Eintauchen in Geschichten

Feridun Zaimoglu entführt ins Leben einer anatolischen Kleinstadt

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Ende des 520-seitigen Romans kommt Feridun Zaimoglus Figur Leyla mit ihrer Mutter und dem kleinen Sohn, der noch keinen Namen hat, nach einer dreitägigen anstrengenden Bahnfahrt in München an. Am Bahnsteig steht der schöne Metin, ihr Mann. Er lebt bereits seit einiger Zeit in Deutschland. Er fasst sie am Ohrläppchen, sie schämt sich, das gehört sich nicht in Gegenwart der Mutter. Leyla findet eine völlig andere Welt vor, auch ganz anders als Istanbul, wo sie die letzten Jahre verbracht hat. Dort wurde zwar ebenfalls vieles getan, was verboten war, aber jeweils im Verborgenen. Hier nun schreiten die Frauen ohne männliche Begleitung auf hohen Absätzen voran, "als kennten sie ihr Ziel genau. Ich bewundere ihren blassen Teint, ihre zu Turmfrisuren hochgesteckten Haare, ihre Halstücher in schreiend bunten Farben." Es wird nicht leicht werden für Leyla in dieser neuen Welt.

Das schwierige Leben kennt Leyla seit frühester Kindheit. Sie ist die Jüngste von fünf Geschwistern, zwei Knaben und drei Mädchen. Der Vater, von ihr meist nur "Nährvater" oder "der Mann meiner Mutter" genannt, ist ein gescheiterter Mensch, der seine Anstellung bei der Eisenbahn verliert, was er sich selber zuzuschreiben hat - von dieser Einsicht ist er aber weit entfernt. Später versucht er, mit diffusen, zwielichtigen Geschäften über die Runden zu kommen, was ihm jedoch auch nicht gelingt. Mit einem Fuß immer im Gefängnis lässt er seinen Zorn an seiner Familie aus. "Mein Nährvater ist der Hausvater, er hält mich, meine Schwestern und Brüder, und meine Mütter auch, wie seine Leibeigenen. Sechs Blinde, Taubstumme und Krüppel zittern unter seinem Sühnestock." Dieser Mann wird zwar weder von seiner Frau noch von seinen Kindern ernst genommen, doch sie ducken sich alle, denn er ist unberechenbar, und wenn er herumschreit, das sei sein Besitz und er könne damit machen, was er wolle, ist ihm durchaus alles zuzutrauen.

In der Mutter findet Leyla eine Verbündete, die sich zwar nicht direkt gegen den Ehemann auflehnt, obschon sie sich später sogar überlegt, sich von ihm zu trennen, doch die Tochter unterstützt sie in ihrer Eigenständigkeit. Und sie ist stolz auf ihre Leyla. Mit welch großer Zärtlichkeit freut sie sich mit ihr, als Leyla zum ersten Mal Menstruationsblut spürt. "Du bist heute eine Frau geworden, flüstert meine Mutter, nah an meinem Ohr, Weißkrönchen, mein Silberstern, mein schönes Mädchen, ist jetzt eine Frau, was freue ich mich für dich." Und sie versucht sie zu schützen vor dem Fluch, mit dem Yasmin, die Schwester, droht.

Leyla wächst mit den strengen Gesetzen auf, die der Vater aufstellt und die einzuhalten er von den Familienmitgliedern einfordert. Selbstverständlich gelten für die Söhne andere Regeln als für die Töchter, doch auch von den Söhnen, Djengis und Tolga, fordert der Vater absolute Unterwerfung. Und als er im Gefängnis ist, übernimmt sofort der Älteste die Herrschaft - das sei er dem Vater schuldig (der nicht sein leiblicher Vater ist, aber das erfährt er erst später). Obwohl er im Grunde die Herrschsucht des Vaters verurteilt, zweifelt er keinen Moment daran, dass er an dessen Stelle zu treten hat, wenn jener ausfällt. Mit diesen Erfahrungen jedoch sind die Kinder, ob Mädchen oder Knabe, nicht vorbereitet auf das Leben außerhalb einer festen Struktur. Das Festhalten an Bekanntem führt dazu, dass sie wiederholen, was sie eigentlich bekämpfen möchten.

Das ist auch für Leyla nicht anders. Als sie sich 16-jährig - die Familie ist in der Zwischenzeit nach Istanbul, in die Großstand gezogen - in Metin, den Schönen, verliebt, erhofft sie sich, dass nun alles anders werde. Kein Hunger mehr, keine Armut, ein liebender Ehemann, ein schönes Familienleben. Zuerst sieht es tatsächlich danach aus, dass es so werden könnte. Die beiden sind verliebt, die Mutter unterstützt Leyla: "du musst heiraten, dieses Elend bringt dich um", beschwört sie ihre Tochter. Metin hält um ihre Hand an, dem Vater bleibt nichts anderes übrig als einzuwilligen, für einmal kommt er mit Schreien und Toben nicht durch, auch wenn er die Macht über seine Tochter nicht so schnell abzugeben bereit ist. Doch die Ehe steht unter keinem guten Stern. Leyla hat wenig Rüstzeug für die neue Rolle - die erste Mahlzeit, die sie für den Schwiegervater und den Ehemann kocht, ist ungenießbar. Und - was schlimmer ist - Leyla stellt ihrem Mann Fragen und richtet Forderungen an ihn. Das ist für Metin zu viel. Er schickt Leyla zu ihrer Familie zurück - für sie eine große Schmach -, er findet wie Leylas Vater den Weg zu anderen Frauen, später wird er auch eine Geliebte in Deutschland haben. Leyla duldet nicht still vor sich hin, sondern fordert ihr Recht ein. Solange sie jedoch in Istanbul leben, gibt es kein Glück für sie. Und ob es in Deutschland besser wird, muss offen bleiben.

Die Stärke, das Beeindruckende an diesem Roman ist sein Reichtum, die Fülle, seine Üppigkeit. Unzählige Geschichten werden erzählt, es gibt viele wunderschöne Episoden, Zärtlichkeit zwischen den Schwestern, Liebe zwischen Mutter und Tochter, Zuneigung zum Bruder. Wenn Leyla und ihre Freundinnen von Manolya, der Kurdin, in deren Heimatdorf eingeladen werden, erleben die Mädchen ihre schönsten Tage. "Danke, sage ich, ich schließe die Augen und lausche meinem eigenen Atem. Heute ist ein Tag, an dem ich glücklich gewesen bin."

Die andere Seite gibt es ebenso, jene der Gewalt, des Jähzorns, der Zerstörungswut, und nicht nur von Seiten des 'Nährvaters'. Auch die Frauen können ganz schön heftig werden. Am Frauentag im Dampfbad wird nicht nur giftig geredet, da wirbeln Vorwürfe hin und her, bis die Frauen mit Badeschüsseln aufeinander losgehen und die Badewärterinnen es nicht leicht haben, die Ordnung einigermaßen wieder herzustellen. Überhaupt gehen die Frauen unzimperlich miteinander um. Sie beobachten sich gegenseitig sehr genau, und nur zu gern wird die schlechte Partie der Tochter von der einen oder der Gang zur Geliebten des Ehemannes der anderen ausführlich erörtert, möglichst im Beisein oder zumindest in Hörweite der Betroffenen. Für die Mädchen Leyla, ihre Schwestern Yasmin und Selda sowie ihre Freundinnen sind dies natürlich gerne gesehene Gelegenheiten zu erfahren, wie das Leben einer so mitspielt.

Später wird Leyla auch über diese Wege von den Seitensprüngen ihres Ehemannes erfahren. Trotzdem: nach der Lektüre bleiben die Bilder der starken Frauen zurück, die sich in ihren eng gesetzten Grenzen zu behaupten versuchen. Ihnen gegenüber erscheinen die Männer als Schwächlinge, die tatsächlich diese tüchtigen Persönlichkeiten neben sich benötigen, um überhaupt zu überleben.


Titelbild

Feridun Zaimoglu: Leyla. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006.
525 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3462036963

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