Never judge a book by its cover

Nach der Erfolgsserie „Bridgerton“ muss man sich mit Julia Quinns Romanvorlage auseinandersetzen

Von Laura HarffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Harff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Blassrosa oder zartviolett. „Die Verfasserin“ (um es im Stil einer Lady Whistledown zu sagen) kann sich nicht entscheiden, welcher dieser beiden Farben der Einband ihrer neuesten Errungenschaft näherkommt. Jetzt da sie das Taschenbuch nach gefühlten Stunden vor dem Computer endlich in den Händen hält, erscheint ihr die Überlegung wichtig. Ebenso wie die Frage, ob das schwanenhälsige junge Mädchen im Empirekleid, das das Cover ziert, mit ihren langen Handschuhen und der sorgfältigen Hochsteckfrisur, aus der frech ein paar Stirnlöckchen fallen, gerade dabei ist, Klavier zu spielen. Und wenn nicht, warum sie ihre Arme dann in dieser merkwürdigen Pose von sich streckt.

“Never judge a book by its cover”, heißt es. Doch wenn die Verfasserin Julia Quinns The Duke and I (dt. Wie erobert man einen Herzog?) ausnahmsweise doch nach dem Einband beurteilt, fühlt sie sich an Bücher erinnert, die sie vor über 10 Jahren gelesen hat. Und bei denen sie damals schon, im zarten Alter von 12, 13, 14 Jahren, nicht genau wusste, was sie damit anfangen soll.

Warum sie dennoch keine Kosten und Mühen gescheut hat, an diesen ersten von insgesamt acht historischen Liebesromanen heranzukommen, der 20 Jahre nach seinem Erscheinen plötzlich die New York Times Bestsellerliste schmückt und zumindest im Januar in Deutschland überall vergriffen zu sein schien? Ein Wort: Bridgerton-Fieber. 

Mit dieser Serie der US-amerikanischen Erfolgsproduzentin Shonda Rhimes und Showrunner Chris Van Dusen ist dem Online-Streaming-Dienst Netflix ein Erfolg gelungen, den so wohl niemand vorhergesehen hatte: Bridgerton steht derzeit an oberster Stelle der Netflix-Charts in 83 Ländern, 82 Millionen Haushalte sollen die acht Folgen nach der Premiere am ersten Weihnachtsfeiertag bereits (nach der neuen Netflix-Zählung zumindest teilweise) gesehen haben.

Der Plot der Serie bleibt der Romanhandlung in den meisten Zügen treu: Daphne Bridgerton, gerade als Debütantin in die Londoner High Society eingeführt und von Queen Charlotte höchstpersönlich als makellos befunden, sieht sich der schwierigen Aufgabe gegenübergestellt, einen angemessenen Ehemann zu finden. Angemessen nicht nur in den Augen der Gesellschaft und ihres ältesten Bruders und Vormundes, Anthony, sondern auch dem eigenen Wunsch nach einer Liebesheirat entsprechend. Der neue Duke von Hastings, Simon Basset, versucht indessen eine ungezwungene Zeit im London des Jahres 1813 zu verbringen. Zwar fühlt er sich von Daphne, der jüngeren Schwester seines besten Freundes, durchaus körperlich angezogen, nichts steht ihm jedoch ferner als eine Hochzeit. Und so schließen die beiden einen Pakt: Durch das Zur-Schau-Stellen gegenseitiger Zuneigung soll Daphne interessanter für mögliche Verehrer werden und Simon im Gegenzug vor heiratswütigen Müttern und Töchtern beschützt sein.

Über all dem steht die Klatsch-Autorin Lady Whistledown (im Original gesprochen von Mary Poppins-Darstellerin Julie Andrews), die nicht nur alles über jede*n zu wissen scheint, sondern sich auch nicht davor scheut, die vielen kleinen Skandale der High Society-Mitglieder zu veröffentlichen.

Im Buch ist Daphne zwar keineswegs ein Diamant erster Güte wie in der Netflix-Adaption, sondern bereits in ihrer zweiten Saison und nach wie vor ohne Ehemann. Die Queen kommt gar nicht erst vor und auch der preußische Prinz Friedrich, der zwischenzeitlich um Daphnes Aufmerksamkeit buhlt und den Duke damit lehrt, was Eifersucht ist, wurde der Serie hinzugefügt. Ebenso wie das skandalöse Gespräch zwischen Daphne und Simon, in dem letzterer dem unschuldigen Mädchen erklärt, was Selbstbefriedigung ist.  

Indem die Serienmacher Elemente aus späteren Romanen von Quinns Reihe aufnehmen, die sich einzeln auf jedes der acht Bridgerton-Kinder und deren Weg zu wahrer Liebe konzentrieren, lernt man – anders als im Roman – in der ersten Staffel einige weitere Figuren kennen. Insbesondere Daphnes Geschwister Anthony, Benedict, Colin und Eloise (ja, die Namen sind alphabetisch geordnet) und Eloises beste Freundin Penelope Featherington sind hier schon vor ihrer Zeit von Bedeutung. Ein Aspekt, der die Handlung sowohl komplexer als auch interessanter gestaltet.

Auch Lady Whistledown spielt im Roman noch eine untergeordnete Rolle. Die kurzen Ausschnitte aus ihren „Society Papers“ erscheinen hier als kurze Einleitung vor Beginn eines jeden Kapitels; gleichzeitig wird diese „guilty pleasure“, der die Mitglieder der High Society mit einem Abonnement nachgeben – eine Eigenschaft, die sie alle miteinander verbindet –, als Handlungsrahmen verwendet. Schließlich findet sich ein Gespräch über das Klatschblättchen zwischen Daphne und ihrer Mutter im ersten Kapitel, das sich am Ende des Romans in ähnlicher Form zwischen Daphne und Simon wiederholt. In Bezug auf die Identität jener Lady, die am Ende der ersten Staffel bereits aufgedeckt wird, verspricht Band 4 tiefergehende Einblicke. Dessen englischer Titel Romancing Mr. Bridgerton wurde im Deutschen schließlich sicherlich nicht umsonst mit Wer ist Lady Whistledown? übersetzt.

So weit, so einfach. Und dabei nicht unbedingt komplex oder tiefgründig. Doch anders als der Roman, der außer einer kitschig romantischen Liebesgeschichte und amüsanten Wortwechseln leider nicht allzu viel zu bieten hat – insbesondere die Perspektivensprünge innerhalb der Kapitel, manch klischeebehaftete Formulierung und die flache Charakterisierung vieler Figuren haben dabei nicht unbedingt zum Lesegenuss der Verfasserin beigetragen –, weiß Shonda Rhimes‘ Serienhit auf andere Art zu überzeugen.

Da wäre die fantasieweltartige Farbenpracht und extravagante Kostümierung, die man aus Bryan Fullers Pushing Daisies oder Sofia Coppolas Marie Antoinette kennt und die in diesem tristen Corona-Winter gerade richtig kommt. Da wären die vielen Sexszenen, mit denen die neue Dramedy derzeit überall für Schlagzeilen sorgt. (Auch wenn die Autorin sich an dieser Stelle verpflichtet fühlt, anzumerken, dass, obgleich überaus ästhetisch dargestellt, zweiminütiges Rammeln ohne Vorspiel bei Frauen selten zum, noch dazu synchronen, Orgasmus führt.) Und da wäre die wundervolle klassische Musik des Vitamin String Quartets, die den Zeitgeist des frühen 19. Jahrhunderts so perfekt zu unterstreichen scheint. Dass sich hinter den Stücken zum Teil moderne Popsongs, unter anderem von Ariana Grande, Billie Eilish und Taylor Swift, verbergen, fällt dabei manchmal erst auf den zweiten Blick auf.

Erzähltechnisch tritt Bridgerton in die Fußstapfen anderer erfolgreicher Formate, die sich bei den Zuschauer*innen bereits bewährt haben: Es erinnert zugleich an die unzähligen Jane Austen-Romanverfilmungen mit Daphne Bridgerton und Simon Basset als neuem Traumpaar à la Elizabeth Bennet und Mr. Darcy. Aber auch an die US-amerikanische Jugendserie Gossip Girl. Gab es nicht auch in Blair Waldorfs Leben einen Prinzen, der ihren Seelenverwandten Chuck Bass unendlich eifersüchtig gemacht hat? Dabei in Simons Nachnamen Basset einen intertextuellen Verweis auf Chuck Bass zu vermuten, ist dabei zu viel des Guten. Immerhin erschien Quinns erster Bridgerton-Roman ganze sieben Jahre vor Gossip Girl. Lady Whistledowns Abschiedsworte am Ende der ersten Staffel „Yours truly, Lady Whistledown“ (dt. „Hochachtungsvoll, Lady Whistledown“) können hingegen mit hoher Wahrscheinlichkeit als altmodische Variante von „XOXO, Gossip Girl“ verstanden werden.

Dazu kommt ein phantastischer Cast mit zahlreichen, wenn auch nicht vollkommen unbekannten, so doch neuen und frischen Gesichtern, die der Erfolg der Serie zu Weltstars gemacht hat. Darunter neben den Hauptdarstellern Phoebe Dynevor und Regé-Jean Page, der mittlerweile als nächster James Bond im Gespräch ist, auch Nicola Coughlan, die endlich auch außerhalb von Irland die verdiente Aufmerksamkeit erhält.

Es ist diese Besetzung, die – wie man es von sonstigen „Shondaland“-Serien wie Grey’s Anatomy, Scandal und How to get away with murder bereits kennt – divers ausfällt, durch die Bridgerton eine neue Ebene der Komplexität gewinnt. Sie öffnet die Serie für politische Diskussionen, die über die Gender-Thematik einer Jane Austen oder Charlotte Brontë hinausgehen. So wurden Figuren wie der Duke, Simon Basset (Regé-Jean Page), Lady Danbury (Adjoa Andoh) und sogar Queen Charlotte (Golda Rosheuvel) von Rhimes mit People of Colour besetzt. Und die gesamte britische High Society findet das vollkommen normal. Unrealistisch sagen die einen. Brillant, sagt die Verfasserin.

Sie möchte an dieser Stelle an die historischen Gegebenheiten erinnern, nach denen die Ehefrau von George III, Sophie Charlotte zu Mecklenburg Strelitz, tatsächlich die erste Schwarze britische Königin gewesen sein soll. Die Verbindung der beiden als Liebesheirat darzustellen, durch die die gesellschaftlichen Unterschiede aufgrund von Hautfarben überwunden werden konnten, grenzt in ihren Augen an einen Geniestreich.

Um es mit den Worten von Lady Danbury zu sagen: „We were two separate societies, divided by colour until a king fell in love with one of us. Love, your Grace, conquers all.” (dt. „Wir waren zwei verschiedene Gesellschaften, die nach Hautfarbe getrennt waren, bis sich ein König in eine von uns verliebte. Die Liebe, Euer Gnaden, siegt über alles.)

Auch das Thema Feminismus spielt in der Serie eine größere Rolle als im Roman, obwohl sich die weibliche Hauptfigur auch in Quinns Vorbild durchaus selbst zu verteidigen weiß. So wehrt sie sich mit einem gezielten Schlag ins Gesicht, als ihr Verehrer Nigel Berbrooke ihr zu aufdringlich wird. Und auch der Duke trägt zwischenzeitlich ein Veilchen davon. Doch während Daphne zwar erkennt, dass der einzige Wert einer Frau im Heiraten und Kinderkriegen liegt, ist sie mit dieser ihr auferlegten Rolle überwiegend zufrieden, solange die Ehe aus Zuneigung oder Liebe geschieht.

Vielmehr ist es ihre jüngere Schwester Eloise, die in der Netflix-Adaption als moderne junge Frau auftritt und sich mehr vom Leben erhofft. Sie beschwert sich darüber, dass Männer in Frauen nur „dekorative Objekte“ sehen, sehnt sich danach, zu studieren, ist besessen davon, herauszufinden, wer Lady Whistledown ist und raucht: Dabei fallen Sätze wie “Once she’s married, her life is over.” (dt. Ist sie erst einmal verheiratet, ist das Leben der Ärmsten vorbei.“) und „Whistledown is a woman, therefore she has nothing, and still she writes. You’re a man, therefore you have everything. You are able to do whatever you want. So do it.” (“Whistledown ist eine Frau, und daher hat sie nichts. Und dennoch schreibt sie. Du bist ein Mann, daher hast du alles. Du kannst tun und lassen, was du willst. Also tu es auch. Fass dir ein Herz.“)

Insbesondere die Unwissenheit, in der die Mädchen gehalten werden bezüglich jeglicher Sexualität wirkt dabei auf den ersten Blick komisch, auf den zweiten ziemlich erschreckend (wobei in geringerem Ausmaß als die an Vergewaltigung grenzende Szene in Folge 6). Daphne, Eloise, Penelope und Co. wissen weder, woher Kinder kommen, noch, welche Aktivitäten sie in der Hochzeitsnacht zu erwarten haben. Derweil stoßen sich die Männer an den Opernsängerinnen, Schneiderinnen und Prostituierten – alle Angehörige der mittleren und unteren Schichten – die Hörner ab.

Am Ende lautet das Erfolgsrezept der neuen Netflix-Serie: Der leichte Stoff eines typischen historischen Liebesromans mit einer unschuldigen Protagonistin und einem geheimnisvollen unberechenbaren Protagonisten, gepaart mit der nötigen Menge nackter Haut, popkulturellen Bezügen zu moderner Musik und bewährten Film- und Serienformaten und eine kleine, leicht verdauliche Portion Gesellschaftskritik und Politik, mit denen die Gender- und Race-Debatten angeregt werden können.

Wird die Serie die Welt verändern? Nein. Einen wichtigen Beitrag leistet sie dennoch und die kürzliche Nichtbeachtung bei den diesjährigen Golden-Globe-Nominierungen trägt nach Meinung dieser Verfasserin dazu noch bei, statt ihn infrage zu stellen. Und obwohl das kleine Buch mit dem kitschigen Einband sicher nie einen besonderen Platz im Herzen der Verfasserin einnehmen wird, so wird sie es dennoch in Ehren halten. Ein unscheinbares Vorbild mit offensichtlich großem Potenzial, wenn es ihm gelungen ist, eine solche Serie zu inspirieren.

Titelbild

Julia Quinn: Bridgerton – Der Duke und ich.
Aus dem amerikanischen Englisch von Suzanna Shabani.
HarperCollins Publishers, New York 2021.
400 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783749902484

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Titelbild

Julia Quinn: The Duke and I. A Bridgerton Family Novel.
Piatkus, London 2006.
339 Seiten, 8,99 EUR.
ISBN-10: 0749936576
ISBN-13: 9780749936570

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