Der heilige Narr in Gefahr

In ihrem Roman „Die Freiheit der Puppen“ lässt Federica de Cesco eine Puppenspielerin unangenehme Wahrheiten aussprechen

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Hofnarr war in früheren Jahrhunderten eine Instanz mit der Lizenz zum Spott auf das, was sonst sakrosankt schien. Insofern lieferte seine Tätigkeit den Vorschein einer Freiheit, die sonst, im ‚wirklichen Leben‘, nicht gegeben war. Denn der Herrscher, der die Macht nicht nur hatte, sondern im Absolutismus auch verkörperte, ließ üblicherweise nicht mit sich spaßen. In diesem Fall aber bezahlte er den Spaßmacher, Possenreißer, Hanswurst oder welche Namen ihm noch gegeben wurden, sogar aus der Staatskasse. Für sein Gehalt hatte der Bedienstete eine anspruchsvolle Arbeit zu leisten, sein Balanceakt verlangte nicht nur Witz, ständig neue Einfälle, akrobatisches Können, sondern vor allem Fingerspitzengefühl, um den Bogen nicht zu überspannen, zumal er immer mit Feinden rechnen musste.

In Federica de Cescos neuem Roman heißt der Hofnarr Trickster und tritt im Theater auf. Die Theaterleiterin weist der neuen Bühnenaspirantin Rosa ihre Rolle zu:

„Du bist der Trickster“, sagte Sarah, „das musst du immer im Kopf behalten.“

„Wer bin ich?“

„Der heilige Narr, der Gestaltenwandler, der alle Normen bricht, die Welt mit bösen Streichen umkrempelt und auf Umwegen zum Guten führt. Der Trickster, der die Wahrheit kennt und unbehelligt mit Menschen und Puppen spielt.“

Bei der Lektüre des Romans festigt sich der Eindruck, dass die Autorin selbst in die Rolle des Tricksters schlüpft, indem sie ihrer Figur in mehrfach verschlüsselter Form die Wahrheiten über Gestalten und Probleme unserer Gegenwart in den Mund legt, die sie schon immer loswerden wollte. Die in der Schweiz lebende de Cesco versteht ihr Handwerk. Sie ist Autorin von über fünfzig Kinder- und Jugendbüchern, annähernd zwanzig Romanen für Erwachsene sowie mehreren Sachbüchern und einer Autobiographie. Aus Lesebüchern für die Mittelstufe kennen wohl die meisten ihre berühmteste Kurzgeschichte Spaghetti für zwei, einen Klassiker des Genres. In Die Freiheit der Puppen entfaltet de Cesco ein raffiniertes Spiel der Identitäten mit verschiedenen Ebenen des Dialogs, die nicht nur das Bühnengeschehen bestimmen, sondern sich im Alltag der Hauptfigur fortsetzen.

Diese Hauptfigur, die Ich-Erzählerin Rosa, kam sechs Jahre vor der Wende in der DDR auf die Welt, als Kind eines auf Kuba geborenen deutschen Vaters und einer Kubanerin, die nach der Kuba-Krise ins östliche Deutschland gekommen waren. Schon früh beobachtete sie bei ihren Eltern Überlebensstrategien in der Diktatur und kommentierte sie spielerisch in den Dialogen zweier von ihr erfundener Figuren, Frau Tam und Herr Tim. Das tat sie so lang, bis die Mutter ihr dieses Spiel verbot und die beiden imaginären Gestalten sich in Luft auflösten. Aber die beiden sind nicht aus der Welt, sondern kehren zur erwachsenen Rosa, die inzwischen als Rechtsanwältin Karriere gemacht hat, zurück. Vermittelt wird die Vorgeschichte in einer Binnenerzählung, mit der Rosa ihren Freund, den Fotografen Alexis, in ihr Leben einweiht.

Warum gibt Rosa ihren finanziell lukrativeren Beruf als Anwältin auf, um als Puppenspielerin aufzutreten? Zunächst will es der Zufall, dass sie in Luzern einen Schauspieler kennenlernt, der sie in sein Kellertheater mitnimmt. Hinter der Bühne sieht sie nicht nur Requisiten, sondern auch Marionetten und Handpuppen, mit denen sie einen Spielversuch macht. Dadurch werden Frau Tam und Herr Tim zu neuem Leben erweckt, und es entsteht die Idee, mit ihnen politisches Theater zu machen. Sehr weit entfernt von ihrem früheren Beruf fühlt Rosa sich dabei nicht, denn es kommt ihr so vor, als hätte sie auch als Anwältin im Gerichtssaal immer eine Rolle gespielt. Bei ihrem ersten Probespiel lernt sie Alexis kennen und geht mit ihm eine offene Liebesbeziehung ein. Er wird für sie eine Art Vertrauensmann und Berater, ohne dass die beiden einander einengen, zumal Alexis oft mit Aufträgen unterwegs ist und Rosa bald bekannt wird und auf Tourneen geht.

Raffiniert ist de Cescos Versuchsanordnung dadurch, dass die beiden Charaktere, mit denen die Ich-Erzählerin spielt, nicht nur als ihre Stellvertreter auf der Bühne fungieren, sondern ein Eigenleben führen. Sie sind auch im Alltag präsent und reden ihrer Meisterin oft dazwischen, wenn sie sich mit anderen Personen unterhält. So sind sie eine Art gespaltenes Über-Ich, dessen Bedenken oder Ermunterungen manchmal gehört, oft auch verdrängt werden. Rosas Privatleben ist alles andere als langweilig, erst geht sie eine leidenschaftliche Liebesbeziehung mit der rätselhaften Journalistin Lea ein, die von Frau Tam und Herrn Tim mit Warnungen begleitet wird. Dann lässt sie sich von dem Theaterkritiker Ferenc verführen, der ebenfalls ein Geheimnis zu haben scheint, aber von den beiden Begleitern nicht abgelehnt wird. Es wird Rosa fast zum Verhängnis, dass sie manchmal ungezügelt ihren Wünschen folgt. Das Realitätsprinzip tritt ihr dann in Gestalt von Alexis oder der Theaterleiterin Sarah gegenüber, und am Ende hat sie einen Schutzengel.

Einen wesentlichen Teil des Romans machen die Bühnenauftritte des „Tricksters“ aus, die aufklärerisch wirken, aber das Publikum auch unterhalten sollen. Meist hat die Darstellerin mit ihren beiden Figuren die Lacher auf ihrer Seite. Das schon aus der Antike bekannte Motto für die Kunst „prodesse et delectare“ (nützen und erfreuen) erweist sich auch für Rosa als Erfolgsrezept und trägt ihr die Zufriedenheit der Theaterleiterin, ein gutes Presse-Echo und Einladungen an in- und ausländische Bühnen ein. Bei so viel Glück können Störerfahrungen nicht ausbleiben. Sobald die Puppenspielerin ein „Sendungsbewusstsein“ entwickelt, beginnt sie, „die Freiheit der Puppen“ zu überschätzen. Auf die warnenden Stimmen der beiden anderen Ichs, Frau Tam und Herr Tim, hört sie nicht, sondern nimmt lieber Schlaftabletten, wenn sie nicht einschlafen kann.

Ist der erste Sketch über die Dummheiten und Sünden des Homo sapiens – Naturzerstörung, Wettrüsten, Mangel an Empathie – noch recht allgemein gehalten und deshalb weitgehend zustimmungsfähig, werden die folgenden bissiger und konkreter. Sie nehmen die Machthaber dieser Welt aufs Korn, die jeweils von einer der Puppen verkörpert werden. Überschrift: „Die Patriarchen-Symphonie“. Es treten auf: der Chinese Um-lei-Tung (Xi Jinping) im Gespräch mit dem Philosophen Lao-Tse, der gegenüber dem Machthaber kein Blatt vor den Mund nimmt. Bedenken wischt Rosa weg: „Wenn die Chinesen keinen Sinn für Ironie haben, ist das ihre Sache.“ Im nächsten Sketch legt sie den wiedergewählten US-Präsidenten, der sich Ronald nennen lässt, auf die Couch einer der weltbesten Psychoanalytikerinnen, um ihn wegen seines Größenwahns behandeln zu lassen. Schließlich gelingt es ihr, den russischen Präsidenten Modeste Purin für ein Interview im Kreml zu gewinnen und ihm unerwartete Geständnisse abzuringen.

Die Dialoge sind witzig, pointiert und von zunehmender Direktheit. Hat Rosa damit den Bogen überspannt? Im zweiten Teil des Romans wird immer mehr Spannung aufgebaut. Es kommt zu überraschenden Entwicklungen und Enthüllungen, aber es bleibt immer so viel offen, dass die Spannung gehalten wird. Dem smarten Ferenc hat sich Rosa, nachdem Lea spurlos verschwunden ist, wohl zu unbedenklich hingegeben, ermuntert von Frau Tam und Herrn Tim, die sich von der eleganten Erscheinung blenden lassen. Die inneren Kontrollmechanismen funktionieren nicht mehr, während die äußeren Bezugspersonen, Sarah und Alexis, Bedenken schüren, aber nicht verhindern können, dass es, je nach Perspektive, beinahe oder wirklich zu einer Katastrophe kommt. Danach macht Rosa einen Neuanfang, indem sie die beiden Puppen ins Wasser wirft. Sie will wieder Juristin werden. Man kann das als Resignation deuten, obwohl der Roman es nicht nahelegt.

Vor allem wegen der dramatischen Entwicklung am Schluss drängt sich die Überlegung auf, ob diese Geschichte wahrscheinlich ist. Sie führt zu keinem eindeutigen Ergebnis, aber dass das Ganze in sich stimmig ist, dass die Versuchsanordnung also funktioniert und dass ein beträchtlicher Sprachwitz den Roman trägt, das dürfte unbestreitbar sein. Hinsichtlich des heutigen Weltzustands ist de Cesco offenbar pessimistisch. Der Homo sapiens hat nichts dazu gelernt, und die Patriarchen, die die Welt beherrschen, richten viel Schaden an. Der Hofnarr, gleich ob er Spaßmacher, Trickster oder Clown genannt wird, scheint für die Autorin in unserer Gegenwart keinen sicheren Platz mehr zu haben, jedenfalls nicht, wenn er allzu unverblümt spricht. Die Frage, wer heute den falschen Schein zerstören und den Mächtigen unbequeme Wahrheiten sagen darf, muss offen bleiben, wenn es sogar die Freiheit der Puppen nicht mehr gibt.

Titelbild

Federica de Cesco: Die Freiheit der Puppen. Roman.
Europa Verlag, Hamburg 2025.
222 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783958901933

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