Späte Doppelgängerin

Der Debütroman „Ein französischer Sommer“ von Francesca Reece enthüllt in virtuoser Sprache die Lebenslüge eines zynischen Schriftstellers

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn die preisgekrönte irische Jugendbuchautorin Louise O’Neill die aus Wales stammende Schriftstellerin Francesca Reece als „a devastatingly compelling new voice in literary fiction“ bezeichnet, dann will man deren Debütroman Ein französischer Sommer lesen und rezensieren. 

Aus Mainz kommt die Zusage für das Buch; inzwischen kann man sich im Internet nach dem Original umsehen. Doch kein Suchdienst findet „A French summer“ oder „A summer in France“. Nur Voyeur. Nanu? Ein knackiger Originaltitel und ein fader deutscher? Man kennt das anders: Entweder bleibt der englische Titel unverändert, was manch deutschen Leser stört. Sogar neuerfundene englische Titel sind vorgekommen. Oder ein nüchterner Originaltitel wird im Deutschen marktschreierisch aufgemotzt. Das Urteil in diesem Fall muss warten.

Die digitale Welt bewährt sich – für nicht mal vier Euro landet das E-Book binnen Sekunden im Computer.

Gleich auf der ersten Seite vergleicht die Autorin ein Pariser Stadtmagazin mit

the leery expat landlord who would offer a rent reduction if you happened to be into reflexology

Als die deutsche Fassung eintrifft, gilt der erste Blick dieser Passage. Die Übersetzung von Juliane Gräbener-Müller und Tobias Schnettler erweist sich als so solide wie später die des gesamten Buchs:

der argwöhnische Vermieter, der einem Expat eine geringere Miete anbot, wenn man sich zufällig mit Reflexzonenmassage auskannte

Vielleicht wäre wenn der deutlicher als wenn man. Wichtiger ist die richtige Deutung, dass der Vermieter kein Expat ist, sondern einer für Expats, also im Ausland lebende Menschen.

Im Roman wechseln sich zwei Personen als Icherzähler ab. Da ist zunächst die Engländerin Leah, reichlich 20, in Paris. Beim Studium im London der Klassendünkel hatte sich die Tochter einer Grundschullehrerin und eines Forstarbeiters als Landpomeranze empfunden. Der musealen französischen Hauptstadt nähert sie sich als Londonerin. Sie entdeckt den Sex und ihren Mangel an Ehrgeiz, lebt von einem Erasmus-Stipendium und von Gelegenheitsjobs, schreibt eifrig Tagebuch und liest viel. So wird glaubhaft, dass sie den kühnen Vergleich des Stadtmagazins mit einem Vermieter formuliert und immer wieder mit bildhafter Sprache beeindruckt. Im Stadtmagazin liest sie das Inserat eines Schriftstellers namens Michael, der eine Hilfskraft für Archivarbeit und Recherche sucht. „Assistentin eines Schriftstellers“ – das wäre sozialer Aufstieg und gut für das Selbstwertgefühl! Doch der Job, das erfährt sie am Telefon, ist vergeben.

Ist er nicht. Als der Schriftsteller Michael Young, Autor des berühmten Romans Richards Fall, als zweiter Icherzähler eingeführt wird, erfährt der Leser, warum Leah die Stelle bekommt: Sie erinnert ihn bei einer Zufallsbegegnung zwingend an seine Jugendliebe Astrid.

Die kaum glaubhafte Ähnlichkeit, bei deren Anblick sich Michael Young in seine Vergangenheit ins London der Sechzigerjahre zurückversetzt fühlt, erweist sich als Konstruktionsfehler des Romans. Leah ist als Hauptperson zu uninteressant und kann weder zur Partnerin noch zur Gegenspielerin des Schriftstellers werden. Seine Schreibblockade allerdings wird er durch die Begegnung mit ihr los.

Es sei hier nicht aufgezählt, was Leah in Paris und später in einer Sommervilla an der Küste mit dem Schriftsteller und seiner Familie erlebt. Auch ihre Liebesabenteuer sind nicht der Rede wert. Sobald es jedoch nicht um ihre Person, sondern ums Milieu geht, entstehen pralle sinnliche Bilder.

Michael Youngs Erinnerungen reichen Jahrzehnte zurück. Er hatte viele Affären, aber Astrid war seine große Liebe. Leah soll seine Tagebücher aus jener bewegten Londoner Zeit ordnen und transkribieren. Sekundenlang wird sie für ihn zu Astrid, so dass er meint, seine Vergangenheit berühren zu können. Früh deutet sich an, dass dies keine harmlose romantische Schwärmerei ist. Als Young bei einer lichtumstrahlten Erscheinung Astrids eine lähmende Übelkeit spürt, ahnt man schwarze Schatten der Vergangenheit. Wenig später verliert man die letzten Illusionen über das Innenleben des Schriftstellers: „Billiges Stück Scheiße, dachte ich: das Handy und meine Frau.“  Und als jemand mit Bezug auf Astrid sagt, es sei alles nicht seine Schuld, weiß er es besser: „Aber natürlich war es das – es war alles meine Schuld.“

Etwa ab der Mitte des Romans rückt ein gewisser Julian in den Vordergrund. Er war ein Studienfreund Michaels und hat fast fünfzig Jahre nichts mehr aus Kalifornien von sich hören lassen.

Astrid war damals in Michaels Londoner Wohnung eingezogen. In der Bar, in der sie kellnerte, trat sie auch als Sängerin auf und wurde von Talentscouts entdeckt. Doch die waren ihr egal, für sie zählte nur Michael. Darum ging sie mit ihm nach Griechenland, obwohl dort die Militärdiktatur herrschte. Julian hatte gemeint, Ausländer seien dort nicht gefährdet.

Als Leah alle Tagebücher abgetippt hat, betritt Julian den Schauplatz. Er weiß, dass Michael nur von ihm erfahren kann, was mit Astrid geschehen ist. Nach eigenem Schuldbekenntnis ließ Michael die Hochschwangere in Griechenland sitzen. Julian bestätigt diese Version, solange Michael nicht nach Astrid sucht. In Wahrheit geriet Astrid in die Fänge der griechischen Geheimpolizei, weil Michael leichtfertig mit einem Spitzel über sie geredet hat. Später wurden Astrid und ihre Tochter von Julian in Sicherheit gebracht. Im letzten Satz enthüllt der Schriftsteller noch einmal seine krankhafte Ichbezogenheit. Auf die Frage, ob sein neuer Roman ihn zum Liebling der extremen Rechten machen könne, antwortet er: „Ich glaube, das halte ich aus.“

Die Kälte dieses narzisstischen Schriftstellers ist schwer auszuhalten; mit seinem Zynismus ist der Mann widerlicher als jeder Schläger oder Säufer. Es ist mutig von Francesca Reece, eine Hauptfigur tiefschwarz zu zeichnen. Das entspricht ihrer Überzeugung, dass die Literatur auch verstörende Geschichten braucht. Dramatische Konflikte braucht sie ebenfalls. Man hätte sich gewünscht, dass die Spannung zwischen Michael und Leah so knistert wie zwischen Michael und Julian.

Ist diese Debütantin tatsächlich eine wichtige neue Stimme in der Literatur? Eindeutig ja. Ihre Kurzgeschichte So Long Sarajevo/They Miss You So, gewann den Desperate Literature Prize des Jahres 2019 und befreite ihr mehrfach abgelehntes Romanmanuskript aus der Schublade, in der es seit 2016 lag. Von dieser sprachlich virtuosen Autorin darf man noch viel Gutes erwarten.

Der deutsche Romantitel ist übrigens akzeptabel. Mit dem Originaltitel Voyeur war keineswegs ein Spanner gemeint, sondern die Tatsache, dass der männliche Blick auf die Frauen allzu oft auch deren Selbstverständnis prägt.

Titelbild

Francesca Reece: Ein französischer Sommer. Roman.
Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller und Tobias Schnettler.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2022.
448 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783103970685

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