Chiastische Schreibweisen

Ein Sammelband untersucht "Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Allgemeinen wird jedwede Art probierenden und mitunter auch provozierenden Vorgehens in der Literatur als 'experimentell' bezeichnet, im engeren Sinne wird der Begriff - vor allem im Rahmen romantischer 'Experimentalkultur' - mit wissenschaftlichen Experimenten analogisiert. Während das Experiment jedoch in den exakten Wissenschaften nach Ansicht Georg Jägers "ein methodisches Vorgehen zur Gewinnung bzw. Überprüfung von Erkenntnissen im Rahmen von Theorien" bezeichnet, ist bei der Verwendung des Terminus innerhalb des ästhetischen Diskurses in erster Linie zu beachten, auf welchen Entwicklungsstand in den Naturwissenschaften sich dieser Diskurs jeweils bezieht. "Zumeist bleibt der Begriffsgebrauch metaphorisch, da wesentliche Definitionsmerkmale fehlen: der theoretische Rahmen, das methodische Vorgehen und folglich die Möglichkeit der Überprüfung durch Wiederholung".

Immer wieder ist im Zusammenhang von Texten des 19. Jahrhunderts von 'Experimenten' die Rede; immer allerdings geschieht dies in einem metaphorischen Sinn, zumal sich auch nirgends eine wissensgeschichtliche Situierung der Rede vom Experiment findet. Von Novalis und Friedrich Schlegel wurde das literarische Experiment im Sinne einer ars combinatoria konzipiert. Kleists Texte skizzieren neue Experimentanordnungen, in denen labile und seiner Körperlichkeit ausgelieferte Subjekte sich den Redeordnungen und Zeichensystemen einer durch Bürokratie, Verwaltung und die Mächtespiele der Politik bestimmten Gesellschaft aussetzen und neue Legitimationsmodi probieren, die aber sämtlich scheitern. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erfährt der Begriff des 'Experiments' schließlich auch den Versuch einer (literatur-)theoretischen Legitimierung. So entwickelten sich nicht nur eine experimentelle Ästhetik (Gustav Theodor Fechner), sondern auch eine experimentelle Psychologie (Wilhelm Wundt) und eine Experimentalphonetik, die nach Friedrich A. Kittler die Grundlagen literarischer Kommunikation entscheidend verändert hat. Von keinem Geringeren als Friedrich Nietzsche ging der Gedanke einer Reflexionsexistenz als Experiment aus, die noch in so unterschiedlichen Konzepten wie Rilkes Phonograph im Aufsatz "Ur-Geräusch" und in Benns "Wirklichkeit aus Hirnrinde", um nur zwei Beispiele zu nennen, nachwirkt. Und schließlich ist der französische Romancier Emile Zola zu nennen, der sich in seiner Abhandlung "Le roman expérimental" (1879) auf die experimentelle Physiologie in der Medizin bezog.

Diesem Bestand an Texten, die literarische Versuchsanordnungen inszenieren, widmet sich der jüngst erschienene Sammelband "Literarische Experimentalkulturen", der es sich zum Ziel gesetzt hat, unterschiedliche "Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert" unter die Lupe zu nehmen. Was ihn auszeichnet, ist der Versuch, die metaphorisch gebräuchlichen, systematisch jedoch viel zu selten reflektierten Beziehungen zwischen naturwissenschaftlichen Versuchsanordnungen und literarischen Schreibweisen zu behandeln und sie um die Verhältnisse zwischen literarischen Versuchsanordnungen und naturwissenschaftlichen Schreibweisen zu ergänzen. Dadurch, dass die einzelnen Beiträger den Terminus 'Experiment' von seiner rein metaphorischen Verwendungsweise befreien und ihn als Einheit der viel beschworenen Differenz von Literatur und Naturwissenschaft, als Medium zwischen empirischem Beweis und der Eröffnung von Möglichkeitsräumen begreifen, werden Semantiken und Topiken, Diskurse und Dispositive sowie Schreibweisen und Denkstile einer literarischen Experimentalkultur kartiert, die von der Frühromantik bis in die Hochzeit der ästhetischen Moderne - von Goethe über Kleist, E.T.A. Hoffmann und Poe bis zu Zola, Hofmannsthal und Kafka - reicht.

Präsentiert wird ein Verständnis von 'Experiment', das nicht auf die Nachträglichkeit des Experiments als Probe oder Beweis vorangehender Hypothesen, sondern auf die "Erzeugung der Phänomene" (Ian Hacking) zurückgreift, wie Marcus Krause und Nicolas Pethes dies in ihrer Einleitung unterstreichen: "Die Einsicht, daß das Experiment allererst hervorbringt, was es in allgemeinem Verständnis doch lediglich nachzuweisen hatte, öffnet die Semantik des Begriffs 'Experiment' und macht seine Reflexion jenseits naturwissenschaftlicher Vorgaben notwendig. Das Augenmerk gilt vor diesem Hintergrund nicht mehr vermeintlich evidenten Parallelen zwischen experimentellen Praktiken und literarischen Schreibweisen, sondern den Verwerfungen zwischen beiden".

Dabei gehe es nicht um eine Vereinheitlichung des Experimentbegriffs für Wissenschaft und Literatur oder gar um eine Gleichsetzung beider, sondern um das zu beobachtende Wechselspiel zwischen Einheit und Differenz, wie es vom späten 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert sowohl für die Relation zwischen Wissenschaft und Literatur zu beobachten sei. Eine solche reflexiv-poetologische und somit eminent literarische Dimension der Epistemologie sucht der Sammelband anhand der Untersuchung von Definition und Funktion des Experimentalen in literarischen Texten zu entfalten und auf diese Weise einen Beitrag zur Frage nach den Verhältnissen von Literatur und Wissen bzw. Wissenschaft zu leisten.

Nach Ansicht der beiden Herausgeber vermag das Experiment "über seine Funktionalisierung als Epochenmarker hinaus geradezu als Medium zwischen Literatur und Wissenschaft zu figurieren. Und das genau deshalb, weil es als einheitsstiftendes Moment zur Stabilisierung der wissenschaftlichen Disziplinen zugleich semantisch hinreichend offen ist, um eine Vielfalt von Anschlußmöglichkeiten für ganz unterschiedliche Diskurse bereitzustellen: Experiment kann einerseits die empirische Beobachtung der Natur, andererseits den kontrollierten Eingriff in die Natur meinen; einerseits in seinem klassischen Sinne den Beweis eines Sachverhaltes und das Ausprobieren einer Hypothese, andererseits in seinem modernen Verständnis die Eröffnung eines Möglichkeitsraumes und ergebnisoffene, zu differentieller Reproduktion fähige Versuchssysteme".

Während wissenschaftliche Ansätze von einem quasi-regelpoetischen Beobachtungsparadigma ausgehen, das dazu dienen soll, "Beobachtungen zu vereinheitlichen und einen distanziert-neutralen Beobachtungsstandort zu besetzen, der es ermöglicht, Erfahrungsdaten in gesicherte Empirie umschlagen zu lassen, [...] scheint die Literatur gerade nicht auf eine Vereinheitlichung, sondern auf eine Vervielfältigung der Erfahrung zu setzen, indem sie die Beobachtungen individualisiert und somit all die Positionen zu besetzen und dem Wissen verfügbar zu machen sucht, die um den abstrakten Blick des Experimentators gestreut und von diesem nicht erfaßt sind".

Der Einleitung folgen zwei Beiträge, die die ästhetikgeschichtliche und systematisch-konzeptuelle Dimension der Problemstellung entwickeln. Unter dem begrifflichen Doppel "Kontrolle und Entgrenzung" stellt Jochen Venus Überlegungen zur ästhetischen Kategorie des Experiments an und geht explizit der Frage nach, wie das Konzept des Experiments zum Medium der Selbstbeschreibung von Kunst avanciert, wenn deren wirklichkeitsverbürgende Autorität Ende des 19. Jahrhunderts brüchig wird; Birgit Griesecke und Werner Kogge reflektieren den Begriff "Gedankenexperiment" vor dem Hintergrund von Überlegungen Ernst Machs und Ludwig Wittgensteins und arbeiten dabei den eigenständigen epistemischen Stellenwert von Gedankenerfahrungen heraus.

Die daran anschließende erste Sektion ("Semantik/Topik") bietet Beiträge zu Kleists "Allerneuestem Erziehungsplan" (1810), den Roland Borgards im Kontext eines wissensgeschichtlichen Diskurses um 1800 liest, der Literatur und Physik engführt, ferner einen Beitrag zur spezifischen Form und Praxis eines romantischen Selbstexperiments am Beispiel des Spiritismus (Daiber) und schließlich zur Funktion der Literatur als Gesellschaftsexperiment in Wetzels "Robinson" und Goethes "Wanderjahren" (Hahn/Pethes). Die zweite Sektion ("Diskurs/Dispositiv") widmet sich den Regeln und Bedingungen, unter denen sich Semantik und Topik ausbilden: "Experimente gewinnen ihre Gültigkeit innerhalb eines Dispositivs des Wissens, das einen jeweils historisch spezifischen experimentellen Diskurs konstituiert". In diesem Sinne führt Michael Gamper das Weiter-Schreiben des literarischen Experiments bei Zola auf das Dispositiv der Normalisierung zurück, Katja Sabisch untersucht die Versuchsperson im Vivisektionsdiskurs zwischen Medizin, Recht und Literatur, Max Bergengruen betrachtet den Zusammenhang von sexueller Anomalie, multipler Persönlichkeit und experimenteller Rückkoppelung in Hugo von Hofmannsthals "Andreas"-Fragmenten, und Benno Wagner verdeutlicht, wie Kafkas Texte auf der Grundlage von Ernst Machs Sinnesphysiologie affektökonomische Experimente inszenieren, die die Möglichkeit erproben, der statistischen Vision des Normalmenschen durch Nietzsches Übermenschen zu entkommen. Die letzte Sektion ("Schreibweise/Denkstil") schließlich stellt die formale Dimension experimentell verfahrender Literatur in den Mittelpunkt: So untersucht J. M. van der Laan Formen und Funktionen von Goethes Essayistik innerhalb der literarischen Experimentalkultur um 1800, Harald Neumeyer verdeutlicht anhand des Magnetismus, dass es innerhalb der naturwissenschaftlichen und medizinischen Diskurse Fallgeschichten gibt, die zum 'Aufschreibesystem' experimenteller Beobachtungen am Menschen werden und sich dabei zunächst von der Wissenschaft in die Literatur und vice versa dann auch wieder in diese zurückschreiben.

Edgar Allan Poes experimentale Zugriffe auf die Materialität des Körpers und der Sprache stehen im Mittelpunkt des den Sammelband abschließenden Beitrags von Marcus Krause, der in den Texten Poes eine "chiastische Schreibweise" entdeckt, "in der sich anhand des Topos des Maschinellen die Sprache des Körpers mit dem Körper der Sprache verschränkt". Chiastische Schreibweisen - so ließe sich möglicherweise auch das Projekt der literarischen Experimentalkulturen im 19. Jahrhundert in toto charakterisieren, in ihrem Bestreben, naturwissenschaftliche Versuchsanordnungen und Literatur ebenso miteinander zu verknüpfen wie literarische Versuchsanordnungen und naturwissenschaftliche Diskurse. Dass beide nicht getrennt voneinander zu betrachten sind, ist das vielleicht wichtigste Ergebnis dieses an gewichtigen Erkenntnissen und Denkanstößen für künftige Unternehmungen in diese Richtung ohnehin außerordentlich reichen Sammelbands.


Titelbild

Marcus Krause / Nicolas Pethes (Hg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2005.
307 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-10: 3826030648

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