Von der Intensivstation des Lebens
„Vatermal“ von Necati Öziri ist ein Roman über Söhne, die ihre Väter nicht kannten
Von Frank Riedel
Nach den Mutter-Sohn-Beziehungen der neuesten deutsch-türkischen Literatur über die Erfahrungen der Gastarbeiter:innengeneration, wie etwa in Dinçer Güçyeters autofiktionalem Roman Unser Deutschlandmärchen (2022), setzt Necati Öziri mit Vatermal ein weiteres Ausrufezeichen für eine etwas andere Erinnerungskultur. Ein junger Mann liegt wegen Organversagens im Sterben. Dass seine Leber nicht mehr mitmacht, ist für ihn „keine Metapher in einem Bildungsroman für Kanaken oder so“, sondern sein Beweggrund, sich an den – Zeit seines Lebens – abwesenden Vater zu wenden. Er möchte ihm „für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen“, wer sein Sohn war.
Papa, Baba oder Vater sind Fremdwörter für Arda Kaya. So schreibt er an Metin, der als politischer Flüchtling nach Deutschland gekommen ist, nach einer kurzen Trennungsphase von seiner Frau ein zweites Kind gezeugt hat, um schließlich endgültig Richtung Türkei zu verschwinden. Arda hat ihn nie getroffen und bis heute mit einer Leerstelle leben müssen. Er ist mit Mutter, Schwester, Tanten und Onkeln im Ruhrgebiet aufgewachsen und mit einer großen Portion Wut ausgestattet. Ein richtiger Kiezjunge von der Straße, der sein halbes Leben, wie er selbst sagt, in einer Dönerbude verbracht hat und trotzdem ein Literaturstudium in Berlin beginnt.
Arda geht davon aus, dass er längst tot sein wird, falls Metin seine Zeilen, wenn überhaupt, je lesen wird. Er macht sich Gedanken, wie sein Vater wohl sei: Ist er in einer neuen Familie ein einfühlsamer Vater und Ehemann, ein harter „Arschlochvater“ oder womöglich längst gestorben? Arda hätte so viele Fragen an ihn.
Am Krankenbett wechseln sich Mutter Ümran und Schwester Aylin ab, die sich zwar gegenseitig seit zehn Jahren ignorieren, aber den Jungen, den Kitt ihrer gestörten Beziehung, nicht im Stich lassen. Die Stunden des abwechselnden Wartens mit den beiden geben Arda die Gelegenheit, ihre, seine eigene und die Familiengeschichte zu erfragen und aufzuschreiben. Sein Vater soll dokumentiert bekommen, wer sein Sohn war und wie es seiner Familie ohne ihn in Deutschland erging: „Ich werde von mir erzählen, Metin, aber ich werde permanent lügen. Nichts stimmt, und doch ist jedes Wort wahr.“
Er blickt zurück auf seine Jugend und Kindheit, die fröhlichen Frauenabende der Mutter mit Zigaretten, Raki und Liebkosungen aller „Tanten“ für das süße Kleinkind. Neben den deutschen, kalten Orten, wie dem Ausländeramt mit dem Wackeldackel auf dem Beamtenschreibtisch oder später dem Zimmer im Krankenhaus, wo man nie mit ihm, sondern nur über ihn spricht, gibt es in seinen Erzählungen auch vertraute Plätze und Situationen, wo er sich heimisch(er) fühlt. Sein Lebensort ist die Parkbank mitten in der Stadt. Dort trifft er sich mit Bojan, Danny und Savaş, dort ist ihr Revier im Revier, werden auch mal Kämpfe mit anderen Gangs ausgetragen, Tüten geraucht, Sprüche geklopft und Mädchen gecheckt: „Wer Zeit hat, ist dort, wer nicht dort ist, hat gerade keine Zeit“. Alle Jungs stehen für Aufenthalts- und Vaterprobleme, Arda hat weder Pass noch Vater, Bojan aus dem zerbombten Sarajevo hat sieben Pässe, von denen aber keiner seine Abschiebung verhindern kann. Savaşs Vater, „Serkan Amca“ mit seiner Dönerbude, war ein guter Freund von Metin, weshalb er für Arda eine Onkelrolle übernimmt, aber wegen seines Machismo weder menschlich noch im Umgang mit seiner Frau überzeugt.
Arda erinnert sich an den verschmitzten Umgang seiner Mutter mit ignoranten Beamten („sie zeigt der Kartoffel, dass sie Deutsch draufhat“), für den er sie stets bewundert hat, erfährt aus ihren Erzählungen über ihre Traumata wie das Erdbeben, das auch ihre Jugendträume unter sich begrub („Ihre Eltern wollten, dass sie einen Beruf erlernte, irgendwann mal Lehrerin sein würde, […].“) und das Gastarbeiterdasein seiner Großeltern verursacht hatte, sowie über die drei Jahre voller Erniedrigungen bei der verhassten Tante väterlicherseits, bevor die Eltern die drei Kinder nach Deutschland geholt haben.
Als alleinerziehende Mutter war Ümran ihrer Verantwortung nicht gewachsen. Ardas große Schwester Aylin musste die Lebensorganisation früh übernehmen. Sie erzählt ihm auch, wie das Leben mit dem Vater war und beschützt ihn vor allen Gefahren, geht ansonsten aber – zunächst wegen der Großmutter, später dank einer deutschen Pflegefamilie – ihren ganz eigenen Weg.
Hin- und hergerissen sucht Arda nach seiner Identität. Für die Deutschen ist er ein Türke, kann aber kein Türkisch, was ihm wiederum innerhalb der Familie und im dazugehörigen Freund:innenkreis Vorwürfe einbringt. Als Ausgleich hilft er Savaş bei den Hausaufgaben und lernt von Onkel Serkan Unwichtiges über das patriarchalische Wertesystem in der Türkei. Mit der traditionellen Männerrolle hadert er: In Ardas Realität gibt es „keine Paschas“, er macht Hausarbeit und ist glücklich „ausschließlich von Frauen großgezogen worden zu sein.“ Denn die Väter in seinem Umfeld stellen nach seiner Meinung die Söhne vor die Wahl: „Nachahmung oder Abgrenzung?“ Er vermutet, dass er mit einem solchen Vater „jetzt irgendeine Ingenieurscheiße studieren, […] in Fußballtrikot und Sonnenbrille in tiefergelegten Autos flexen und selbstbewusst lächeln [würde]“.
Ihm ist (paradoxerweise) das Rappen mit seinen Kumpels, das tägliche Abhängen auf der Bank „und warten bis das scheiß Leben endlich anfängt“, wichtiger. Arda schreibt für den Rap „die besseren Lines“, empfiehlt sich damit schon für das Literaturstudium oder das Schreiben an sich. Während seine Kumpels nach und nach aus verschiedenen Gründen Deutschland verlassen (müssen), bleibt er als einziger nicht auf der Strecke und begreift, „dass wir alle auf dieser Welt nur beschissene Gastarbeiter sind, und das Einzige, was du tun kannst, ist, aufstehen und das Leben suchen, solange du noch kannst.“
Und doch stehen Migration oder Erfahrungen von ‚echten‘ Gastarbeiter:innen nicht im Vordergrund in Öziris Roman. Denn vom Vater sitzengelassene, alleinerziehende Mütter, die mit dem Leben und der Aufsichts- und Fürsorgepflicht für ihre Kinder nicht zurechtkommen, gibt es auch ohne sogenannten Migrationshintergrund. Das Gleiche gilt für große Schwestern, die sich um den kleinen Bruder kümmern und, auch wenn an einer Stelle des Textes das Wort „Abitürke“ fällt, Arbeiterkinder, die es von der Parkbank auf dem Bahnhofsvorplatz im Ruhrpott zum Studium und in die – von dieser Warte aus – als abgehoben wahrgenommene Geisteswissenschaftlerszene nach Berlin schaffen. Ob Letztere ein ähnliches Schicksal ereilen werden wird, wie ihre Väter, die „von Weltrevolution geträumt“ und „erst in Deutschland so richtig verstanden [haben], in welche Lage [sie] dieser Traum gebracht hat“, lässt der Roman allerdings offen. Immerhin bietet er dem Alltagsrassismus mit seiner ironischen Darstellung absurder Alltagssituationen gekonnt die Stirn und gesteht Frauen, ihre Lebenssituation differenziert reflektierend, auch starke Rollen zu. Ohne Zweifel der Grund, warum Öziri es mit diesem Debüt auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023 geschafft hat.
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