Finstere Familienwahrheiten
Katrin Seddig hat mit „Nadine“ einen schaurigen Roman geschrieben, den man niemandem empfehlen darf, den aber viele lesen sollten
Von Frank Riedel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDass nichts so grausam wie ein ganz normales Leben ist, wäre im Falle von Nadine Teller wohl nie jemandem aufgefallen, hätte der Suizid ihrer Tochter sie nicht vollkommen aus der Bahn geworfen. Dass ihre Mizzi auf die Bahngleise gesprungen ist, lässt bei ihr buchstäblich alles entgleisen. Und der Rezensent rätselt in Kenntnis der Geschichte: Wie ist sie überhaupt so lange so stark geblieben?
Im Prolog von Katrin Seddigs Roman gräbt Nadine ein Loch im Wald. Wozu bleibt lange Zeit offen, wie das Loch selbst. Fortan steht es aber symbolisch für die Abgrundtiefen der Menschen, die durch einen Schicksalsschlag gezwungen sind, ihre Vergangenheit mit all ihren Verstrickungen schonungslos zu durchforsten.
Die eigentliche Erzählung über eine Kleinstadtfamilie beginnt an einem ziemlich gewöhnlichen Abend Anfang der 2020er Jahre, den Nadine und ihr Mann Frank im Garten genießen, bis sie vom Suizid ihrer Tochter erfahren. Weder was genau und warum passiert ist, noch die Beerdigung und das direkte Drumherum stehen im Mittelpunkt. Während Fernsehsendungen, Nachbarn und Verwandte den Betroffenen klarstellen, was nun zu fühlen und zu tun sei, weint Frank, Mizzis Vater, nur, weil er es soll. Seine Frau ist wiederum böse auf sich selbst, weil sie nicht weinen kann. Die beiden lernen schnell, wie nützlich es ist, richtige Antworten, die manchmal auch falsch sind, parat zu haben, nur um nicht ausführlich werden zu müssen.
Nadines 18 Jahre älterer Mann Frank sucht nachträglich die Gründe für den Freitod ihrer gemeinsamen Tochter bei sich. Sie hingegen versucht mit den Menschen, die ihr oder Mizzi nahestanden, Antworten zu finden, auch wenn nicht jede*r kooperiert. Mizzis Ehemann, ein verzogener, sich wie ein Fünfjähriger verhaltender Sohn steinreicher Unternehmereltern, dessen Großeltern ihm schon Aktien in seine Schultüte steckten, um ihn ans Investieren zu gewöhnen, wie er selbst erzählt, erklärt den Tod seiner Frau zum „Softwarefehler“. Denn es laufe wohl was nicht richtig, wenn sich einer umbringe. Je mehr sich die Anwaltsgehilfin Nadine zurückerinnert, desto mehr Bedeutung gewinnen ihr strenger, inzwischen pflegebedürftiger Vater, und ihr Chef, der unscheinbare Herr Wiedenberg, die sie beide zu dem gemacht haben, was sie ist. Geschätzt, beliebt oder erfolgreich waren sie beide aber ebenfalls nie.
Letztlich geht es nicht darum, den Freitod der Tochter aufzuklären oder zu verstehen. Denn in Nadine geht es um Nadine, um ihre Kindheit, ihre Entwicklung, ihre Familie, ihre Ehe, ihre Arbeit, die Einflüsse der Menschen um sie herum auf sie. Und in jeder Phase ihres Lebens ist immer wieder einiges schiefgelaufen. Sie lässt sich permanent auf vermeintlich unverwundbare und verrückte Leute ein, die in den Augen ihres Vaters nur „Abschaum“ sind.
Schon in der Schule eckt sie an, ist grob und unbeliebt, hat seltsame Freundinnen. Da ist Yvonne Trummer, die „tödliche Antworten“ hat, in deren Schlepptau man problemlos in der Schule überall Anschluss findet. Oder Anneliese Musch, die verschrobene, etwas durchgeknallte, unangepasste Putzfrau aus der Nachbarschaft, die ihre Arbeit über alles liebt. Aber Nadine fehlt es an Selbstachtung: Sie beschreibt sich als nicht schön und zu dick, bezeichnet die eigene Ehe als „Fehlbesetzung“ und sieht zudem sich und ihren Chef als „ein altes Ehepaar, das sich nicht leiden kann, aber sich selbst mit diesem Gefühl schließlich arrangiert.“ Sie findet zwar den Weg, mit all dem umzugehen, begibt sich dabei allerdings auf die dunkle Seite des Lebens. Wenn es allerorten an Wertschätzung fehlt, wie soll da Lebensfreude oder Zuversicht entstehen? Ihre Beziehungen oszillieren dementsprechend zwischen Wut, Mitleid und Gleichgültigkeit. Man spürt, wie Missmut und Streit in einer Beziehung aus dem Nichts entstehen können und nebeneinander her gelebt wird. Und just als es mit dem Sex vorbei ist, wird Nadine schwanger und hat durch die Tochter eine neue Aufgabe.
Die Aufarbeitung des Todes der Tochter als Handlungsgeschehen wird ständig durch Rückblenden, die nicht chronologisch, sondern geschehensbezogen sind, und mit der jeweiligen Jahreszahl eingeläutet werden, unterbrochen. Seddig lässt dabei bis 1944 zurückblicken und arbeitet sogar die Jugend von Nadines Eltern auf. Diese Einschübe aus der Familienvergangenheit erklären nämlich, warum die Dinge und Gedanken so sind, wie sie sind, schaffen somit Verständnis für die teilweise absurde Gegenwart. Und wenn man sich gerade an dieses aufregende, bestens inszenierte Textpuzzle als maßgebliche Qualität des Romans gewöhnt hat, passiert tatsächlich doch noch etwas Unerwartetes, das an dieser Stelle nicht verraten werden soll.
Erzählerisch zeichnet Katrin Seddig in ihrem Text ein düsteres Bild von Partnerschaft und Zusammenleben. Sie entpuppt sich als Meisterin des mürrischen Miteinanders. Den Umgang mit alten, in jeder Hinsicht unbeweglichen und undankbaren Sturköpfen zelebriert sie mit trockenem Sprachwitz. Seddig ist ein beeindruckend finsteres, am Ende auch makabres Werk gelungen, das überrascht und nachdenklich stimmt. Die Wahrnehmung anderer, so vergegenwärtigt einem dieser Roman, entspricht selten der eigenen. Daher könnte der Vorschlag den Roman zu lesen als Fingerzeig missverstanden werden, wenn eine Beziehung viele offene Baustellen hat. Hilfreich und lesenswert ist die literarische Auseinandersetzung mit dem Thema aber auf jeden Fall.
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