Missgriff ins volle Menschenleben

Bernd Balzers Einführung verschafft wenig Orientierung auf dem weiten Feld des literarischen Realismus

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einführungen in literarische Epochen bieten oftmals wegen der problematischen Epochenbegriffe selbst, deren Verwendung, wie Bernd Balzer im ersten Kapitel seiner "Einführung in die Literatur des Bürgerlichen Realismus" erläutert, allerdings "ebenso notwendig wie zweifelhaft" ist, eine breite Angriffsfläche für kritische Bemerkungen und Hinweise auf unberücksichtigte Problemhorizonte oder vergessene Werke. Auch bei der vorliegenden Überblicksdarstellung wird noch zu fragen sein, ob die vielen missverständlichen Aussagen und fraglichen Analysen tatsächlich nur der gebotenen Kürze und der Ausrichtung vor allem auf Studierende und Lernende geschuldet sind.

Der Bedarf an Epocheneinblicken ist ungebrochen, was gerade die in rascher Folge erscheinenden Bände der von Gunter E. Grimm und Klaus-Michael Bogdal betreuten Reihe "Einführungen Germanistik" im Verlag der "Wissenschaftlichen Buchgesellschaft" belegen. Allein im Jahr 2006 sind neben dem Band von Bernd Balzer auch Einführungen zur deutschsprachigen Literatur nach 1945 (Jürgen Egyptien) und der Jahrhundertwende (Dorothea Kimmich), ein Jahr zuvor schon zum Expressionismus (Ralf-Georg Bogner) und Vormärz (Norbert Otto Eke) erschienen, die als Alternative zu den großen "Sozialgeschichten" der Literatur von Hanser und Glaser und den etablierten Reihen wie den im Beck-Verlag erscheinenden "Arbeitsbüchern Literaturgeschichte" oder der "Sammlung Metzler" eine knappe Orientierung zur jeweiligen Epoche bieten und überdies eine gemeinsame Konzeption der Großkapitel aufweisen.

So ist auch bei Bernd Balzer das erste Kapitel dem "Epochenbegriff" gewidmet, in dem er die Polyvalenz des Terminus' zwischen Alltagssprache einerseits und wissenschaftlicher Terminologie andererseits darstellt und anhand der schon seit Wieland virulenten Kategorie der "Wahrscheinlichkeit" und Goethes Novellenbegriff die Unterschiede zwischen realistischem Schreibkonzept und Epochenbegriff - den er mit der gängigen Forschung übereinstimmend als "Relationsbegriff" auffasst - herausarbeitet. Balzers Ausführungen, die teilweise nur schwerlich als präzise Definitionen bezeichnet werden können, bauen oftmals auf nicht weiter kommentierten Zitaten auf, deren Auswahl ebenfalls nicht begründet und etwa beim Begriff "Bürgerlicher Realismus" nicht systematisch die historische Semantik des Wortes "Bürger" einbezogen wird.

Gerade was die Schreibkonzepte anbelangt, sind zwar die Hinweise auf Autoren des Vormärz' wie Ludwig Börne, Karl Gutzkow, Robert Prutz oder auch Willibald Alexis als "Wegbereiter eines literarischen Konzepts, das für den Bürgerlichen Realismus prägend wurde" nachvollziehbar und auch durchaus sinnvoll, nicht zuletzt um den Konstrukt-Charakter jeder Epochenprädikation zu demonstrieren. Aber Balzer macht es sich mit der auch in der Forschung immer wieder ausführlich diskutierten Frage der Epochenzäsur von 1848 dann doch zu einfach, wenn er feststellt, dass "das Jahr 1848 [...] für die Literatur keine zeitliche Bruchlinie" sei und dafür ausgerechnet ein Zitat aus einem Essay Fontanes nimmt, das nur scheinbar die Bedeutung der gescheiterten Revolution von 1848 in Frage stellt. Es ist ja unbestritten, dass das Formenarsenal, Motiv- und Stoffrepertoire einer Epoche auch jenes von der Literaturwissenschaft proklamierte 'Epochenende' überdauern und umgeformt werden kann. Die umfangreiche Forschung, die jene historische Entwicklung, in der eine nachrevolutionäre Gesellschaft neue soziale und kulturelle Bezugspunkte sucht, literaturgeschichtlich zu greifen versucht, übergeht Balzer hier vollständig.

Souveräner ist der Umgang mit der Forschung gerade auch im Hinblick auf die Zielgruppe dieser Einführung im recht kurzen aber doch zuverlässigen "Forschungsbericht". Der Autor fasst hier die wichtigsten Entwicklungen der Realismus-Forschung im Horizont wissenschaftsgeschichtlich bedeutsamer literaturtheoretischer Konzepte und 'Schulen' zusammen und verteidigt einen soliden philologischen und letztlich sozialgeschichtlichen Zugriff auf die Literatur gegen modernistische Transformationsbestrebungen der Literaturwissenschaft in eine Kulturwissenschaft, deren "vorliegende Beispiele", nach Balzer, "zu bloßer verbaler Geste" geraten. In der Tat sind die Ergebnisse der anhaltenden Methoden- und Theoriediskussion um Sinn, Ende oder Weiterentwicklung der "Sozialgeschichte" in der Germanistik nicht selten nominalistische Proklamationen scheinbar neuer Theorien, die häufig aber keine praktische Neuerung zur Methodenfrage zu bieten. Unter dem Verdikt, die Ableitung kultureller Phänomene aus Gesellschaftsstrukturen sei zu einseitig, wird versucht, die Umgestaltung der Literaturwissenschaften in eine "polykontextuell" (Gerhard Plumpe) orientierte Kulturwissenschaft voranzubringen. Dass diese Diskussion gerade durch den von Edward McInnes und Gerhard Plumpe herausgegebenen Band "Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit. 1848-1890" der "Hanser Sozialgeschichte der Literatur" vorangetrieben wurde, sei hier nur am Rande erwähnt.

Im dritten Kapitel geht Balzer ausführlich auf die "Kontexte" der Literatur ein und stellt die Zusammenhänge zwischen Politik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte und den Entwicklungen und Reaktionen des komplexen literarischen Markts unter Berücksichtigung der Produzenten, Rezipienten und wichtigsten Publikationsorgane und -formen her. Darüber hinaus werden auch die gerade für das 19. Jahrhundert bedeutsamen technischen Neuerungen wie etwa die Erfindung der Fotografie, die nicht nur Auswirkungen auf die Bereiche der Bildenden Kunst hatte, behandelt, und die Interferenzen zwischen verschiedenen Medien künstlerischer Artikulation verdeutlicht. Vor allem für Fontanes Romane wurde die Bildende Kunst in Form von Gemälden und - noch bedeutsamer - Denkmälern als Orientierungspunkte und Bedeutungsträger der von Fontane porträtierten Gesellschaft hervorgehoben, die mithin auch als strukturierende Elemente der Romane und Erzählungen selbst fungieren.

Allerdings finden sich auch in diesem sonst recht soliden Kapitel einige fehlerhafte und verkürzende Ausführungen. Mit den Zentralbegriffen "Macht, Besitz, und Bildung" arbeitet Balzer zwar die grundlegenden Perspektiven eines kulturellen und politischen Selbstverständnisses des Bürgertums heraus, das sich vor allem auch mit Stellen aus Stifters Briefwechsel belegen ließe - so schrieb dieser etwa am 6.3.1849 an Gustav Heckenast, das "Ideal der Freiheit" sei vernichtet und "Bildung und Erziehung" seien jetzt an der Reihe.

Fraglich ist indessen folgende Feststellung Balzers: "Nicht 'Katzenjammer', sondern Optimismus und Aufbruchstimmung kennzeichneten die fünfziger Jahre." Als Beleg für diese These verweist Balzer auf einen Ausschnitt aus Ludwig August von Rochaus wirkungsmächtiger Schrift "Grundsätze der Realpolitik", erwähnt aber mit keinem Wort, dass die von Rochau angeführten Überlegungen aus dem erst im Jahre 1869 erschienenen zweiten Band stammen und sich daher nicht ohne weiteres auf die fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts beziehen lassen. Zudem werden mit solch eindimensionalen Einschätzungen, die eben nur auf einen bestimmten Teil der Gesellschaft und Autoren zutreffen, all jene literarischen Verarbeitungen und Spätfolgen der Revolutionserlebnisse und -ereignisse unterschlagen, die mitnichten von "Optimismus" und "Aufbruchstimmung" gekennzeichnet sind. Man denke nur an den auch in der Forschung behandelten Typus' des 'alten Resignierten' in den Romanen und Novellen etwa von Raabe, Storm oder Fontane oder an das vielfach von Autoren artikulierte "fragmentarische Dasein", das sich auch in den Briefen Stifters an Heckenast finden lässt, die zum großen Teil "Dokumente der Niedergeschlagenheit" (Alfons Glück) sind.

Der Darstellung der "Aspekte und Geschichte der Literatur" im vierten Kapitel legt Balzer eine differenzierte Unterscheidung der teils ganz unterschiedlich akzentuierten 'Realismus-Programme' zugrunde, die von Robert Prutz' "Wiedergeburt des Wirklichen" und Theodor Fontanes "Verklärungspostulat" bis hin zu Stifters "sanftem Gesetz" und den einschlägigen Schriften von Julian Schmidt, Rudolf Gottschall und Otto Ludwig reichen, die noch in einem Ausblick von den am Ende des Jahrhunderts erscheinenden Programmen des Naturalismus abgegrenzt werden. In einem kurzen Abriss werden anschließend wichtige Vertreter einzelner Gattungen mit ihren Werken vorgestellt, die hier nicht eigens wiederholt werden müssen, wobei Balzer auch auf etwas entlegene, zumindest heute doch weitgehend vergessene Gattungen und deren Hauptvertreter eingeht. Genannt seien nur die so genannten "Professorenromane" wie etwa Georg Ebers "Die ägyptische Königstochter", Ernst Ecksteins "Die Claudier" oder, wahrscheinlich noch am bekanntesten, Felix Dahns "Ein Kampf um Rom".

Über die Auswahl der sechs Beispiele für die "Einzelanalysen repräsentativer Werke"- Stifters "Brigitta", Kellers "Der grüne Heinrich", Storms "Schimmelreiter", Fontanes "Schach von Wuthenow" und "Stechlin" und Raabes "Stopfkuchen" - könnte man freilich lange streiten. Sinnvoller erscheint es allerdings, die Kurzinterpretationen der immerhin nachvollziehbaren Auswahl auf ihre Tauglichkeit hinsichtlich der Vermittlung von Kriterien für die Interpretation realistischer Literatur zu befragen und das Verhältnis der Einzelanalysen zu den allgemeinen Kapiteln zu bestimmen. Zwei davon seien hier herausgegriffen.

In der Interpretation von Stifters 1844 zuerst im Taschenbuch "Gedenke mein!" - der Autor spricht nur von einem "Almanach" - erschienener Erzählung "Brigitta" konzentriert sich Balzer wie auch in allen anderen Einzelanalysen vorwiegend auf die Figurenkonstellation und -zeichnung, das Beziehungsgeflecht der Personen samt dessen Entwicklung und stellt immer wieder den Zusammenhang zu Stifters "sanftem Gesetz" her, das er in "Brigitta" exemplarisch angewendet sieht. Gerade im Blick auf den allgemeinen Teil ist doch erstaunlich, dass Balzer auf der Oberfläche der Strukturanalyse verharrt und nur selten die epochalen, den Autor und das Werk prägenden Konstellationen zur Sprache kommen. Auch Stifters Begeisterung für den ungarischen Gesellschafts- und Landwirtschaftsreformer, Graf István Széchenyi, den Stifter unter anderem Namen in das Romangeschehen integriert, wird nicht behandelt. Gleichwohl erlangen die in der Erzählung verarbeiteten Ideen Széchenyis gerade in den letzten Kapiteln besondere Bedeutung, worauf Balzer allerdings nicht eingeht.

Auch mancher Kommentar zu Fontanes "Schach von Wuthenow" löst beim Leser doch Befremden und Irritationen aus, zumal die wichtigsten Aspekte wie die Problematik der Gattungszuschreibung - die letztlich auf Fontanes Bezeichnungen selbst zurückgeht - im Blick auf die theoretischen Beiträge zur Novelle von Gottschall, Vischer, Riehl und Storm nur angedeutet werden. Zum Ausspruch Victoires "Die Gesellschaft ist souverän. Was sie gelten läßt, gilt, was sie verwirft, ist verwerflich" schreibt Balzer: "[...] ein fast schon unmenschliches Plädoyer für die gesellschaftliche Konvention [...]". Er legt an dieser Stelle Bewertungskriterien an, die einem modernen Bewusstsein für Moral entspringen und übersieht dabei die zeitgenössische Dimension dieser Aussage. In Fontanes Romanen und Erzählungen spiegelt sich die Selbstverständigung einer Gesellschaft über Moral und Werte wider, bei deren Darstellung es in erster Linie nicht darum geht, ob diese Überzeugungen "unmenschlich" sind oder nicht: es ist das, was Fontanes Gesellschaft - und damit ist sowohl die seiner Romanwelt als auch seine eigene gemeint - für richtig hält, mag uns Postmodernen das auch allzu unmenschlich vorkommen.

Der problematische Eindruck von Balzers Einführung wird zusätzlich durch einige vermeidbare Fehler und Ungereimtheiten, aber auch didaktische Mängel getrübt. Die zwei Tippfehler auf Seite 21 und 110, die aus 1871 bzw. 1893 kurzerhand die Jahre 1973 und 1993 machen, wiegen freilich weniger schwer als die Uneinheitlichkeit bei der Angabe mancher Titel, die Balzer immer kursiv vom übrigen Schriftbild absetzt. Einmal heißt Thomas Manns Roman "Die Buddenbrooks", ein anderes Mal - korrekt - "Buddenbrooks". Gänzlich falsch ist die Angabe des Untertitels von Raabes "Stopfkuchen", aus dem bei Balzer "Eine See- und Mordsgeschichte" statt "Eine See- und Mordgeschichte" wird.

Die von einer Einführung zu erwartende Verständlichkeit und historische wie begriffliche Trennschärfe bei der Darstellung einer literarischen Epoche wird nicht zuletzt auch durch stilistische Ungereimtheiten unterlaufen. So wenn zum Beispiel der Untertitel von Raabes "Stopfkuchen" "natürlich die zeitgenössische Unterhaltungsliteratur" parodiert, Jean Paul mit seiner "entfesselten Phantasie natürlich für das romantische Element in [der] Kunst" steht oder in Stifters Brigitta es zuerst "natürlich [...] die Titelfigur [ist], die einen entsprechenden Lernprozess erfolgreich durchläuft". Dieses "natürliche" Verständnis von literarästhetischen Phänomenbildungen ist sicherlich nicht dazu angetan, eine Leserschaft in die Grundlagen der Literatur des "Bürgerlichen Realismus" einzuführen.


Titelbild

Bernd Balzer: Einführung in die Literatur des Bürgerlichen Realismus.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2006.
160 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3534162692

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