Theodor Fontane – ein preußischer Spion?

Gabriele Radecke und Robert Rauh berichten über „Fontanes Kriegsgefangenschaft“

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mitten im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 geriet der Berliner Theaterkritiker Theodor Fontane auf einer Exkursion als Journalist in Kriegsgefangenschaft. Anschließend präsentierte er in Kriegsgefangen stilisierte, literarisch verdichtete Momentaufnahmen, in denen Dichtung und Wahrheit eng verwoben sind. Anders aber als auf seinen Streifzügen durch die Mark Brandenburg oder bei seinen Reisen nach Großbritannien sammelte Fontane hier, auch jenseits von Havel und Spree unterwegs, bedrückende Erfahrungen in Kriegszeiten. Das Abenteuer endete glücklich: „Nach einer wochenlangen Odyssee durch Frankreichs Gefängnisse – von Lothringen bis zum Atlantik – kehrte der Dichter im Dezember 1870 als freier Mann nach Preußen zurück.“ Der Spionage verdächtigt, wurde er verhaftet und vor ein Kriegsgericht gestellt. Gabriele Radecke und Robert Rauh berichten von ihrer Spurensuche und von den Stationen seiner Gefangenschaft.

Handelte es sich bei der Festnahme um einen Irrtum? Bereits die „erste Nacht in einer Zelle voller Ratten ließ ihn daran zweifeln“. Auch weil die „lokale Militärbehörde“ sich für unzuständig hielt, wurde sein Fall nicht gelöst, der Häftling immer weitergereicht an die nächste Instanz. In der Zitadelle von Besançon wartete er auf die Entscheidung des Kriegsgerichts. Zu seinen Fürsprechern gehörte Otto von Bismarck. Der Kanzler des Norddeutschen Bundes wurde mitten im Krieg tätig, schrieb an den US-amerikanischen Botschafter in Paris und setzte sich energisch für die Freilassung des „harmlosen Gelehrten“ ein – der anscheinend in einem von Deutschen besetzten Gebiet entführt worden sei. Bismarck behauptete allerlei, was nicht ganz stimmte, legte aber Washburne nahe, dass – sollte Fontane nicht umgehend freigelassen werden – einige Franzosen, also „eine gewisse Anzahl von Personen in ähnlicher Lebensstellung“, verhaftet und „als Geiseln nach Deutschland“ gebracht würden.

Zwar strotzte „Bismarcks Note“ vor Ungenauigkeiten, aber sie war wirkungsvoll: „Fontane war gerade nicht in einem von deutschen Truppen besetzten Gebiet verhaftet worden und am 29. Oktober auch nicht mehr in Lebensgefahr, sondern trat gerade seine Irrfahrt durch Frankreich an. Andererseits wurde Fontane, der weder promoviert noch Gelehrter war, vom Kanzleramt vermutlich bewusst als Wissenschaftler ausgegeben, um die Bedeutung des Falls herauszustreichen.“ Die französische Regierung wusste, dass Fontane zumindest kein Offizier, der gegen einen Kriegsgefangenen der Gegenseite hätte ausgetauscht werden können, sondern ein Kriegsberichterstatter war, und empfahl Bismarck genau das zu tun, was dieser angedroht hatte: „Es wäre zweckmäßig, in der Gegend, wo Fontane festgenommen war, »drei angesehene französische Bürger als Geiseln« zu verhaften und nach Deutschland abzuführen.“

So skurril dies von ferne anmutet – war Fontane, der Theaterkritiker, nicht vielleicht doch ein Spion? Ließ sich das beweisen? In den französischen Unterlagen wird aus dem ehemaligen Apotheker ein Naturhistoriker, studiert zudem. Mit einer „Ehrenwort-Erklärung“ konnte Fontane wenig später in die Freiheit zurückkehren. Sein Buch Kriegsgefangen folgt einem „poetischen Konzept“ – nicht unerwartet –, die literarische Stilisierung mag durchaus der Verarbeitung der Ereignisse in Frankreich gedient haben. Zur Entschlüsselung und Aufdeckung der Geschehnisse tragen Gabriele Radecke und Robert Rauh vor allem dadurch bei, dass sie auch unveröffentlichtes Material hinzuziehen, wozu Briefe, Notizbücher und auch amtliche Dokumente gehören. Mit dem Bericht selbst erhielt Fontane, 1871 erstmals publiziert, zudem eine „bis dahin nicht gekannte mediale Aufmerksamkeit“.

1870 waren nach der Niederlage und Kapitulation der französischen Armee bei Sedan 10.000 Soldaten in Gefangenschaft genommen worden. In Paris wurde die Dritte Republik ausgerufen, aber der Krieg dauerte fort, und ein Waffenstillstand war noch nicht in Sicht:

Da die französische Armee aufgrund von Tod, Desertion und Gefangennahme dezimiert war, setzte die provisorische Regierung nun auf die Mobilisierung der Bevölkerung – mit antideutscher, stellenweise hasserfüllter Propaganda sowie der massenhaften Einberufung wehrfähiger Männer, die im Schnellverfahren ausgebildet und bewaffnet wurden.

Der Deutsch-Französische Krieg wurde zu einem „enthemmten Volkskrieg“. Doch die preußische Armee marschierte Richtung Paris, und der „Kriegsjournalist Fontane“ brach am 27. September 1870 nach Frankreich auf: „Dass Fontane mit Legitimationspapieren des preußischen Kriegsministeriums im Gepäck und einer Rot-Kreuz-Armbinde ausgestattet war, konnte Emilie nur ein schwacher Trost sein.“ Am 5. Oktober geriet er in Gefangenschaft. Ein Reichtum an Betrachtungen über französische Dörfer, „geschichtsträchtige Stätten“ und Landstriche war zuvor entstanden. Vor dem Denkmal von Jeanne d’Arc nahm „Fontanes Fahrt“ dann ein „jähes Ende“ – er wurde verhaftet. Der „Jeanne-d’Arc-Tourist“ plauderte gern, vielleicht zu viel, als er den Dorfbewohnern von Domrémy „seine Mission“ erläuterte und zufällig von nicht mehr ganz nüchternen Gasthausbesuchern seine Waffen entdeckt wurden.

Fontane also, der vermeintliche Spion, wurde umgehend in Gewahrsam genommen. Im Gefängnis erwarteten ihn Ratten. Gefangentransporte wurden von den Franzosen mit üblen Tiraden und Beschimpfungen begleitet. Die Obrigkeit schützte Fontane und hielt ihn für einen Offizier. Er durfte Briefe schreiben. Doch die Angst wurde ein ständiger Begleiter: „Die Ankündigung, morgen werde über sein Schicksal entschieden, schoss Fontane immer wieder durch den Kopf.“ Der skeptische Protestant fing sogar zu beten an. Er wurde schließlich in die Zitadelle von Besançon überführt.

Emilie ahnte zu der Zeit, dass etwas mit ihrem Mann nicht stimmen musste, ein Brief hatte sie bis dahin nicht erreicht. Aber wenig später liefen in Preußen die „Rettungsaktivitäten auf Hochtouren“ und auch der Erzbischofs von Besançon, Kardinal Mathieu, bemühte sich auf seine Weise sehr. Währenddessen wurde Fontane vom Vorwurf der Spionage freigesprochen, ausreisen durfte er trotzdem nicht: „Für die französische Armeeführung stellte der Kriegsjournalist ein Sicherheitsrisiko dar und konnte daher nicht aus der Gefangenschaft entlassen werden. Das Urteil entpuppte sich als ein Freispruch zweiter Klasse.“

Am 23. oder 24. Oktober 1870 hatte das Gericht gesprochen. Freigelassen wurde er erst Ende November, zuvor fand ein erneuter Ortswechsel statt – auf die Atlantikinsel Oléron. Von diesem Haftaufenthalt schwärmte Fontane in seinem Bericht buchstäblich. Am 20. November, vielleicht aufgrund von Bismarcks Intervention, möglicherweise aber auch auf Fürsprache des Erzbischofs von Besançon oder begünstigt durch andere stille Vermittler, endete die Haftzeit. Der Heimkehrer Theodor Fontane galt als „Medienstar“ in den Zeitungen, sein wenig später publiziertes Buch Kriegsgefangen war zwar erfolgreich, ein Bestseller aber nicht.

Zahlreiche Details zu Fontanes Zeit im Deutsch-Französischen Krieg bietet diese kleine Studie, die Gabriele Radecke und Robert Rauh vorgelegt haben. Das Buch ist stilgerecht erzählt und sorgfältig recherchiert. Auch wer wenig von Theodor Fontane, seinen Werken und seiner Zeit Kenntnis hat, wird mit Gewinn darin lesen.

Titelbild

Gabriele Radecke / Robert Rauh: Fontanes Kriegsgefangenschaft. Wie der Dichter in Frankreich dem Tod entging.
be.bra verlag, Berlin 2020.
192 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783861247401

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