Robert Müller

(10.1.1931)

Von Arthur Ernst RutraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arthur Ernst Rutra

Vor sechs Jahren, am Morgen eines späten Augusttages, der der Todestag Nietzsches ist, fiel am Donaukai ein Schuß. Er zerriß ein Herz, das stark genug war, einige Stunden noch zu leben, ehe es nach dem Willen dessen innehielt, der gegen sich gezielt hatte. Der Mann, der den Schuß abgab, hatte mit dem Leben abgeschlossen, um im nächsten Augenblick, als es fiel, ein neues beginnen zu wollen. Jenseits der Bezirke, die ihm nicht mehr entsprachen. So stark war vor dem Tode, war im Tode noch der Geist, der die Hand zum letzten, ihm sinngemäß erscheinenden Abschluß geführt hatte. Er liebte das Leben, er bejahte es, und sagte dennoch ab. Das Leben und er hatten verschiedene Wege genommen; es galt, ein neues einzuholen. Der Mann, der nie im Leben geschwankt hatte, immer nur Tat war, entschied sich wieder für die Tat. Er handelte impulsiv und fehlte niemals, wenn er sich zum Augenblick bekannte. Das war sein Verhängnis. Er wußte wohl darum, daß er in solchen Augenblicken zu irren pflegte, aber auch dies, daß ihn die Irrtümer zur Wahrheit hinführten. In den fernsten Zielen, die er sah, irrte er nicht. Und so behielt der Mann recht, – gegen sich selbst.

Wie kaum bei einem, geziemt bei Robert Müller, um eine Vorstellung von der Bedeutung seiner Persönlichkeit zu gewinnen, da seine Erscheinung im Gedenken verlischt und sein Werk noch wenigen geläufig ist, die Veranschaulichung dieses ungewöhnlichen Menschen selbst. Ein Bild allein will nicht genügen, aber zwei, die ich wähle, vermögen ein Ganzes zu vermitteln. Ich sehe einen Mann im Lugaus auf voller See. Ein in vollendeter, edler Zucht gehaltener Körper, ein durch stets wachen, arbeitenden Geist belebtes Antlitz. Das Auge ist auf weite Sicht eingestellt, die Züge atmen frische Witterung und Entdeckerfreude, der Kopf ist leicht vorgeneigt und nicht gesonnen, das Erspähte preiszugeben. Und ich sehe einen Leuchtturm von schlankem, kräftigem, ebenmäßigem Bau, auf dem vorgeschobensten Ende eines letzten Landausläufers, den bereiten Wächter, willkommen zu heißen jeden, dessen Weg weite Fahrt war, Künder, daß er an der Scheidegrenze der Elemente, der Erd- und Weltteile stehe. Von dem Mann im Lugaus zum Leuchtturm spannt sich aber die unsichtbare geistige Brücke und schließt beide in eine Gestalt zusammen: und diese war Robert Müller.

Romantische Hohenstaufensehnsucht trieb und treibt noch heute den Deutschen nach dem Süden, nach dem Lande seiner Verheißung, Italien. Der Jüngling Robert Müller brach mit der Tradition und ging nach Amerika. Ein neuer Kolumbus, der es ein zweites Mal für Europa entdecken wollte. New York, Zeitungsverkäufer in den Straßen, Nachtlager unter Eisenbahnwaggons auf den Bahnhöfen, Reporter, Abgrasen von Städten, Westindien, Untertauchen in der Lebensmystik der Tropen, Heimkehr des Leichtmatrosen als Schiffssteward. In Bremen liegt heute noch unbehoben sein Seemannszeugnis. Er brauchte es nicht mehr. Ein Europäer kehrte aus der Neuen Welt wieder und brachte Amerika mit. Sein Amerika. Das Amerika des Europäers, der zum Pan-Europäer geworden war. Lange vor der Entdeckung Coudenhoves, der seinen Gedankengängen gefolgt war.

Als der Krieg ausbrach, war Deutschland die Hoffnung: Germanien sollte durch Österreich zum Amerika Europas umgeformt werden. Als er nach knapp einem Jahre freiwillig ins Feld zog – Gentleman der freiwilligen Pflichterfüllung –, hatte er diese Hoffnung bereits begraben. Den Untergang voraussehend, sah er im Zerfall den Beweis für die Gültigkeit seiner Sehnsucht erbracht, und der Umweg, der sich ergeben hatte, wurde zum Weg. In diese erste Epoche seines Lebens leuchten seine Schriften: sein Werben um Deutschland in „Macht“, seine Synthese des Österreichers in „Österreich und der Mensch“, seine Profilierung des Europäers in seinen „Europäischen Wegen“. Und aus dieser Epoche strahlt als seltenes Kleinod sein nach der Rückkehr aus Amerika gedichteter Mythos der Reise, „Tropen“, das Fundament des großen europäischen Bauwerks, das er träumte, das er schuf, um das er kämpfte und litt. Reich war sein Schaffen. Bald folgten, in der zweiten Epoche nach dem Kriege, seine beiden reifsten essayistischen Werke „Bolschewik und Gentleman“, und „Rassen, Städte, Physiognomien“, und in seinen vorbereitenden Novellen und Romanen „Inselmädchen“, „Barbar“, „Camera obscura“, „Flibustier“ wies er die Brücke, die zu seinen großen Schöpfungen führen sollte, von denen Aufzeichnungen in seinem heute immer noch ungeborgenen Nachlaß künden.

„Zeitgenossen“ gestatteten es ihm nicht, alles zu geben, was er wollte und konnte. Was er aber in seinen jungen sechsunddreißig starken Jahren gegeben hat, schon dies allein ist so reich, daß die Frucht, die einst aus dieser Saat wachsen wird, als mächtiger Weiser willkommen geheißen wird von den Späteren. Am Anfang und Ende dieses Lebens steht der Name einer Millionenstadt, die nichts von ihm weiß. Der Name Wien. Er war ein großer Österreicher. Aber Österreich ist klein geworden und weiß nichts von ihm.

Erstdruck in: Radio-Wien. 7. Jahrgang, Heft 14, 1931, S. 6 (zur Sendung am Samstag, den 10. 1. 1931). Nachdruck und Vorlage für die erneute Veröffentlichung in: Thomas Schwarz / Günter Helmes (Hg.): Robert Müller. Paralipomena. Igel Verlag, Hamburg 2019. S. 220-221.