Empire im Untergang

In Simon Ravens Militärsatire „Blast nun zum Rückzug“ endet die britische Kolonialherrschaft über Indien mit skurrilen Abenteuern von Offiziersschülern

Von Steffen KrautzigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Steffen Krautzig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Roman beginnt mit einer sonderbaren Episode: Damit englische Offiziersanwärter ein kurzzeitig vor Ägypten liegendes Truppenschiff nicht verlassen, holen die Vorgesetzten zur Unterhaltung einen lokalen Gaukler an Bord, dessen Zaubertricks natürlich grandios schiefgehen. Die Soldaten sind im November 1945, also kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, unterwegs zur Ausbildung nach Indien. Wie sich im Laufe des Textes herausstellen wird, gehören sie damit zu den letzten Vertretern der britischen Kolonialherrschaft in Indien, die zwei Jahre später offiziell endete. Auch der Romantitel Blast nun zum Rückzug nimmt auf diesen historischen Zeitpunkt Bezug. Setting und Personal haben also einen realen Hintergrund, die einzelnen Episoden sind hingegen nicht realistisch, sondern skurril, manchmal komplett absurd – aber genau dieser offensichtliche Widerspruch steigert den Lesespaß beträchtlich.

Im letzten Jahr begann der Berliner Elfenbein Verlag mit der Herausgabe von Simon Ravens (1927–2001) zehnteiligen Romanzyklus Almosen fürs Vergessen, zuletzt erschien Die Sebelschwadron. Der Verlag entschied sich, die Erstübersetzungen ins Deutsche entsprechend der Romanhandlung chronologisch zu veröffentlichen, obwohl die Romane auch einzeln und in anderer Reihenfolge gelesen werden können. Mit Blast nun zum Rückzug, das englische Original Sound the Retreat stammt aus dem Jahr 1971, ist jetzt der dritte Band auf Deutsch erschienen. Spätestens wenn im Herbst 2024 der Zyklus abgeschlossen sein soll, wird die Veröffentlichungsreihenfolge aber keine Rolle mehr spielen.

Einzelne Figuren tauchen in den unterschiedlichen Bänden immer wieder auf. So spielte zum Beispiel der Offiziersschüler Peter Morrison im Band Fielding Gray eine wichtige Nebenrolle als Freund des Titelhelden und erzählte diesem am Ende des Romans von seinem Vorhaben, sich nach Indien versetzen zu lassen. Für die Handlungen der ersten drei Romane haben solche Übergänge keine große Relevanz, auch wenn (sehr aufmerksame) Leserinnen und Leser im Laufe der Zeit einzelne Charaktere in anderen Situationen und aus anderen Blickwinkeln kennenlernen können: Fielding Gray erzählt aus der Ich-Perspektive über seinen Freund und in Blast nun zum Rückzug berichtet ein auktorialer Erzähler vor allem über Peter.
Zusammen mit seinen Kameraden Barry und Alister erlebt Peter in Indien die Absurditäten und den täglichen Wahnsinn des Militäralltags. Den schnellen Aufstieg zum
Junior Under Officer habe er offenbar vor allem seinem großen, verlässlichen Gesicht zu verdanken, so der Erzähler. Über die Modernisierung von Ausbildungsinhalten wird noch diskutiert, etwa ob die Handhabung des Stocks weiterhin eingeübt werden soll. Und wenn ein einflußreicher Hauptmann sich dann auch noch darüber auslässt, warum er sich in der Ausbildung nicht so gern mit Panzern beschäftigen möchte, sagt dies eigentlich alles über den desolaten Zustand der Truppe aus. Im Lauf der Geschichte haben die Kameraden dann außerdem noch mit Geschlechtskrankheiten, Verdauungsbeschwerden und dem tropischen Klima zu kämpfen – Erzählanlässe gibt es für Simon Raven, der selbst als Offiziersanwärter in Indien war, also mehr als genug.

Eine weitere Hauptfigur ist der muslimische Hauptmann Gilzai Khan, dessen Kompanie die drei Freunde zugeordnet werden. Anfängliche Konflikte beseitigt er während der Beerdigungsfeier eines nach Genuss eines Orangenbaisertörtchens verstorbenen Kameraden auf besondere Weise: Es kommt zu einer ausführlich geschilderten Orgie mit mehreren von ihm angeheuerten Prostituierten. Wenn schon die Eingangszene mit dem ägyptischen Zauberer einigermaßen skurril war, so ist diese Szene überdreht absurd, voll von sexistischen Klischees und männlichen Wunschvorstellungen („Die Mädchen gehorchten ihm mit so offensichtlichem Enthusiasmus, dass sie um sich herum eine fast greifbare Aura der Lust verströmten […]“). Noch beobachtet Peter das Treiben seiner Kameraden, ein paar Seiten später beginnt er selbst eine Affäre mit einer Prostituierten, die kurz darauf seine Karriere gefährdet. Hauptmann Khan indes desertiert angesichts des bevorstehenden Abzugs der Engländer und lockt diese in eine Falle. Intrigen, Affären, (sexuelle) Abenteuer, dazu immer wieder Anspielungen auf die realen britisch-indischen Beziehungen oder die Konflikte zwischen Hindus und Muslimen im Land – Simon Raven bietet eine sehr ungewöhnliche, kontrastreiche Mischung zwischen Fiktion und Fakten.

Aus heutiger Sicht ist der kolonial geprägte Blick auf Figuren und Themen ganz sicher kritisch zu hinterfragen. Doch Raven ist ein cleverer Autor, lässt meistens Raum für Interpretationen. Ein das indische Kastensystem erläuternder Major beendet seine Bemerkung mit: „Jedenfalls hat man mir das selbst so beigebracht, als ich selbst noch in der Offiziersausbildung war, es kann aber sein, dass das inzwischen nicht mehr gilt.“ Der Autor arbeitet mit doppelten Ebenen, reproduziert zwar Klischees und Vorurteile gegenüber der Bevölkerung, stellt sie aber oft auch gleich wieder in Frage. Peters Kamerad Alister, nicht der Erzähler, äußert sich zum Beispiel in wörtlicher Rede häufiger islamophob, erst nach der Orgie mit Khan lässt er davon ab. Ein anderes Beispiel für das Hinterfragen von Stereotypen: Als der Besitzer eines chinesischen Restaurants vorgestellt wird, fällt Peter dessen unbewegliches, künstliches Grinsen auf und er erkennt, dass der Restaurantchef eigentlich genug von den dauernden Erpressungen der Engländer hat.

Ob entlarvende Gesellschaftssatire oder trashige Militärklamotte ist sicher auch eine Geschmacksfrage, genau wie Orangenbaisertörtchen.

Titelbild

Simon Raven: Blast nun zum Rückzug.
Aus dem Englischen von Sabine Franke.
Elfenbein Verlag, Berlin 2021.
264 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783961600168

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