Defäkationen, Fertilitäten, Exkreta

Kynisch-venerische Würfe von Paul Wühr

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ursprünglich war der Poesie die Darstellung des Schönen vorbehalten, während der Prosa auch das Häßliche erlaubt war. So wollte es zumindest die Theorie, während die Praxis immer auch andere Wege ging. Schon die Alten haben für die Darstellung von Liebeskunst kräftige Worte und Bilder gefunden, die Neulateiner und Frühhumanisten haben sich nicht gescheut, Körper und Sprache in mögliche und fragliche Verbindungen zu bringen, von Luther haben die ersten Dichter deutscher Zunge die freie Rede gelernt, Goethe und Brecht haben bewiesen, daß hohe Kunst und erotische Poesie sich nicht ausschließen müssen, Peter Rühmkorf hat deftiges "Volksvermögen" in die Dichtung hineingetragen.

Erotismus ist in der Dichtung nichts Neues, und auch für Paul Wühr-Leser ist er nicht neu. Seit seinem ersten Buch "Gegenmünchen" (1970) kann man ihn beobachten. Dort wird ein Paar, Er und Sie, auf Rundgänge durch die Wörterstadt geschickt, und bei wechselnden Aktionen und Figurationen bleibt keine Körperöffnung trocken. Was aber neu ist in seiner späten Lyrik, dem seit 1997 entstandenen Gedichtband "Venus im Pudel", ist die hohe Systematik, mit der hier quasi erotomanisch Dichtung betrieben wird.

Wo es um Sexualität, Geschlechterrollen, Moral und Gesellschaft geht, sind viele Diskurse betroffen. Medizin und Juristerei, Philosophie und Psychologie, Metawissenschaften wie die Semiotik und leider auch die Theologie. All diese Spezialdiskurse und ihre Protagonisten haben Einfluß auf die Wührsche Poesie, die sich als ihr Konkurrent und als ihre integrative Kraft versteht. Damit ist noch wenig darüber ausgesagt, wie diese Poesie funktioniert. Ein Beispiel:

Wenn

man sich aber mit einer Tochter

zum Ficken trifft in

einem bekannten Lokal um

anschließend zum Essen

gehen zu können erniedrigt sich

die weder mit einem

Menü noch à la carte sie

steht auch Kopf wenn

er sie von oben aufmachen

will

Umstandslos wird hier beschrieben, daß Er und Sie sich "zum Ficken" treffen, ganz pragmatisch zielgerichtet, ohne die üblichen Präliminarien, in einem Lokal, das offenbar einschlägig bekannt ist, eines jedenfalls, das man nicht vorrangig aufsucht, um etwas zu essen. Das tut man zwar auch, aber anschließend und anderswo. "Menü" und "à la carte" stehen in dieser Umkehrung der Verhältnisse für sexuelle Handlungen. Wie genau die aussehen, das bleibt uns erspart. Durch das Wort "Tochter" wird eine inzestuöse Konnotation geweckt, doch da alle Frauen Töchter sind, muß "eine Tochter" nicht unbedingt "seine Tochter" heißen. Auch Sonderwünsche bedeuten für sie keine Erniedrigung.

Das zitierte Gedicht gehört zu einem Zyklus von 15 weiteren. Er heißt "Milieu" und trägt zwei Mottos: "Daß diese Einheit der Ehe schon im Sinne des Naturgesetzes liegt, zeigt philosophische Überlegung." (Daniel Feuling, "Katholische Glaubenslehre") "Die Ordnung des Profanen hat sich aufzurichten an der Idee des Glücks." (Walter Benjamin, "Theologisch-politisches Fragment") Solche Zitate, die allen Zyklen vorangestellt sind, können sich wechselseitig stützen oder ergänzen oder auch konträre Positionen beziehen. Der Begriff des Milieus wird durch die beiden obigen Zitate allenfalls indirekt interpretiert. "Milieu" kann allgemein die "Umgebung" bezeichnen, in der man lebt, oder speziell die Welt der Dirnen und Zuhälter. Diese Ambiguität der Begriffe ist für Wührs Poetik von jeher charakteristisch gewesen. Scannt man alle Einzeltexte des Zyklus Milieu im Hinblick auf die zweite, engere Bedeutung, so ergibt sich ein erotisches Wortfeld aus Strich, Donna, Zwickel, Lederszene, membrana virginalis, Model, Plissees, Korsetts, Beine breit, schneller kommen, ausziehen, Brüste, Spalte, Testikel, Urinieren usw. Diese Wörter würden weitgehend auch in anderen Kontexten funktionieren, für die professionelle Rede von Biologen, Kürschnern, Medizinern, Modejournalisten oder Sportlehrern stünde hier unverdächtiges Material bereit. Erst die Häufung im Kontext des Zyklus spezifiziert den Hallraum der Wörter und Texte. Die vielleicht noch fragliche sexuelle Konnotation wird zur Denotation.

Eine wichtige Funktion haben dabei die Mottos. Sie leisten die Verknüpfung der Erotik und partiell auch Pornographik mit relevanten Diskursen der Gesellschaft. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien Vertreter aus Philosophie (Nietzsche, Whitehead), Juristerei (Walter Grasnick), Literatur (Ovid, Boccaccio, Rabelais, de Sade, Heine, Kafka), Kultur- und Gesellschaftstheorie (Beauvoir, Irigaray, Scheler, Sloterdijk) und Moraltheologie (Feuling, Kardinal Wetter) genannt. Zwei bei Wühr neue Bereiche sind die Retortenmedizin und die Geschichte der Prostitution (Erich Wulffen-Dresden). Der Zyklus "Defäkationen" etwa besteht aus den Teilzyklen "Fertilitäten" und "Exkreta"; hier geht es ums Kinderkriegen, um Reproduktionsmedizin und den monströsen Ernst von Georges Bataille. Viele andere Namen sind Wühr-Lesern bestens vertraut: Hamann, Lichtenberg, Lessing und Novalis melden sich zu Wort.

Der Band ist in Zyklen gegliedert, die wiederum einer höheren Ordnung unterliegen, die ihrerseits auf den "Talus", ein altrömisches Würfelspiel zurückgeht. Als komplexes Großgedicht aus mehr als 500 Einzeltexten folgt "Venus im Pudel" einer logischen Entwicklung im Œuvre Paul Wührs. Von seinem ersten Buch "Gegenmünchen" über die Gedichtbände "Grüß Gott" (1976), "Rede" (1979), "Sage" (1988), "Salve" (1997) bis hin zu "V.i.P." läßt sich ein Strukturwandel mit einer Gesetzmäßigkeit beobachten, die vor allem zwei Effekte hat: die konsequente Erweiterung der poetischen Sprechweisen und die forcierte Freisetzung von Produktivität. Noch im Publikationsjahr von "Salve", einem Gedichtband von 700 Seiten, hat Wühr die Konzeption von "V.i.P." entwickelt und durchgeführt. Also noch einmal 700 Seiten auf höchstem Niveau hingelegt und zugleich seine früheren Verfahren weiterentwickelt. Von "Gegenmünchen" hat er das multiple Figurenpaar Er und Sie übernommen, das hier in verschiedenen Rollen und Funktionen auftritt: als Justine und Juliette, als Bataille und de Sade, als Ledermann und Lederfrau, Gottessohn und Maria Magdalena, als Annie Sprinkle, die "Queen of Porn" und Paco Rabanne, als Cosmas Damian und Egid Quirin Asam, als warme Brüder und barmherzige Schwestern, als Sirenen und Märchenfiguren. Als poetische Sprecher verhandeln Er und Sie alle Themen des Bandes, besetzen alle Rollen und wirken in allen Figurationen mit. Die Heterogenität der Texte übernimmt Wühr aus "Grüß Gott", die Monumentalität der Rede aus "Rede", die Großgliederung aus "Sage", die Gliederungsprinzipien und die zusätzliche Semantisierung durch Mottos aus "Salve". Die Bandgliederung, das "Pantakel", läßt sich aus dem "Falschen Buch" (1983) herleiten; hier wie dort werden Zahlenmagie und Mathematik thematisch.

Neu ist die Gesamtkomposition, die gegenüber den Vorgängerbänden leichter, luftiger und gelöster wirkt. Neu sind die Ultrakurz-Zyklen, die zum Teil nur aus drei Gedichten bestehen. Als Vergleich fällt mir - pardon - nur Goethe ein, dessen Lyrik einen ähnlichen Strukturwandel genommen hat, von der frühen Erlebnislyrik über die Großzyklen der klassischen Zeit ("Römische Elegien") bis hin zu den Kleinzyklen des Spätwerkes ("Trilogie der Leidenschaft"). Womit nicht behauptet wird, daß sich Wühr an Goethe orientiere oder gar auf Goethe berufe, eher sind die Ähnlichkeiten der beiden Œuvres homologer Natur.

All das muß den Leser dieses wuchtigen Bandes gar nicht tangieren und interessieren. Er wird auch so zurechtkommen und sich am raffinierten Wechselspiel von Einzeltext und Zyklus, von Zyklus und Gesamtkomposition erfreuen. Er wird sehen, wie sich die Bedeutungen kontextuell auffächern und erweitern, wird spüren, wie der Hallraum der einzelnen Wörter, Gedichte, Zyklen immer größer wird, so daß im lesenden Nachvollzug erfahrbar wird, was sich sonst bei der Lektüre nie so deutlich ergibt, nämlich wie Bedeutung entsteht, wie durch wechselnde Umgebungen, Bezüge, Kontexte ganze Höfe von Bildern und Begriffen entstehen. Zurecht wird in der Wühr-Rezeption die Frage gestellt, ob es sich bei seinen Gedichtbüchern überhaupt (noch) um Lyrik handele. Wenn Lyrik den Einzeltext meint, die Abgeschlossenheit und Situationsgebundenheit der Rede innerhalb eines überschaubaren Repertoires von Grundformen, Haltungen und Mustern, dann sicherlich nicht. Dann müssen wir für diese neue Poesie nicht nur neue Lesetechniken erproben, neue Erwartungshaltungen aufbauen, neue Vermittlungsleistungen erbringen, sondern auch einen neuen Namen finden.

Titelbild

Paul Wühr: Venus im Pudel.
Carl Hanser Verlag, München 2000.
688 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3446198555

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