Vererbte Schuld

Hugo Hamiltons Erinnerungen "Der Matrose im Schrank"

Von Anette StührmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anette Stührmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Iren erzählen Geschichten und haben sich dadurch bis heute ihre Identität bewahrt, gegen alle Widerstände, die sie im Laufe der Jahrhunderte erfuhren. Hugo Hamilton ist in Irland geboren und aufgewachsen. Er erzählt seit einigen Jahren seine eigene Geschichte, zuerst in "Gescheckte Menschen" und jetzt in "Der Matrose im Schrank". Aber Hamilton ist auch Deutscher, mit allem, was dazu gehört, einschließlich der Schuldgefühle hinsichtlich der Naziverbrechen.

Die Erziehungsgrundsätze der deutschen Mutter vermitteln, dass ein Mensch die Schuld der Eltern, auch die historische, erbt, er sich seine persönliche Unschuld erst verdienen muss. So wird das Schreiben der Biografie für Hamilton zur Therapie, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen, Unschuld zu erlangen. Es lässt ihn Abstand gewinnen zu der vom strengen irischen Vater regierten Familie, in der alles Englische verboten ist, und in der die Mutter aufgrund ihrer Erlebnisse in Nazideutschland oft wie gelähmt wirkt. Am Ende gelingt es Hamilton, seine Eltern zu verstehen, sich ihnen anzunähern, sich seiner "gescheckten" Herkunft zu stellen: "Es sind keine getrennten Welten mehr, weil meine Geschichte teils deutsch und teils irisch ist und sich beides in mir vereint".

"Der Matrose im Schrank" spürt den Erlebnissen und Gedanken des Dubliner Teenagers nach, der sich seines Deutschseins um jeden Preis entledigen will. Er macht sich unsichtbar, spricht außerhalb des Hauses nur noch englisch, und ist erleichtert, dass er als Sommeraushilfe am Hafen nicht mehr nach seiner Herkunft gefragt wird: "Dies ist der Hafen des Vergessens und des Nie-mehr-Rückschau-Haltens. In diesem Sommer werde ich entkommen und mir meine Unschuld verdienen. Dies ist mein Abschied von der Vergangenheit, mein Abschied vom Krieg und vom Groll."

Der junge Hamilton versucht, unauffällig und genauso wie die anderen zu sein, dazuzugehören. Er will nicht irisch sprechen und weder als Deutscher noch als Kraut oder Nazi bezeichnet werden. Und hat er im ersten Erinnerungsbuch noch seine historische Unschuld verteidigen wollen, akzeptiert er im zweiten Band seine Schuld: "Angeblich kommt man unschuldig auf die Welt, aber das stimmt nicht. Man erbt unfreiwillig alles Mögliche. Man erbt seine Identität, seine Vergangenheit, es sind Geburtsmale, die man nicht abwaschen kann."

Bereits das erste Kapitel ist mit Geschichte und Schuld belastet. In "Gescheckte Menschen" glaubt der irische Junge die Naziidentität, mit der er von Gleichaltrigen beschimpft wird, annehmen zu müssen. Er sieht sich als Adolf Eichmann und trägt dessen Schuld mit sich herum. In "Der Matrose im Schrank" beschreibt Hamilton, wie seine Eltern ihn feierlich zur Seite nehmen und ihm etwas von der Flucht der Mutter und der Demütigung durch britische Besatzer erzählen. Hamilton selber ist hin- und hergerissen zwischen der Erinnerung an die Grausamkeiten der Deutschen und den Schuldzuweisungen des Vaters an die Engländer, die den Iren den Glauben an ihr eigenes Land und ihre Sprache genommen haben. Der Sohn sieht sich aber weniger als Opfer englischer Besatzungspolitik, sondern viel eher als persönlich verantwortlich für die Nazi-Verbrechen. Er solidarisiert sich mit dem Schicksal des Großvaters, der als Matrose auf einem englischen Schiff umgekommen ist und für den sich Hugo Hamiltons Vater schämt, weil er sich nicht für die irische Unabhängigkeit einsetzte.

Hugo Hamilton bleibt in Dublin ein Außenseiter, der zuhause nur deutsch und irisch sprechen darf, dem Hören der Beatles verboten ist und der sich draußen um jeden Preis als englischsprechender Ire gibt. Wie ein Krimineller auf der Flucht wählt er jeden Tag einen anderen Nachhauseweg, findet immer neue Schlupflöcher und versteckt sich vor seiner Herkunft und vermeintlichen Schuld. Auch den Fischern, mit denen er arbeitet, erzählt er nichts von seiner irisch-deutschen Erziehung. Er hofft ihr zu entkommen, indem er sie einfach verleugnet, so wie er seine Mutter verleugnet, als sie ihn einmal an seiner Arbeitsstelle besucht. Er versteckt sich vor ihr, um sich nicht dem Gespött der Kollegen auszusetzen. "Niemand durfte wissen, dass ich eine Deutsche als Mutter hatte, und deshalb löschte ich sie ganz aus meinem Kopf, aus meinem Leben. Die Sprache, die sie gebrauchte, war nicht meine Sprache."

Der Hafen und das Meer sind die einzigen Plätze, an denen er dem Vater, der Mutter, den Problemen zuhause entkommen und seine Vergangenheit vergessen kann. Vom Boot aus sieht es so aus, als wenn die Zeit und die Welt stillstehen. Sogar Baugeräusche hören sich auf dem Wasser wie liebliches Glockenläuten an. Und Hamilton findet an und auf der See endlich so etwas wie Frieden, wenn auch die unerbittlichen Auseinandersetzungen zweier Fischerkollegen ihn immer wieder in die irische Realität zurückholen.

Als Hafenarbeiter tritt er in die Fußstapfen seines Großvaters, dessen britische Matrosenvergangenheit über Jahrzehnte im Kleiderschrank versteckt wird. Hamiltons Vater sieht den nichtirischen Lebensweg seines Vaters als Verrat an und streicht ihn deshalb aus seinem Leben. Genau deshalb, also als Widerstand gegen seinen eigenen Vater, träumt Hugo Hamilton davon, einmal als Matrose die Welt zu bereisen. Der Hafen und die Arbeit in den Sommerferien bedeuten außerdem einen räumlichen Ablösungsprozess von der Familie. Hier hat er Gelegenheit, die "forbidden words" zu sprechen, ohne dass der sonst so allmächtige Vater eingreifen kann. Seine Regeln verlieren außerhalb des Hauses ihre Wirksamkeit. Resigniert nimmt der Vater zur Kenntnis, dass er seinen Traum von der Perfektionierung der irischen Gesellschaft nach dem Vorbild der eigenen Familie nicht verwirklichen kann, sich seine Kinder sogar gegen ihn stellen: "Er weiß, dass er langsam die Macht über mich verliert, doch er kann nichts dagegen tun. Er weiß, dass ich seit Beginn des Sommers täglich zum Hafen gehe, wie jeder andere Englisch spreche und kein treuer Gefolgsmann in seinem Kreuzzug für die irische Sprache mehr bin."

Im Verlauf der Erinnerungshandlung wird deutlich, dass Hugo Hamilton bei aller Kritik am Vater aber auch erkennt, dass er ihm in vielem sehr ähnlich ist. Die Kindheit beider ist von Erfahrungen des Andersseins geprägt. Der Vater wird wegen seines Hinkens und seiner körperlichen Unterlegenheit gehänselt, der Sohn aufgrund seiner deutsch-irischen Herkunft abgelehnt. Und weil sie es beide schwer haben, Freunde zu finden, sind sie dem einzigen Verbündeten um so treuer verpflichtet, leiden um so mehr, als dieser die Freundschaft zeitweilig aufkündigt. Hugo Hamilton sieht außerdem ein, dass er des Vaters Neigung zu plötzlichen Wutausbrüchen geerbt hat. Der Vater wird während einer Auseinandersetzung über irische Tradition und Geschichte so wütend, dass er einen schweren Stuhl nach seinen Mitstudenten wirft. Hugo Hamilton macht es ähnlich. Als er seine Mutter in einem Streitgespräch nicht überzeugen kann, lässt er einen Stuhl durch die Küche fliegen.

Zum einen führt "Der Matrose im Schrank" fort, was "Gescheckte Menschen" angefangen hat. Hamilton erzählt von der Angst, als Deutscher Schuld auf sich geladen zu haben und dass diese Schuld jederzeit entlarvt werden kann. Andererseits ist da der Vater mit seinem irischen Nationalismus, der in seinem rigorosem Verbot der englischen Sprache und mit körperlicher Züchtigung sogar der jüngsten Familienmitglieder ein totalitäres System verteidigt, dem die deutsche Mutter mit der Flucht nach Irland eigentlich hatte entkommen wollen. Dann wiederum gibt es wunderschöne Beschreibungen irischer Landschaft, Tradition und Sprache. Und die Mutter verkörpert ein Deutschland in passivem Widerstand, mit Moral, Anstand, Ehrlichkeit und Gemütlichkeit, das es so wohl nur außerhalb des Heimatlandes geben kann. Hugo Hamilton ist hin- und hergerissen zwischen irischer und deutscher Herkunft, Geschichte und Identität. Sein Ausweg und der neutrale Weg scheint die Identifikation mit dem Großvater zu sein, der als Matrose die Welt von einem britischen Schiff aus gesehen hat, der dem Enkel seinen Namen leiht und ihn seine Bücher auf Englisch schreiben lässt.

Die Lektüre der Erinnerungsfortsetzung lohnt sich allemal. Hat man "Gescheckte Menschen" gelesen, ist der Zwist zwischen deutsch-irischem Anspruch und englischsprachiger Realität nicht mehr neu. Jedoch ist es eine Genugtuung zu sehen, wie der Heranwachsende sich dem Vater nicht mehr bedingungslos ausliefert, wie er sich seine eigene Welt am Hafen mit den Fischern erobert, er die Musikanlage des Vaters "entweiht", um John Lennon und die Beatles zu hören und er den Vater irgendwann dazu bringt, einzugestehen, dass er Unrecht hat. Im letzten Kapitel des Buches, mit der Ankunft in Berlin, hat Hamilton sich endlich befreit: "Nun bin ich dem Kleiderschrank entkommen. Ich habe die Identität meines Großvaters angenommen". So sieht er es selbst. Andererseits muss er seine deutsch-irische Herkunft auch nicht mehr verleugnen und akzeptiert sich am Ende als "gescheckt".


Titelbild

Hugo Hamilton: Der Matrose im Schrank. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Henning Ahrens.
Knaus Verlag, München 2006.
287 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-10: 3813502392

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