Von Interferenzen und Konvergenzen

Fitzgerald & Rimini sampeln sprachlich-musikalische Störfrequenzen zu einem virtuosen poetisch-politischen Programm

Von Sabine HauptRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Haupt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

50 Hertz, das ist die Standard-Frequenz des europäischen Stromnetzes, akustisch wahrnehmbar als kontinuierlicher Brummton, der, musikalisch gesehen, dem Sinus-Ton Kontra-G entspricht, ein alltägliches Störgeräusch, das bei schlecht isolierten, interferierenden Elektrogeräten auftritt oder unter Strommasten und in der Nähe von Kraftwerken zu hören ist. Auf der Spoken-Word CD 50 Hertz des Schweizer Performer-Duos Fitzgerald & Rimini bildet dieses konstante Elektro-Pulsieren den Klangteppich, auf dem alle acht Stücke rhythmisch und musikalisch aufgebaut sind. Dabei ist das Besondere an dieser CD das bis ins kleinste Detail durchdachte und durchkomponierte Zusammenspiel von Sprache und Musik, eine bei literarisch-musikalischen Performances eher rare Qualität. Was die Schriftstellerin und Spoken-Word-Künstlerin Ariane von Graffenried und der Musiker Robert Aeberhard hier auf ihrer, nach Aristokratie und Wahnsinn (2011) und Grand Tour (2015), dritten größeren CD-Produktion, mit der sie auch in Musikclubs und an Literaturfestivals auftreten, zusammengestellt und gestaltet haben, sucht in der aktuellen Literatur- und Spoken-Word-Szene wohl Seinesgleichen.

Musikalisch-akustisch besitzt 50 Hertz die rituelle Stringenz der Minimal-Music, ohne jedoch die Geduld ihrer HörerInnen mit allzu repetitiven Mustern zu überstrapazieren; es gibt neben ungewöhnlichen, elektronisch verfremdeten Alltagsgeräuschen ganz wunderbar melancholische, langsam anschwellende, geradezu magisch-melodische Klangmuster, gefolgt von harten Beats, satten Bassgitarrenläufen und überraschenden Assonanzen, die sich jedoch nie ganz in den Vordergrund spielen, oft völlig zurücktreten, sodass der von Ariane von Graffenried virtuos vorgetragene, mal kreativ verspielte, mal nüchtern dokumentarische Text immer ganz im Zentrum steht. Seine zwischen (dialektaler) Alltagssprache, (Sprech-)Gesang und rhythmisch stilisierter Kunstsprache changierenden Tonlagen wirken dabei an keiner Stelle peinlich, albern oder pathetisch. Hier hat jedes Wort, jeder Ton seinen genau austarierten Platz.

Das Album ist unterteilt in acht mehrsprachige (Deutsch, Schweizerdeutsch, Englisch, Französisch, Russisch) Stücke. Genauso gut könnte man von Kapiteln sprechen, denn es gibt einen klaren thematischen Rahmen: Ariane von Graffenried erzählt die Geschichten von acht historischen oder fiktiven „Heldinnen“, das heißt von Frauen, die Geschichte geschrieben haben, oder richtiger: von Frauen, deren Geschichten gewissermaßen die Rückseite der großen Historie, beziehungsweise – um den bekannten Gender-Kalauer zu bemühen – die Grundmuster der langen, meist namenlosen und ungeschrieben Her-Story, abbilden.

Da ist zunächst die sowjetische Kosmonautin Walentina Tereschkowa, die erste und bis heute einzige Frau, die jemals alleine im Weltall unterwegs war. Ihre Geschichte wird, angereichert mit russischen Lautsprecherdurchsagen und irrwitzigen Originalaufnahmen aus den Archiven des DDR-Fernsehens, als ein von ideologischen Vorgaben gesteuertes und inszeniertes Spektakel dargestellt, hinter dem sich ein Abgrund von Todesangst, Ohnmacht und Zwang, naivem Gehorsam und erschreckender Abhängigkeit auftut. Die „lebende Legende“, die vermeintlich „freie Frau“, die fliegende „Möwe“, das „prächtige Sowjetmädchen“, die „kosmische Fee“, wie der Sprecher des DDR-Senders hymnisch kommentiert, eine Frau, der in späteren Jahren als Heldin des Vaterlands von Putins Gnaden eine Karriere als Abgeordnete der Duma gelingt, ist in Wahrheit nichts als ein bedauernswertes, manipuliertes Wesen: „Immer folgsam, immer brav. / Bisch e Möwe / bisch es Schaf.“

Es folgt die wohl anrührendste Hommage des Albums, ein Porträt der unbekannten Märzgefallenen „Auguste Wenzel“, mit dem Ariane von Graffenried auch schon in der Berliner Gedenkstätte für die Gefallenen von 1848, dem „Friedhof der Märzgefallenen“, aufgetreten ist. Auch in diesem Text beeindruckt, unterstützt von klar strukturierten sprachlichen und musikalischen Rhythmen, die leise und wehmütige Ironie der Verse, etwa wenn Von Graffenried die gespaltene Stirn der Ermordeten reimtechnisch mit ihrem gewaltsam beendeten, hier nun rekonstruierten revolutionären Denken in Verbindung bringt: „Meine Stirn liegt in Falten / War deine gespalten / oder hattest du Blei in der Brust, / als man dich mit Zweiglein / aus dem Königsgarten schmückte / in den Tagen nach der Revolution?“

Den Reigen der fiktiven Biografien eröffnet der weibliche Sexroboter „Harmony“, in dessen mehrsprachige, witzige und anspielungsreiche Rede auch ein paar augenzwinkernde Selbstbespiegelungen eingebaut sind: „Replik of a pornstar. / But I speak Mandarin / or in bilingual Binnenrhyme, / if you want me to / choose line by line.“ Anschließend begegnen wir einem „Fräulein Rottenmeier“, wie sie Johanna Spyri nicht erzählt hat. Das atmosphärisch und klanglich dichte, bedrückend klaustrophobische Porträt eines gestrengen Fräuleins aus dem Bilderbuch der bürgerlichen Realismus zeigt die abendliche Einsamkeit der unverheirateten Gouvernante, die ihre ökonomische Unabhängigkeit – Stichwort „Lehrerinnenzölibat“– durch Ehelosigkeit und ein Leben ohne familiäre Bindungen erkaufen muss. Das leitmotivische Ticken der Wanduhr verbindet sich hier besonders prägnant mit dem Ostinato des 50-Hertz-Tons: „Eine Wanduhr tickt, / es ist schon spät. / Ein letzter Blick / streift die Bibliothek. / Das Fräulein trägt aufrecht / und in sich gekehrt / die Oberaufsicht / und das Nadelkissen / nach einem dicht gestickten / Lange-Stunden-Tag / in ihre kalte Kammer“ […] Lebertran liegt in der Luft, / der Duft von Wollblumen-/ Tee und Tinte.“

Es folgen „Typhus Mary“, eine irische Migrantin, die als erste Trägerin des Typhus-Virus in den USA identifiziert wurde, sowie „Kalamitäten Jane“, besser bekannt aus zahlreichen Hollywood-Filmen und René Goscinys Lucky-Luke-Comic als Wild-West-Legende Calamity Jane, die, so erfahren wir bei Von Graffenried, den american way of life („Oh, America was great back then“…) zwar als Revolverheldin beginnt, ihn aber als „Unglücks-Jane“ im Armenhaus beendet. Grandios sind hier vor allem der rasante Zweier-Takt der Musik und die mehrsprachigen Crossover-Verse wie: „marked by darkness, / by decay, by numberless / Schmauchspuren, / wäscht Jane dishes / für die Huren.“ Oder: „Jane does not fear / neither men nor Getier“. 

Die letzten beiden Porträts gelten Frauengestalten der französischen Kunst und Literatur. Da ist zum einen „D Frou Bovary de Porrentruy“, eine gelangweilte, kaufsüchtige Hausfrau, die dem bürgerlichen Käfig einer jurassischen Kleinstadt durch Online-Dating zu entkommen sucht, zum anderen Edouard Manets dunkelhäutiges Modell „Laure“, die auf dreien seiner Bilder erscheint und von Ariane von Graffenried in einer Art träumerischen Bildbeschreibung eine eigene fantastische Geschichte erhält: „Vielleicht bist du Pianistin im 9ème / und schreibst Gedichte / zwischen den Schichten / als Elefantendresseur in den Folies Bergère“.

Es sind solche phantasievoll gesponnenen Hypothesen und Spekulationen, skeptische Fragen an die herkömmliche Überlieferung, Detailbeschreibungen, überraschende Pointen, Anspielungen an literarische Werke und historische Ereignisse, halbbewusste Erinnerungen aus dem kollektiven Gedächtnis, die hier – analog zum fundamentalen Störgeräusch der 50 Hertz-Frequenz – das große, ebenso gleichmäßige wie gleichgültige geschichtliche Rauschen, in dem solche Frauenschicksale durch Verschweigen oder Verklärung gemeinhin verschwinden, unterbrechen und mit einem neuen, poetisch-politischen Soundmix überlagern.

Titelbild

Fitzgerald & Rimini: 50 Hertz.
Der gesunde Menschenversand, Luzern 2019.
64 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783038530961

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