Die Juweleninsel

Ingvild Richardsen begibt sich auf die Spuren vergessener Künstlerinnen von Frauenchiemsee

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anfang der 1970er Jahre besang die Supergroup Crosby, Stills, Nash & Young während eines Live-Konzerts 100.000 Inseln, die sich wie in die See gestreute Juwelen ausnehmen. An die bayrischen Seen und ihre Inseln haben die vier Herren dabei sicher nicht gedacht. Doch hat auch der Freistaat ein kleines Eiland zu bieten, das von Ferne wie ein Juwel wirkt – sogar eines „ganz besonderer Art“, wenn man Ingvild Richardsen Glauben schenkt.

Und es gibt keinen Grund, an ihren Worten zu zweifeln. Denn sie redet von der kleinen, im Chiemsee gelegenen Fraueninsel. Im gleichnamigen Buch folgt Richardsen den „Spuren der vergessenen Künstlerinnen von Frauenchiemsee“, wie die Insel auch genannt wird, die im 19. Jahrhundert eine der „bedeutendsten“ Künstlerkolonien des gesamten europäischen Kontinents vorzuweisen hatte. Anders als die Maler der Kolonie sind die Künstlerinnen heute allerdings weithin vergessen. Dies zu ändern, ist Richardsen mit dem vorliegenden Band nicht zum ersten Mal angetreten. So hat sie in den letzten Jahren bereits literarische Werke der mit der Insel verbundenen Schriftstellerinnen Carry Brachvogel und Emma Haushofer-Merk neu aufgelegt.

In Die Fraueninsel stellt sie insgesamt vier „freundschaftlich eng miteinander verbundene“ Malerinnen und Schriftstellerinnen vor, die entweder längere Zeit auf der Insel residierten oder sich zumindest immer wieder dort aufhielten. Dabei lässt sie die vier Literatinnen, unter denen sich auch Haushofer-Merk und Brachvogel befinden, selbst ausführlich zu Wort kommen. Hinzu treten diesmal Haushofer-Merks Stieftochter Marie Haushofer und Eva Gräfin von Baudissin. Das Quartett „wahrer Kennerinnen der Fraueninsel“ ist in dem Band mit Novellen, Erzählungen, Essays, Zeitungsartikeln und Gedichten vertreten, die allesamt auf die eine oder andere Weise von der Insel erzählen. Dass ihre Verfasserinnen, wie Richardsen sagt, zu ihrer Zeit als Autorinnen „ersten Ranges“ galten, können die Texte allerdings nicht in jedem Fall rechtfertigen.

Der Band ist in vier Hauptkapitel unterteilt, die sich jeweils einer der Frauen widmen und von Richardsen mit Einführungen in deren Leben und Werk eingeleitet werden. Darüber hinaus hat die Herausgeberin zu jedem der Texte der vier Autorinnen einen kommentierenden und erläuternden Begleittext beigegeben, der insbesondere auf die Literarisierung der Fraueninsel fokussiert und sie mit den Verhältnissen vergleicht, die dort um 1900 tatsächlich herrschten. Richardsen beleuchtet beispielsweise den „Inselzauber und die Künstler“, die auf der Insel geführte Künstlerchronik und „Frauenchiemsees Vergangenheit“. Außerdem führt sie ein Interview zur Geschichte der Fischerei auf dem Chiemsee. Gelegentlich begibt sie sich auf unsicheres Terrain. Etwa, wenn sie meint, Epigenetik sei „der Ansicht, dass nicht die Gene den Menschen zu dem machen, was er ist, sondern seine gesellschaftliche Umgebung und prägende Erfahrungen“. Abgerundet wird der Band durch einen umfangreichen, teils farbigen Bildteil, der mit Ex libris, Aquarellen, Zeichnungen, Fotografien und Ähnlichem aufwartet. Hervorzuheben sind die Abbildungen aus der im 19. und 20. Jahrhundert über etliche Jahrzehnte hinweg geführten „Künstlerchronik“ und einige Aquarelle Marie Haushofers.

Im Zentrum des Buches stehen die 1897 erschienenen Chiemseenovellen von Haushofer-Merk, deren Autorin Richardsen zufolge „schon damals den Typ der emanzipierten Frau, wie wir sie heute kennen“, verkörpert habe. Das ist allerdings schon aufgrund der geänderten Zeitumstände nur schwer denkbar. Auch widerspricht dem, dass Haushofer-Merk ungeachtet ihrer eigenen sehr erfolgreichen literarischen Tätigkeit „der Ruhm und die Anerkennung für die Werke ihres Mannes Max Haushofer über alles“ gingen, wie die Verfasserin nicht etwa kritisch, sondern mit anerkennendem Unterton anmerkt.

Haushofer-Merk war eine der Aktivistinnen der damaligen Frauenbewegung und Mitbegründerin des Münchner Vereins für Fraueninteressen und Frauenarbeit, in dessen Vorstand sie mehrere Jahre saß. Interessant ist auch der Umstand, dass sie Ende des 19. Jahrhunderts über dem berühmten Foto-Atelier Elvira wohnte, das von den beiden radikalen Frauenrechtlerinnen Anita Augspurg und Sophia Gouldsticker betrieben wurde. 1908 trat Haushofer-Merk dem Nationalliberalen Verein bei. Ein halbes Jahrzehnt später initiierte sie gemeinsam mit Brachvogel die Gründung des  Münchner Schriftstellerinnenvereins. Doch schon 1914 beendete sie mit Ausbruchs des Ersten Weltkriegs ihre Vereinstätigkeit, um, wie sie sagte, „Kriegshilfe“ zu leisten. Als der Krieg jedoch anders verlief als von ihr erhofft, kritisierte sie ihn als Folge der „Männerkultur“ des deutschen „Männerstaates“.

In Haushofer-Merks Chiemseenovellen findet sich wenig von ihrem frauenrechtlerischen Engagement oder ihrem emanzipierten Lebenswandel. Vielmehr „hält Emma schöpferisch ihre sommerlichen Eindrücke auf der Fraueninsel fest“, wobei die Natur schon einmal das Innere der Figuren widerspiegeln oder gar gravierend in das Geschehen eingreifen kann.

Protagonistin der Novelle Das Klosterkind ist nicht etwa die Titelfigur. In ihrem Zentrum stehen vielmehr drei Frauen Mitte bis Ende 20, die sich um das Kind gruppieren. Sie repräsentieren drei Frauentypen in deren aristotelischer Mitte die, wenn nicht ideale, so doch einzig positiv gezeichnete Frauenfigur steht. Da ist zunächst einmal die leibliche Mutter des Kindes, die sich wegen einer Amour fou von ihrer Tochter abwendet, dann eine Angestellte namens Lisbeth und schließlich deren Brotgeberin, die eigentliche Protagonistin Johanna. Lisbeth lebt ihr Leben ganz für andere, zumal für Kind und Mann, auch wenn es (noch) nicht ihre eigenen sind. Johanna wiederum wird von ihren Geschlechtsgenossinnen kritisch als „emanzipiert“ apostrophiert, weil sie auf eigenen Füßen steht und weder von Kindern noch von der Liebe etwas hören will. Das ändert sich im Laufe der Handlung allerdings gehörig. Zuerst verliert sie ihr Herz an das Kind und dann an einen Mann. Sonderlich emanzipatorisch ist das alles nicht. Immerhin verwirft die Novelle die in völliger Selbstaufgabe mündende Hingabe der Frau an einen Mann. Ihm „ein Stück […] Freiheit opfern“ aber ist völlig in Ordnung.

In der zweiten Novelle Treulos stehen sich eine Heilige und eine Femme fatale gegenüber. Anders als für Liebesgeschichten üblich endet sie immerhin nicht am Tag der Hochzeit. Vielmehr beginnt das eigentliche Geschehen erst mit der Ehe. In Ein Inseltag wiederum ist die zentrale Männerfigur der Protagonistin haushoch überlegen, wird ihr Lehrer und wohl auch ihr Geliebter. Das Höchste, was eine begabte und kluge Frau erreichen kann, ist ein Doktortitel, der sie befähigt, als Assistentin ihres Mannes tätig zu werden. Alles in allem sind Haushofer-Merks Chiemseenovellen somit bestenfalls mäßig emanzipatorisch.

Ähnlich wie Haushofer-Merk wird auch Brachvogel von Richardsen als „ungewöhnlich moderne und emanzipierte Frau ihrer Zeit“ vorgestellt. Sie ist mit einem Auszug aus ihrem biografischen Text über Max Haushofer sowie mit kurzen Beiträgen über die Künstlerchronik der Insel und Frauenchiemsees Vergangenheit vertreten. Brachvogel erlitt das gleiche Schicksal wie so ziemlich alle bedeutenden LiteratInnen Deutschlands dieser Zeit, deren Werk – und oft auch ihr Leben – von den NationalsozialistInnen ausgelöscht wurde. Sie selbst wurde im KZ Theresienstadt zu Tode gebracht.

Von Baudissin wiederum ist mit einem der Fraueninsel gewidmeten Auszug aus ihrem Text Holidays in Bavaria sowie mit dem Emma und Max Haushofer gedenkenden Essay Die Insel der Toten vertreten. Bedeutender als ihre Arbeiten zur Fraueninsel aber ist, dass die Frauenrechtlerin ein auf Gleichberechtigung zielendes Ehekonzept entwickelte. Von Marie Haushofer wurde neben einigen Aquarellen im Bildteil nur das kurze Gedicht Allerseelen 1902 aufgenommen.

Das nach Haushofer-Merk und Brachvogel nun auch die anderen Frauen langsam dem Vergessen entrissen werden, ist nicht zuletzt ein Verdienst Ingvild Richardsens. Zudem liegt mit dem Band ein schönes und informatives Büchlein über die Fraueninsel, ihre Künstlerkolonie und eben ihrer Malerinnen und Schriftstellerinnen vor.

Titelbild

Ingvild Richardsen: Die Fraueninsel. Auf den Spuren der vergessenen Künstlerinnen von Frauenchiemsee.
Volk Verlag, München 2017.
362 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783862222223

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