Oskar versus Günter

Zum Verhältnis von Dichtung und Wahrheit in Grass' Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel"

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Günter Grass sich und seine Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel" in eine illustre Tradition stellt, wird spätestens dann deutlich, wenn anlässlich von Selbstreflexionen des Erzählers die griffige Formel "Dichtung und Wahrheit" anspielungsreiche Verwendung findet. Zweifellos gibt es zwischen Goethes und Grass' Erinnerungen Gemeinsamkeiten.

Die erklärte Absicht Goethes war es, mit "Dichtung und Wahrheit" einen biografischen Kommentar zu seinen Schriften zu liefern: "Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biografie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet und wie er sich, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt".

Cum grano salis und ungeachtet aller zeit- und sozialbedingter Unterschiede scheint das auch eine der von Grass verfolgten Absichten zu sein, denn von seinen Werken, denen des bildenden Künstlers ebenso wie denen des Schriftstellers, und davon, wie sie angeregt wurden, ist in der Autobiografie vielerorts die Rede. Zahlreich ist die Erwähnung von Gedichten; auch das dramatische Œuvre wird nicht übergangen, und vor allem wird gerne auf die Romane und Erzählungen verwiesen. Für zukünftige Kommentatoren eine Fundgrube.

Den ersten Platz unter den explizit und implizit herbeizitierten eigenen Werken nimmt, wie kaum anders zu erwarten, "Die Blechtrommel" ein. An sie knüpft bereits der Titel "Beim Häuten der Zwiebel" an. Ein Kapitel des Romans mit dem Titel "Im Zwiebelkeller" erzählt, wie die Gäste eines Lokals, in dem Oskar mit seiner Trommel aufspielt, durch das Häuten und Schneiden von Zwiebeln zu enthemmtem Weinen gebracht werden. In der Autobiografie referiert Grass diese Romanepisode und fährt fort: "Woraus zu schließen, daß sich vor allen anderen Feld- und Gartenprodukten die Zwiebel für den literarischen Gebrauch eignet. Ob sie Haut nach Haut der Erinnerung auf die Sprünge hilft oder vertrocknete Tränendrüsen erweicht und in Fluß bringt, gleichnishaft ist sie allemal [...]." Außerdem erfährt man als konkretes Detail, dass zwar das Zwiebelhäuten eine Erfindung des Romanautors ist, es aber tatsächlich ein Düsseldorfer Altstadtlokal gegeben hat, in dem Grass als Schlagzeuger aufgetreten ist, allerdings nicht mit einer Trommel, sondern mit einem Waschbrett.

Über die Herkunft der Trommel informiert eine andere Stelle: Anfang der fünfziger Jahre besucht Grass eine Schweizer Freundin, und als er mit deren Familie um den Kaffeetisch sitzt, betritt ein etwa dreijähriger mit einer Kindertrommel behängter Junge das Zimmer und umrundet mehrfach, unentwegt trommelnd und ohne die Erwachsenen zu beachten, die Tischgesellschaft: "Ein Auftritt mit Nachhall, ein Bild das blieb." Und ein instruktives Beispiel dafür, wie Grass Selbsterlebtes in der "Blechtrommel" verarbeitet.

Zahlreiche Stellen mit ähnlichen autobiografischen Aufschlüssen ließen sich anführen. Hier nur noch ein Beispiel von ästhetischer Relevanz: Für seine spätere Frau Anna, die sich zur Tänzerin ausbilden lassen will, entwirft Grass das Libretto einer Tanzszene, in deren Verlauf ein von Polizisten verfolgter junger Mann Zuflucht unter den Röcken einer bäuerlich kostümierten Ballerina findet. "Dieser Entwurf, der nie auf die Bühne fand, wandelte sich später zu erzählender Prosa und brachte mit Sprüngen in Zeitlupe und während pantomimischer Abläufe stummfilmhaft ruckende Bewegung ins erste 'Blechtrommel'-Kapitel."

Der Goethe'sche Titel "Dichtung und Wahrheit" besagt nicht nur, dass Dichtung mit Hilfe der Autobiografie verständlicher gemacht werden soll, sondern er bezieht sich auch auf das nicht immer leicht durchschaubare Verhältnis von Lebenswirklichkeit und Fiktionalität. In seinem "Vorwort" schreibt Goethe, er habe den Stoff halb poetisch, halb historisch behandelt. Ähnliches könnte Grass von sich sagen. Einerseits reflektiert er unermüdlich die Schwierigkeit, ein fremd gewordenes Ich wahrheitsgetreu zu erzählen, und will auf Literarisierung und pointierte Geschichten verzichten; andererseits ist dieser Verzicht halbherzig, und der Erzähler verirrt sich nicht ungern in "fiktionales Gestrüpp", wie u. a. die Gestalt des "Kumpels Joseph" beweist. Mag ja sein, obwohl man es sich schwer vorstellen kann, dass der siebzehnjährige Grass und der gleichaltrige Josef Ratzinger im Kriegsgefangenenlager von Bad Aibling miteinander geknobelt haben. Doch wird die Episode nicht schlicht berichtet, vielmehr zu einem die zweite Hälfte des Buches durchziehenden Leitmotiv stilisiert bis hin zur augenzwinkernd vorgetragenen Pointe: Joseph und ich haben "um die Wette, das heißt, um unsere Zukunft gewürfelt. Ich wollte damals schon Künstler und berühmt, er Bischof und noch mehr, weiß der Teufel was werden. Dabei taten wir so, als sei uns auch Rollentausch möglich. [...] Joseph warf drei Augen mehr. Kann man Pech oder Glück nennen. So wurde ich leider nur Schriftsteller, er aber... Wenn jedoch mir zwei Sechser und ein Fünfer geglückt wäre, dann wäre heute ich und nicht er ...". Hier macht sich die Erzählgegenwart auf Kosten der Vergangenheit breit und zeitigt eine Anekdote, deren Ironie schwerlich das hohe Selbstwertgefühl des Autors und sein Wohlgefallen an der eigenen herausragenden Position verdeckt, wohl auch gar nicht verdecken soll.

Die Frage nach dem Verhältnis von Lebenswirklichkeit und Fiktionalität stellt sich besonders dringlich, weil Grass bereits die "Blechtrommel" mit Selbsterlebtem vollgefüllt hat und nun in seinem Erinnerungsbuch mit seinem Geschöpf Oskar konkurriert. Der Autobiograf, der sich als Romanautor selbst ausgebeutet hat, ist ein "Verwerter von Resten", der sich über "Überbleibsel" freuen muss. Dem "Wanderer" Grass wird "auf seinem Weg und den Umwegen in Richtung Kunst und auf dem schmalen Trampelpfad zwischen Dichtung und Wahrheit immer wieder 'Die Blechtrommel' in die Quere kommen; ein Buch, dessen gestauter Inhalt Schatten warf, bevor er zwischen Deckel gesperrt wurde und alsbald das Laufen lernte." Mit anderen Worten: Es bereitet erhebliche Schwierigkeiten, etwas als authentisch zu vermitteln, was bereits ein knappes halbes Jahrhundert vorher fiktional erzählt und ausgestaltet worden ist und in dieser Form die Erinnerung des Autobiografen überschattet und, muss hinzugefügt werden, die Einstellung des Lesers prägt. Es "ließe sich allenfalls etwas über Dichtung und Wahrheit sagen, wer wem was in den Mund gelegt hat, wer genauer lügt, Oskar oder ich, wem man am Ende glauben soll, was hier wie da fehlt und wer wem die Feder geführt hat."

Obwohl die Fragen detaillierte und sorgsam abwägende Antworten verlangen, darf man trotzdem mit der pauschalen Feststellung vorgreifen, dass Oskar überzeugender lügt, weil durch seine Lügen dürre Fakten bedeutsam und anschaulich werden. Neben ihm verblasst selbst Günter. Nur ein Beispiel: In der Autobiografie lesen wir, daß in der Familie Grass gerne Skat gespielt wird und Grass dieses Spiel von seiner Mutter "abgeguckt" hat, "die leidenschaftlich auf den Skat reizte und dennoch selten verlor". Das würden wir wahrscheinlich nur am Rande zur Kenntnis nehmen oder sogar überlesen, hätten nicht beindruckende Skatszenen in der "Blechtrommel" unsere Aufmerksamkeit geschärft. Oskar unter dem Tisch, an dem seine beiden Väter mit seiner Mutter Skat spielen, die, vom linken Fuß Bronskis zwischen ihren Schenkeln eher animiert als abgelenkt, die riskantesten Spiele gewinnt - das bleibt haften.

Von Grass zur Frühromantik ist ein weiter Sprung. Trotzdem sei er gewagt und an ein Fragment von Novalis erinnert: "Wir leben in einem kolossalen Roman. Betrachtung der Begebenheiten um uns her. Romantische [d. h. romanhafte] Orientierung, Beurteilung und Behandlung des Menschenlebens." Als Grass die "Blechtrommel" schrieb, hätte er dieses Fragment zum Motto wählen können. Als Erzähler hat er sein Leben als "kolossalen Roman" wahrgenommen und gestaltet. Doch ein Autor, der sein Leben einmal an einen Roman vergeben hat, bekommt es für seine Autobiografie nicht ohne weiteres zurück, jedenfalls nicht, wenn der Roman gelungen ist.


Titelbild

Günter Grass: Beim Häuten der Zwiebel.
Steidl Verlag, Göttingen 2006.
479 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3865213308

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