischen Folgen der Nervenkrankheit isolieren sie vom gesellschaftlichen Leben und entfremden sie von ehedem vertrauten, gemeinschaftsstiftenden Institutionen wie der Ehe.

Bis es allerdings zur 'Trennung' kommt, werden die tiefenpsychologischen Dimensionen einer Annäherung zweier schier unvereinbar scheinender Menschen ausgelotet, die ihr essayistisches Pendant in Bourgets "Essais" und zahlreichen vorwissenschaftlichen bzw. vorfreudianischen Schriften besitzen und den Roman in die Tradition der großen 'psychoanayltischen' Romane eines Fontane und Dostojewski stellen. Die Begegnung mit dem Fremden löst in Casal und Juliette Fremdheit zu sich selbst aus. Weil sie den anderen kennenlernen wollen, kennen sie sich selbst nicht mehr und entdecken neue, verborgene Charakterzüge oder bewerten alte Verhaltensmuster neu.

Wenngleich Bourgets "Essais" eine deutliche Absage an die positivistische Wahrnehmungsweise des Naturalismus enthalten, so weist seine künstlerische Methode der Verbindung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse mit fiktionalen Texten doch auch Gemeinsamkeiten mit "naturalistischen Basistexten" (Walter Fähnders) auf. Die von der Forschung in den letzten Jahren immer wieder herausgearbeiteten Schnittfelder zwischen Naturalismus und den zeitgleichen konkurrierenden Literaturströmungen werden gerade an der Gegenüberstellung von "Ein Frauenherz" mit einer Passage aus Wilhelm Bölsches 1887 publizierten "Prolegomena einer realistischen Ästhetik. Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie" deutlich: "Es kann ihr [der Poesie, d.V.], was zwar nicht so bekannt, aber ebenso wahr ist, auch nicht ungerügt hingehen, wenn sie eine Psychologie bei den lebendigen Figuren ihrer Erzeugnisse verwerthet, die durch die Fortschritte der modernen wissenschaftlichen Psychologie entschieden als falsch dargethan ist."

Dass gerade die literarische Darstellung nervöser Frauengestalten Ende des 19. Jahrhunderts in reaktionären Kritiker- und Wissenschaftskreisen - genannt seien hier nur Ottokar Stauf von der March und Max Nordau - bittere Verunglimpfungen erfuhren ist Teil und Folge dieser 'Verwissenschaftlichung' der Literatur.

Ebenso beachtlich wie die Verarbeitung außerliterarischer Diskurse ist die Verwurzelung von "Ein Frauenherz" im literarischen Feld des Intrigen- und Eheromans. Zwar fehlt der Madame de Candales das Dämonenhafte des Charakters einer Marquise de Merteuil, dem Lebemann Casal die Verführer-Finesse eines Vicomte de Valmont und Madame de Tillières selbst das Engelsgleiche einer Madame de Volanges, doch bleibt - was die Figurenkonstellation anbelangt - die Folie von Pierre Choderlos de Laclos 1782 erschienenen Briefroman "Les liaisons dangereuses" (Dt. "Gefährliche Liebschaften") deutlich erkennbar. Die auf Dissimilation ausgerichtete Gesellschaft des Ancien Régime lebt in Wurmfortsätzen in der "Dritten Republik" weiter und die ehedem der höfischen Welt angelasteten und heftig kritisierten Verhaltensweisen von Schein, Oberflächlichkeit, Betrug und Verrat werden mit bürgerlichen Vorzeichen maskiert, hinter denen sich aber dieselben Leiden und das, was Leiden schafft, verbergen.

Von den drei bekanntesten Ehebruch-Romanen - "Madame Bovary" (1856) von Flaubert, "Ana Karenina" (1875-77) von Tolstoi und "Effi Briest" (1894/95) von Fontane - in denen jeweils ein von der Frau begangener Ehebruchs aus der Feder eines männlichen Autors geschildert wird, dessen ganz unterschiedliche Folgen aus den verschiedenen sozialen Milieus der jeweiligen Ehepaare resultieren, unterscheidet sich Bourgets Roman dadurch, dass wichtige Merkmale dieses Romantypus' konterkariert und einzelne Handlungsmomente umgedeutet werden.

Zum einen ist da das Motiv des Ehebruchs, dessen 'klassische' Folgen wie Ehrenforderung und Duell zwar gezeigt werden; doch kann von Ehebruch gar keine Rede sein: Ist doch Madame de Trillières gar nicht mit Henry de Poyanne verheiratet. Die ungünstige Entwicklung der Dreiecks-Konstellation resultiert vor allem aus dem Krankheitsbild der Hauptfigur. Auch das Duell selbst, das etwa bei Autoren wie Fontane und Schnitzler durchaus kritisch beschrieben wird, aber dennoch in seiner Verhaltensnormen stiftenden Funktion für das sittlich-praktische Leben durchscheint, verkommt hier fast zur Farce. Nach der Provokation Poyannes zieht Casal auf Drängen von Juliette sogar seine Duellforderungen zurück, worauf Poyanne allerdings nicht eingeht, sondern weiterhin auf das Duell besteht - bei dem allerdings keiner zu Tode kommt.

Das letzte, gleichsam gewichtige Element, mit dem dieser Roman das Ende einer Gattungsgeschichte des 'Ehebruch-Romans' markiert, ist auf der Ebene der Erzählhaltung zu suchen. Der allwissende Erzähler in Bourgets Roman tritt - anders als bei Fontane - nicht vollständig hinter der Figurenrede seines Personals zurück. Im Gegenteil! In zahlreichen Bemerkungen wird die erzählte Begebenheit mit Kommentaren und Erläuterungen wie "in unserem Gesellschaftsdrama", "im sentimentalen Roman" oder "in dieser tragischen Geschichte" durch den Erzähler kommentiert und charakterisiert, so dass zum einen die Gattungsgeschichte selbst reflektiert, zum anderen auch mit den Erwartungshaltungen des Lesers gespielt wird. Bei allem "psychologischen" Realismus, der sich nicht zuletzt durch die Einbindung zeitgenössischer medizinischer und psychologischer Diskurse ergibt, unterscheidet sich dieser Roman trotz vieler Parallelen in Motivik und Gattung in der Erzählhaltung doch erheblich von der realistischen Schreibhaltung Fontanes, wo eine Unmittelbarkeit des Beschriebenen vorgegeben wird und man keine Hinweise auf künstlerische Bearbeitung finden würde.

In Fontanes schon erwähntem Roman "Cécile" wird an einer Stelle die fast resignierende rhetorische Frage gestellt, was "nicht alles Platz [habe] in einem Menschenherzen" - einiges davon kann man in Paul Bourgets Roman "Ein Frauenherz" erfahren.


Titelbild

Paul Bourget: Ein Frauenherz. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Caroline Vollmann.
Manesse Verlag, München 2006.
507 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3717520822

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