Der Traum vom Digitalen als Inbegriff des Banalen

Thomas Ramge entwirft in „Postdigital“ ein optimistisches Zukunftszenario einer postdigitalen Gesellschaft

Von Jens LiebichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Liebich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was haben Aldous Huxley, George Orwell und Thomas Ramge gemein? Ohne einem dieser Herren zu nahe treten zu wollen, lässt sich sagen: Nicht viel. Und genau dies ist so erfreulich!

Wenn sich Autoren mit der Zukunft ihrer Gesellschaft beschäftigen, überwiegen zumindest im 20. Jahrhundert die düsteren Szenarien, was angesichts der geschichtlichen Ereignisse jener Zeit nicht überrascht. Während Huxley und Orwell sich in ihren dystopischen Romanen auf die Darstellung totalitärer (Welt-)Regierungen sowie das Leben der konditionierten, manipulierten und kontrollierten Bürger und Bürgerinnen konzentrieren, spannt Ramge in seinem unterhaltsam geschriebenen Sachbuch Postdigital einen sehr weiten Bogen: Nach einer technologischen Bestandsaufnahme von KI-Technologie skizziert der Autor zunächst potentielle wirtschaftliche, soziale und politische Bedrohungen durch Künstliche Intelligenz, um anschließend ein optimistisches Szenario für das Jahr 2030 – das postdigitale Zeitalter – zu entwerfen. Typisch ist dieser Optimismus zwar auch für das noch junge 21. Jahrhundert nicht, aber gerade deswegen sind Ramges Ausführungen lesens- und bedenkenswert.

Die Digitalisierung verändert unsere Lebensweise in einem Ausmaß und mit einer unumkehrbaren Radikalität, die wohl nur mit der industriellen Revolution vergleichbar ist – oder genauer: vergleichbar war. Denn angesichts der in kürzester Zeit vollzogenen und sich bereits abzeichnenden technischen Entwicklungen, übertreffen die zu erwartenden und tief in unser Handeln, unser Leben, ja in unser Selbstverständnis eingreifenden technischen Veränderungen alles bisher Gekannte. Ramge nennt drei Felder der radikalen Transformation:

1. „Soziale Beziehungen und digitale Assistenz“. Dazu zählt der Autor die exzessiv genutzten sozialen Medien und Messenger-Apps, die unsere Art und Weise der Kommunikation und unser Verabredungsverhalten fundamental verändern. Algorithmen und Suchfilter der Online-Dating-Plattformen bestimmen zunehmend, wen der moderne Single kennenlernt, dem es an analogen Möglichkeiten fehlt. Und auf amerikanischen und chinesischen Online-Marktplätzen wird gekauft, verkauft und ersteigert.

2. „Wirtschaft und Arbeit“. Gehörte 1990 noch IBM als einziges IT-Unternehmen zu den zehn wertvollsten Unternehmen der Welt, ist es inzwischen aus der obersten Liga verdrängt worden, doch dafür stehen mit Microsoft, Amazon, Apple, Alphabet, Facebook, Alibaba und Tencent gleich sieben IT-Giganten auf den vordersten zehn Plätzen. Kurzum: Die ökonomische Macht verschiebt sich. Weg von Banken, Ölkonzernen und Industrie, hin zu „digitalen Superstars“. Das Geheimnis ihrer wirtschaftlichen Erfolge beruht „auf ihrer Fähigkeit, Plattformen mit Netzwerkeffekten zu schaffen“. Selbst konventionelle Unternehmen sind dem Digitalisierungsdruck erlegen und müssen – um einen Vorteil vor der globalen Konkurrenz zu haben – „jeden einzelnen Unternehmensprozess mit digitalen Mitteln schneller, effizienter, präziser, günstiger, innovativer, energiesparender“ gestalten. Dies hat wiederum Konsequenzen für die Mitarbeiter, von denen immer höhere Flexibilität gefordert wird, wodurch die Grenzen von Arbeit und Freizeit bspw. im Homeoffice weiter aufgelöst werden.

3. „Politischer Diskurs und politische Systeme“. Das Internet sei zweifelsfrei das „partizipativste Medium der Menschheitsgeschichte“, so dass – wie Ramge beschreibt – Vordenker des Digitalen zu Beginn der 90er Jahre glaubten, „je mehr digitaler Diskurs, desto besser für die Demokratie“. Der Autor führt an, dass zwar mithilfe von Twitter, Facebook und YouTube während des kurzen Aufblühens des Arabischen Frühlings Autokraten zu Fall gebracht wurden, doch gibt zu bedenken, dass letztlich Populisten und Antidemokraten weltweit die sozialen Netzwerke intensiver, gar intelligenter nutzen würden. Seien es russische Botfabriken, die US-Wahlen beeinflussen, oder digitale Überwachungstechnologien, mit denen Autokraten ihre Macht festigen.

Neben der Bewusstmachung von Leistungen und Möglichkeiten sowie Abhängigkeiten und Gefahren durch KI widmet sich der Autor umfänglich einem Positiv-Szenario, welches den für mich interessantesten Teil des Buches darstellt. Mittels eines Online-Fragebogens präsentierte Ramge seine „28 Thesen zur sinnvollen Nutzung von KI in Europa im Jahr 2030“ 60 ausgewählten Digitalisierungsexperten, die ihrerseits jede These hinsichtlich ihrer Wahrscheinlichkeit sowie – wenn sie vollumfänglich zutrifft – ihrer Wirksamkeit auf einer Skala von eins bis zehn bewerteten. Es lohnt sich, diesen Fragebogen, der im Buch abgedruckt ist, selbst nach bestem Wissen, Gewissen und mit bester Vorstellungskraft zu beantworten, denn gerade im Sinnieren über die Möglichkeiten von KI in einer nicht mehr allzu fernen Zukunft (und in Anbetracht der beeindruckenden Lernkurve, die die KI-Technologie in den letzten Jahren erreichte und die von Ramge zu Beginn des Buches mit anschaulichen Beispielen skizziert wird), beginnt man selbst als Digitalisierungslaie, die Komplexität und das Gewicht zentraler Fragen zu verstehen. Die Ergebnisse dieser Umfrage wurden anschließend in einem Workshop vom Autor mit zwölf Experten unter drei konkreten Fragestellungen reflektiert: 1. „Welche KI-basierten Anwendungen würdet ihr euch in rund 10 Jahren wünschen?“ 2. „An welchen technischen oder sozialen Weggabelungen könnte sich entscheiden, ob Künstliche Intelligenz eine progressive Kraft entfaltet?“ 3. „Und wie könnte deutsche Politik oder europäische Regulierung dazu beitragen, dass ein optimistisches Zukunftsbild für Europa im Jahr 2030 wahrscheinlicher wird?“ An diesen Fragen zeigt sich stellvertretend eine der Stärken des Buches: Ramge imaginiert keine von Realität und Wahrscheinlichkeit losgelösten Science-Fiction-Szenarien, sondern leitet von bereits bestehenden Technologien und Forschungen naheliegende Einsatzgebiete und Entwicklungen ab, die stets an Alltagsbeispielen verdeutlicht werden.

In dem mit „MyAI – wie KI individuelle Entscheidungsfindung verbessert, Wohlstand mehrt und Demokratie stärkt“ überschriebenen Abschnitt beschreibt der Autor einen fiktiven Alltag aus dem Jahr 2030. Durch die gewählte Ich-Perspektive wird die Identifikation erleichtert und – ganz wie von Ramge beabsichtigt – kann die Leserin bzw. der Leser ohne große Hürden in die digitale Zukunft gedanklich eintauchen. Dort fungiert die KI als privater Assistent des Menschen, der nicht im Auftrag von Großkonzernen Daten über seine Nutzer absaugt, die anschließend weiterveräußert werden, sondern – und dies ist der große Unterschied – ohne kommerzielle Falltüren tatsächlich im Interesse der Anwender agiert. In der Gesellschaft des Jahres 2020 scheint dies kaum vorstellbar (nicht mehr oder noch nicht?); ein resignierendes Schmunzeln huscht vielleicht über das Gesicht, gefolgt von achselzuckender Ernüchterung. Doch Ramge geht eben von einem „postdigitalen Menschen“ aus, der verstanden hat, „dass sein Gehirn nicht mit den vielen Reizen umgehen kann, denen es durch das Smartphone ausgesetzt ist“, und der „die Kulturtechnik der mentalen Autonomie“ erlernt hat, so dass im „postdigitalen Zeitalter das Digitale der Inbegriff von Banalität“ ist.

Voraussetzung für diese postdigitale Zukunft – und nun gehen wir ein paar Jahrhunderte zurück – ist jedoch der aufgeklärte und mündige Mensch. Ramges Zukunftsvisionen sind in vielerlei Hinsicht wünschenswert und wohl theoretisch in naher Zukunft umsetzbar – doch dazu bräuchte es neben digitaler Mündigkeit und Medienkompetenz sowie der Akzeptanz von KI im intimstem Umfeld der Nutzer auch ethische Prinzipien für Künstliche Intelligenz und die Tech-Großkonzerne müssten das Wohl des Einzelnen über ungezügelte Profitinteressen stellen. Möglich ist es natürlich – und doch klingt es jetzt wieder ein wenig nach Science-Fiction.

Titelbild

Thomas Ramge: Postdigital. Wie wir Künstliche Intelligenz schlauer machen, ohne uns von ihr bevormunden zu lassen.
Murmann Verlag, Hamburg 2020.
200 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783867746465

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