Auch in der Literatur Exportweltmeister?

Sandra Richter wagt sich an eine internationale Geschichte deutschsprachiger Literatur vom Mittelalter bis heute

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einbändige Geschichten der deutschen Literatur haben es schwer. Sie müssen die Materialfülle aus über 1000 Jahren Textproduktion auswerten, ordnen, kondensieren, zudem aufschlussreiche Entwicklungslinien aufspüren. Meist werden Literaturgeschichten (besonders die umfangreicheren mehrbändigen) nicht mehr solistisch verfasst, sondern von Spezialisten für die einzelnen Epochen. Seit den von diversen Verlagen produzierten vielbändigen Geschichtswerken, die Literaturgeschichte eingebettet in Sozialgeschichte darstellten, ist ein Vierteljahrhundert vergangen. Seither gab es trotz oder wegen der häufig wechselnden Forschungsparadigmen (Dekonstruktion, Kulturgeschichte, Systemtheorie, Gender Studies, Emotional Turn, EcoCriticism, New Economic Criticism, Mediengeschichte…) hierzulande kaum mehr Versuche integrativer Literaturgeschichtsschreibung. Der wichtigste Ansatz war wohl David Wellberys A New History of German Literature, der 2004 die Grundkategorien der deutschen Literaturgeschichte nicht mehr als gegeben voraussetzte. Vielmehr sollte jeder seiner circa 100 Autoren in seinem einer Jahreszahl und meist einem Text oder einem Ereignis gewidmeten essayistischen Artikel ultrahistoristisch die Grundkategorien problematisieren und mithin die Fragen stellen: Was ist hier deutsch, was ist hier (in welchem Sinne) historisch und welches Konzept von Literatur/Medialität wird in diesem Jahr erkennbar?

Nun hat sich die Stuttgarter Germanistin Sandra Richter, die bald die Leitung des Marbacher Literaturarchivs (des wichtigsten Schatzkastens der deutschen Literatur) übernehmen wird, einer absolut relevanten, doch tendenziell kaum lösbaren Aufgabe gestellt. In einem Band soll hier nicht nur eine Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart erzählt werden, sondern eine Weltgeschichte der deutschen Literatur. Ihr Ziel ist eine Geschichte der weltweiten Wirkungen und Aufnahmen der deutschen Literatur. Diese Blickrichtung ist originell und in Zeiten der Globalisierung von kaum bestreitbarer Bedeutsamkeit. Statt einfach chronologisch wichtige Texte vorzustellen oder national-rezeptionsästhetisch ihre Aufnahme und Fortschreibung im Rahmen der deutschsprachigen Literaturgeschichte nachzuzeichnen, folgt Richter den ferneren, viel seltener erforschten Spuren deutscher Literatur durch die Welt. Das setzt nicht nur gründliche Kenntnis der deutschen Literatur voraus, sondern eben auch Kenntnisse vieler (möglichst aller wichtigen – aber nach welchen Kriterien ließe sich diese Wichtigkeitsrangfolge erstellen?) Literaturen der Welt; oder doch zumindest der Übersetzungen, Rezeptionen und Anverwandlungen deutscher Literaturexporte.

Diesen Horizont überschaut wohl kaum ein Mensch, noch weniger ein noch keineswegs alter wie Sandra Richter. Die Grundprobleme der Literaturgeschichtsschreibung, Selektion (Kanonisierung) und narrative Verknüpfung der als bedeutend ausgewählten literarischen Ereignisse, stellen sich hier in potenzierter Form. Im Hinblick auf die drei Grundkategorien zeigt sich Richter undogmatisch, flexibel: Deutsche Literatur ist für sie seit den mittelalterlichen Anfängen in internationale Austauschprozesse eingebettet. An Medien kommt (ohne strengere Ordnung) so ziemlich alles gelegentlich in den Blick, natürlich viele Texte, aber auch Bilder, Filme, Musikstücke, ja sogar eine Lotte-Schokolade als japanische Ausprägung der Werther-Begeisterung. Geschichtlichkeit wird neben der chronologischen Gesamtanlage der Kapitel in verschiedensten Artikulationsweisen vorgestellt: mal als Aufnahme historischer Ereignisse, Themen oder Figuren, mal als biografische Verstrickung von Autoren in die Geschichtsläufe, mal als die Frage nach den spezifischen historischen Konstellationen der Aufnahme deutscher Texte anderswo – exemplarisch hierfür wieder die späte Werther-Rezeption in Modernisierungsschüben in Japan, China oder der arabischen Welt.

Verraten wir, bevor wir uns einzelne Entscheidungen und Schwerpunkte von Richters Weltgeschichte der deutschen Literatur anschauen, dass dieses Buch (wie sollte es anders sein) einige Lücken und Seltsamkeiten aufweist, aber letztlich mehr noch durch erstaunliche Funde glänzt. Richters Weltgeschichte ist so ambitioniert wie fragwürdig. Und daher unbedingt lesenswert und eine sehr willkommene Provokation für die germanistische Fachöffentlichkeit wie für ein weiteres Lesepublikum. Denn sie orientiert sich am in weltbürgerlicher Hinsicht unabweisbaren Gesichtspunkt der internationalen Beziehungen, die von deutscher Textproduktion und deutschem Literaturexport gestiftet wurden.

Wie nun wählt Richter aus dem Gewimmel aus Millionen von Texten und Abertausenden von Autoren aus bald 1300 Jahren deutscher Literatur aus? Und wie gewichtet sie? Einen theoretischen Rahmen bilden 15 Seiten am Anfang mit Überlegungen und historischen Exkursen zum Begriff der Weltliteratur und zur Rolle von Übersetzungen. Schluss macht sie nach knapp 500 Seiten mit 25 Thesen über ‚literarische Zivilisation‘, in denen versucht wird, einige Gesetzmäßigkeiten internationaler literarischer Austauschprozesse festzuhalten. Wobei erneut die Funktionen von Übersetzern hervorgehoben werden, zudem eine Vorherrschaft des globalen Nordens für den internationalen Literaturbetrieb bemerkt und auf die Rolle fiktiver Figuren (Faust, Eulenspiegel, Werther, Winnetou und andere mehr) als weltweit attraktive Anziehungspole für identifikatorische oder distanzierende Lektüren hingewiesen wird. Auch markante Autorfiguren (Johann Wolfgang von Goethe, Franz Kafka, Bertolt Brecht, Thomas Bernhard) befeuern internationale Aufmerksamkeit. Dabei finden manche Textgattungen als Exportgut offenbar einfacher ihre Leser als andere. Romane schaffen es tendenziell am besten über die Grenzen, Dramen gelegentlich und Lyrik nur selten. Richters 25 Thesen am Buchende bieten heuristisch anregende Perspektiven für weitere Forschungen zu internationalen Rezeptionsprozessen; sie haben freilich die eigenen Ausführungen der Verfasserin nicht durchweg geleitet, wie die Platzierung am Ende indiziert. Den Thesen folgen zwei Dutzend Weltkarten mit Übersetzungsvektoren zur Verbreitung zentraler Werke sowie 200 Seiten mit Anmerkungen und Literaturverzeichnis, die das wissenschaftliche Forschungsfundament dieser Weltgeschichte ausweisen. Ein willkommenes Namensregister beschließt das Buch, welches durch diese Apparate zum gut handhabbaren Arbeitswerkzeug wird.

Der chronologische Durchgang beginnt mit fünf knappen Seiten der Nicht-Mediävistin über die mittelalterliche deutsche Literatur und ihre Rezeptionen. Auf 40 Seiten wird hochselektiv das internationale Interesse an einigen Texten der Frühen Neuzeit von 1450-1700 verhandelt: Das Narrativ vom Narrenschiff schaffte es bis in die Moderne, Hans Jakob Christoffel Grimmelshausens Simplicissismus-Schelmenroman hingegen wurde im Deutschen vielfach adaptiert, erreichte aber erst im 20. Jahrhundert Übersetzungen in europäische Sprachen. Religiöse Hymnen deutscher Siedler in Amerika gediehen innerhalb (überschaubarer) Glaubenskreise vom 17. bis ins 19. Jahrhundert. 45 Seiten gelten den Aufklärungsjahren 1680 bis 1770, wobei hier neben Johann Christoph Gottsched, Albrecht von Haller, Christian Fürchtegott Gellert und Friedrich Gottlieb Klopstock vor allem Salomon Gessners Bestseller Abels Tod, sodann das bis heute andauernde weltweite Rezeptionsschicksal von Lessings Nathan der Weise im Mittelpunkt stehen.

Ausführlich wie keine anderen Texte werden Goethes Werther und Faust als nachhaltige Exportschlager bis in chinesische und japanische Anverwandlungen verfolgt. Gewiss ist die Goethe-Rezeption weltweit merklich gründlicher erforscht als jene weniger kanonischer Autoren. So zeigt Richter auf 25 Seiten zum Werther, die bis zur Entdeckung von „Lotte-Schokoladen“ in Japan ausschweifen und 30 Seiten zur Faust-Rezeption, die jenseits der bekannteren europäischen oder amerikanischen Adaptationen auf jüdische, brasilianische, arabische, türkische und schließlich chinesische Faust-Konjunkturen hinweisen, wie eine weltweite Rezeptionsgeschichte deutscher Literatur zu erstaunlichen Anverwandlungen führte. Ignoriert zugunsten der weltweiten Rezeption werden deutschsprachige (letztlich literarisch wohl oft überlegene) Faust-Fortschreibungen von Nikolaus Lenau und Friedrich Theodor Vischer bis zu Volker Brauns sozialistischem Faust (in seinem Hinze und Kunze-Drama) oder Robert Menasses (Dr. Hoechst) und Elfriede Jelineks österreichische Faust-Anverwandlungen.

Die beiden Goethe-Hits dominieren Richters Kapitel 1770-1830. Sie marginalisieren Friedrich Schillers Räuber (die eines der ersten in die Kunstsprache Esperanto übertragenen Werke waren) und Christoph Martin Wielands Weltliteratur-Begeisterung. Ergänzungen zur ausführlich dargelegten Goethe-Rezeption finden sich neuerlich beim Hinweis auf die Dichter-Gesellschaften, die seit dem späten 19. Jahrhundert vielerorts aufblühten. So warteten in New York 1875 neben dem späteren US-Präsidenten Theodore Roosevelt und anderen Honoratioren 8000 Menschen auf die Ankunft jener Goethe-Büste, die vom prominent besetzten doch kurzlebigen Goethe Club of the City of New York geordert worden war.

Madame de Staëls wirkmächtiges Deutschland-Buch De l’Allemagne wird zwar halbwegs ausführlich beleuchtet, doch wird hier weniger die Rezeptionsgeschichte des französischen Schlüsselbuches nachgezeichnet, vielmehr die faszinierende Autorin portraitiert – wobei Richter deren Hauslehrer durcheinander geraten, August Wilhelm Schlegel wirkte als solcher, Wilhelm von Humboldt nicht.

Das die Jahre 1830-1890 umspannende Kapitel steht unter der Überschrift „Ideale, wirkliche und fremde Welten“ und beginnt mit einem kleinen Abriss der Auslandsgermanistik, also der universitären Beschäftigung mit deutscher Literatur und Sprache. Richter referiert hier vor allem zu England und den USA, zudem zu Thailand. Ein thailändischer Herrschersohn studierte seit 1905 jahrelang in Heidelberg erst Kameralistik, dann Philosophie, und baute daran orientiert nach seiner Rückkehr 1914 das heimische Hochschulsystem auf. Hier wie an manch anderer idiosynkratischer Gewichtung könnte man monieren, dass Zufallsfunden geschuldete Aspekte gelegentlich andere, objektiv wirkmächtigere Export- und Rezeptionsprozesse überlagern. So wäre etwa die (in dieser Weltgeschichte fehlende) Entwicklung der französischen oder italienischen Germanistik im Hinblick auf weltgeschichtliche Austauschprozesse der deutschsprachigen Literatur wichtiger gewesen als Kuriositätenfunde wie der Katalogauszug aus der bis heute in Thailand erhaltenen Handbibliothek des Prinzen, die letztlich doch recht typische Buchbestände der Jahrhundertwende aufweist.

Neben dem projektiven Rückgriff auf germanische Vorfahren faszinierte seit dem 19. Jahrhundert auch der Exotismus der guten Wilden. Dies führte zu wirkmächtigen Indianer-Bildern bei Karl May aber auch bei Charles Sidon/Sealsfield, der, wie Richter verrät, seinen übersetzten Buchausgaben teilweise divergierende Plotrichtungen in Bezug auf das Verhältnis von Weißen und Native Americans gab: das deutsche Lesepublikum wurde bedient mit weißer Herrschaft statt der Versöhnung der Ethnien, wie er sie in den amerikanischen Originalausgaben imaginierte. Festzustellen ist allerdings, dass Sandra Richter schon bei ihrer Verhandlung dieser exotistisch erzählenden Autoren wie auf ihren fünf Seiten über Kolonialromane und Kolonialreiseberichte ganz auf den welthaltigen, interkulturellen Inhalt dieser Texte abhebt, mithin kaum mehr auf deren internationale Rezeption eingeht. Diese Texte fanden weltweit kaum Leser; sie schufen und adressierten deutschnationale Überlegenheitstopoi.

Unter der Hand verwandelt sich diese Weltgeschichte etwa ab 1850 und dann immer stärker von der angekündigten Rezeptionsgeschichte deutscher Autoren und literarischer Werke zu einer Geschichte der interkulturellen Weltläufigkeit von Emigrierten oder forciert Exilierten. Das Kapitel, das die Jahre von Faschismus und Exil verhandelt („Heimat als Nazi-Land, Muttersprache als Feindessprache 1930-1960“), bezieht die 1950er Jahre gleich mit ein und zeigt Kontinuitäten gerade bei Exilschriftstellern. Wobei es eben vorrangig um ihre Lebenslagen, Werk und Ideen geht, weit weniger um ihre (wohl meist dürftige) internationale Rezeption. Ein weithin rezipierter Autor wie Friedrich Dürrenmatt fällt dabei unter den Tisch.

Die zweite Hälfte des Buchs gerät also tendenziell zu einer Revue jener Plots und Problemlagen, die in Lebensverläufen und Texten von migrantischen Autoren anzutreffen sind. Das wird faktenreich und oftmals geradezu anekdotisch-süffig dargeboten. Doch zeigen sich hier zwei unterschiedliche Perspektiven auf Internationalität oder Weltgeschichtlichkeit, über deren Wechsel nur en passant Rechenschaft abgelegt wird, wenn es heißt, dass die Rezeptionsgeschichte von Hans Magnus Enzensbergers Buch Tumult „sich heute noch nicht schreiben“ lasse.

Nächst den beiden Goethe‘schen Meisterwerken wird Franz Kafkas weltweite Rezeption aus guten Gründen auf 13 Seiten am ausführlichsten bedacht. Eine historische Fehlverortung, die sich in einer Neuauflage leicht beheben lässt, betrifft Hans Mayer, der anlässlich seines 1980 auf dem Pekinger Kafka-Symposium gehaltenen Vortrags als „Doyen der DDR-Germanistik“ bezeichnet wird. Mayer war zwar von 1948 bis 1963 eine Art Doyen der DDR-Germanistik; doch lebte er nach Schwierigkeiten mit der DDR Staatsmacht seit 1963 in Tübingen und lehrte an der Universität Hannover. Zur Zeit seines Pekinger Kafka-Vortrags war er eine bedeutende Stimme im Westen, wenngleich eher ein berühmter Außenseiter (wie ein wichtiges Buch von ihm betitelt ist) als eine Führungs- oder Machtfigur. Zwar bleibt ein solcher Sachfehler in diesem gewaltigen Wurf über 1000 Jahre internationaler Literaturentwicklung leider nicht die absolute Ausnahme, wie man mit Verweis auf Maike Albaths Kritik (im Deutschlandfunk) an verzerrten Darstellungen von biografischen Eckpunkten bei Paul Celan und Heinrich Böll konstatieren muss. Doch im Großen und Ganzen ist dieses zweifellos mutige und riskante Weltrezeptionsbuch, das eine Orientierungslücke der Literaturgeschichtsschreibung schließt und erfrischende Perspektiven weist, doch geglückt und lesenswert. Das Allermeiste wirkt gründlich recherchiert und mit Fußnotenheeren abgesichert.

Überraschender als die im 20. Jahrhundert ubiquitären Kafka-Konjunkturen sind Exkurse zu sogenannten Sandalenfilme der 1960er Jahre. Die griffen unter anderem auf Felix Dahns Ende des 19. Jahrhunderts international viel gelesene Erfolgsschmonzette Kampf um Rom zurück.  Der Gartenlaube-Autor Dahn malte darin aus, wie Germanenvölker das römische Imperium besiegten. Viel Erregendes wird erzählt etwa über die Biografien von Schriftstellern wie Klara Blum, die ihrem Kommunismus und der Liebe zu Männern nach Russland und China folgte, oder den multiplen Dissidenten Arthur Koestler. Doch kommt der Niederschlag ihrer internationalen Lebensstationen in den Werken dieser Autoren nur mehr arg knapp zur Darstellung und ihre transnationale Rezeption eigentlich gar nicht mehr. So wird auch bei Celan ausführlich und überzeugend seine Selbstübersetzung für seine Frau Gisèle Celan-Lestrange kommentiert, zudem der Entstehungsprozess der gemeinsamen Künstlerbücher mit der Grafikerin beschrieben. Die weltweite breite Celan-Rezeption wird nicht verhandelt, nur kurz bemerkt, dass seine schwer zu übersetzenden lyrischen Werke zu den meist übersetzten des 20. Jahrhunderts zählen.

Zu den originellen, gleichsam am eigentlichen Kanon vorbei argumentierenden Funden dieser Weltgeschichte zählt der gewählte Fokus auf den Nobelpreisträger Elias Canetti. (Nebenbei bemerkt sind Nobelpreise im Hinblick auf die internationale Rezeption von Autoren die wohl absolut wirkmächtigsten Verteilungs- und Übersetzungsvektoren, was Richter bei Herta Müller und Günter Grass beiläufig bemerkt, während sie auf Elfriede Jelinek überraschenderweise erst gar nicht eingeht; ob das persönlichen Präferenzen geschuldet ist oder der vermutlich tatsächlich geringeren internationalen Ausstrahlung Jelineks, darüber können wir nur mutmaßen.) Von Canetti wird hier das große, wirkmächtige Frühwerk Die Blendung kurz besprochen, seine bedeutenden autobiografischen Bände Die gerettete Zunge werden hingegen kaum erwähnt. Stattdessen steht im Mittelpunkt von Richters Canetti-Portrait sein postumes, bislang international weit weniger rezipiertes, charakterologische Memoiren-Werk Party im Blitz. Natürlich ist auch Canettis von Richter skizziertes Londoner Szene-Bild fraglos amüsant. Es verlässt jedoch den Leitgedanken einer weltweiten Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der deutschsprachigen Literatur zugunsten eines Mäanderns durch welthaltige Texte. Deren Auswahl erscheint bei aller zugestandenen Problematik der Kanonisierung von gegenwartsnahen Texten nicht durchgehend nachvollziehbar.

Trefflicher wirken die Ausführungen zum Aufbau-Verlag als zentralem Publikationsort der DDR. An dessen Geschichte wird deutlich, wie heikel die Integration von Remigranten wie Wieland Herzfelde ablief, wie der ostdeutsche Import von Weltliteratur und dann auch die Literaturexportbemühungen der DDR vor allem in östliche, kommunistische Länder funktionierten. Günter Grass Blechtrommel wird kenntlich als ein mustergültig transnationales Produkt der westdeutschen Nachkriegsliteratur: geschrieben in Paris, spielend in den im Krieg verlorenen deutsch-polnischen Ostgebieten, mittlerweile in 55 Sprachen übersetzt. Die Verfilmung durch Volker Schlöndorff erhielt in Cannes die Goldene Palme und in den USA einen Oscar. Wobei die Rezeption keineswegs reibungslos verlief, wie Filmverbote (wegen Pornografie) in den USA und Kanada noch in den 1990ern ebenso indizieren wie Übersetzungen im Ostblock, die jeweils verfängliche Passagen einfach ausließen.

Selbstverständlich sind Richters Hinweis auf Verfilmungen, Comic-Adaptationen (von Faust bis zu Stefan Zweigs Exil in Brasilien) oder Popmusik-Exporte als Erweiterung des Literarturbegriffs allemal zu begrüßen. Freilich möchte man anhand des Musikbeispiels Zweifel anmelden. So mag das Marble Index-Album des singenden Top-Models Nico mit seinem Song Nibelungen von 1968 vielleicht ein faszinierendes Produkt der transnationalen deutschen Kulturgeschichte sein. Allerdings blieb dieses Album, wie Richter selbst schreibt, von „Kritikern nur am Rande beachtet und kommerziell erfolglos.“ Hier wäre doch die gewiss weit wirkmächtigere internationale Rezeption von Bands wie Kraftwerk und anderen Krautrockern, später dann der Einstürzenden Neubauten (mit Exporthilfen durch die Goethe-Institute) oder von Rammstein zu würdigen als allesamt bedeutsamere Ereignisse einer Weltgeschichte der deutschen Literatur. Unter den international weithin und nachhaltig rezipierten Autoren des späten 20. Jahrhundert kommen bei Richter zumindest Peter Handke und Heiner Müller zu kurz.

Ihre Fokusverschiebung bei der zeitgenössischen Gegenwartsliteratur von deren Rezeption zur Welthaltigkeit dieser Texte betreibt Richter vielfach mit knappen, umsichtigen Lektüre-Referaten. Zu Recht stellt sie wichtige Autoren der aktuellen postmigrantischen Literaturszene ins Zentrum. Doch wüsste man eben auch gerne, ob und wie intensiv denn Feridun Zaimoglu, Terezia Mora oder Yoko Tawada übersetzt, in ihren Herkunftsländern oder anderen Ländern (etwa den USA oder Frankreich) wahrgenommen, rezipiert oder gar weiterverarbeitet werden. Richter schließt mit dem Werk eines französischen Zeitgenossen, dem Goncourt-Preisträger Roman Kompass von Mathias Enard,  dessen Abrechnung mit Goethe und Polemik gegen dessen West-Östlichen Diwan ein pointiertes Gegengewicht zur breit dargelegten weltweiten Goethe-Verehrung darstellt.

Richter ist sich des Risikos und der unvermeidlichen Verkürzungen ihres Weltgeschichtsprojekts stetig bewusst; so hat sie es wie einst Hans Ulrich Gumbrecht mit (s)einer Geschichte der spanischen Literatur und Wellbery mit A New History of German Literature auch gleich mit dem unbestimmten Artikel überschrieben. Wir halten nun eine, in vielem originelle, gelegentlich überraschende Seitenpfade aufsuchende, weithin recht informative Weltgeschichte der deutschen Literatur in den Händen. Die definitive, gar erschöpfende Weltgeschichte der deutschen Literatur kann und will dieser eine Band nicht sein. Doch er macht Lust auf mehr, regt zum Denken und Suchen an und öffnet den Blick in die Welt. Und das ist doch allemal mehr als man von den meisten Publikationen zu einzelnen Autoren, Texten oder Episoden der deutschen Literaturgeschichte behaupten kann.

Titelbild

Sandra Richter: Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur.
C. Bertelsmann Verlag, München 2017.
728 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783570101513

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