Der Mensch und die Wahrheit
Rocco Buttiglione blickt hinter die Kulissen der Demokratie
Von Günther Rüther
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Wahrheit im Menschen, so lautet der Titel des von Rocco Buttiglione geschriebenen neuen Buches. Er führt in das inhaltliche Zentrum der Studie hinein, denn sie beschäftigt sich mit dem Verhältnis von objektiver und subjektiver Wahrheit. Dabei rückt der Autor jedoch die Erforschung der subjektiven Seite der Wahrheit in den Vordergrund. Dies erscheint nicht zuletzt deshalb plausibel, weil der Mensch als soziales Wesen, als Zoon politikon, stets von seinem Wahrheitsempfinden ausgeht. Doch dabei kann es sich bestenfalls um eine relative Wahrheit handeln. Viele bestreiten, dass es eine objektive Wahrheit gibt. Wäre dies der Fall, müsste der Mensch in einem ewigen Zweifel leben. Seine Hoffnung, sein Leben an der Wahrheit zu orientieren, bliebe unerfüllt. Ihr ginge das Telos verloren. Damit gewönne die Versuchung an Einfluss, die eigene Wahrheit für verbindlich zu erklären. Dies wiederum würde das friedliche Zusammenleben der Menschen empfindlich gefährden.
Deshalb stellt Buttiglione den Wahrheitsbegriff in das Spannungsfeld von Mensch und Gesellschaft und verweist neben seiner personalen auf seine nicht minder bedeutende korrespondierende soziale Relevanz. In beiden Bezugsebenen entfaltet der Autor die geistige Grundlage des liberal-demokratischen Verständnisses unserer freiheitlichen Demokratie. Sie bezieht ihre Legitimation aus einem Ausgleich zwischen dem individuellen Wahrheitsanspruch und demjenigen anderer Menschen. Bei letzterem kann es sich um den Wahrheitsanspruch eines einzelnen, einer sozialen Gruppe, einer politischen Partei, einer Glaubensgemeinschaft oder den des Staates handeln.
Buttiglione geht davon aus, dass es eine objektive Wahrheit gibt, die der Mensch erkennen könne. Seine Erkenntnis bliebe jedoch immer unzulänglich und müsse „gerade deshalb durch die Wahrheitserfahrung anderer Menschen ergänzt werden“. Sein erkenntnistheoretischer Ansatz bleibt nicht in der Abstraktion philosophischen Denkens stecken, sein unmittelbarer Bezugspunkt ist die Politik. Denn in ihr entfaltet sich das Regelwerk menschlichen Zusammenlebens. In den Worten des Aristoteles ist sie eine „ars architectonica“, eine Baumeisterkunst, die „alle Bereiche sozialer Aktivität dazu bringen“ muss, „nach einem gemeinsamen Gut zu streben“. Sie ist deshalb darauf angewiesen, möglichst viele Erkenntnisse zu berücksichtigen. Sie soll keine Gewissheiten verkünden, denn daran seien vornehmlich schlechte Herrschaftsformen zu erkennen, die schlussendlich in einer Diktatur mündeten.
Buttiglione spiegelt seine Leitgedanken an der europäischen Philosophie-Geschichte von Platon und Aristoteles bis in die Neuzeit hinein zu Descartes, Montaigne und Voltaire. Seine Betrachtungen enden nicht mit der Aufklärung. Er setzt sie bis in unsere Tage zu Pascal, Popper und Bobbio fort. Sie schließen mit einem religionsphilosophischen Dialog, der an eine Kontroverse zwischen Eugenio Scalfari und Papst Franziskus anknüpft, die von Juli bis Oktober 2013 in der Zeitung La Repubblica veröffentlicht wurde.
Buttiglione tritt für einen offenen, aber nicht beliebigen Wahrheitsbegriff ein. Die Wahrheit ist für ihn stets das Ergebnis eines diskursiven Prozesses. Der Mensch könne stets nur im Zusammenwirken mit anderen schöpferisch sein und auf diesem Wege die Bedingtheit seiner eigenen Wahrheit erkennen. Dieser philosophische Ansatz erinnert an die Erkenntnis- und Kommunikationstheorie von Jürgen Habermas. Aber bei Buttiglione kommt stärker als bei Habermas eine weitere wesentliche Dimension hinzu: die der Religion und des Glaubens. Der Herausgeber des Buches Christoph Böhr erläutert in seinem ausführlichen kommentierenden Schlussbeitrag Buttigliones Anliegen, diesen zitierend, mit den folgenden Worten:
Die relative Wahrheit stützt sich auf die Wirklichkeit der absoluten Wahrheit, an der sie in gewisser Weise teilhat. Die absolute Wahrheit ist der transzendentale Horizont, innerhalb dessen wir die relative Wahrheit denken können. Daher heißt Denken immer Gott zu denken. Dasselbe Argument könnte man auch für andere transzendentale Eigenschaften des Seins geltend machen: das Schöne und das Gute. Die Wette auf die Wahrheit des Göttlichen fällt dann ineins mit der Wette auf die Wahrheit des Menschlichen.
Im letzten Teil des Buches geht Buttiglione auf die bereits erwähnte öffentliche Disputation zwischen dem italienischen Philosophen Eugenio Scalfari und Papst Franziskus ein. Im Mittelpunkt stehen unter anderen folgende grundlegende Fragen: Ist es notwendig an Gott zu glauben, um ein moralisches Leben zu führen? Kann auch ein Atheist die Erfahrung von Sittlichkeit machen? Kann der Mensch moralische Vollkommenheit auch ohne Gottes Hilfe erreichen? Kann demjenigen vergeben werden, der Fehler begeht, obwohl er seinem eigenen Gewissen folgte? Wann ist ein Irrtum unvermeidlich? Oder: Welche Bedeutung hat der Glauben und wer kann Verzeihung finden?
Buttiglione formuliert seine Schlussfolgerungen aus diesem Dialog im Kapitel „Nur in der Wahrheit ist der Mensch wahrhaft schöpferisch“. Die Summe seiner Erkenntnis lautet:
Die Schöpfungskraft des Menschen ist nicht unbegrenzt und beziehungslos. Ebenso wie die Schöpfungskraft jedes Einzelnen mit derjenigen der anderen verflochten ist und nur gemeinsam mit anderen ausgeübt werden kann, lässt sich auch die Schöpfermacht der Menschen im Allgemeinen und jedes Einzelnen im Besonderen nur im Dialog mit dem ursprünglichen Geschenk des Seins, das von Gott kommt, ausüben.
Mit Buttiglione äußert sich ein Philosoph, der in seiner Zunft höchstes Ansehen genießt. Er ist Direktor des Johannes-Paul-Lehrstuhls an der Päpstlichen Lateran Universität in Rom und war von 1984 bis 1991 Mitglied des Päpstlichen Rates Justitia et Pax. Heute noch wirkt er als Mitglied der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften an maßgeblicher katholischer Stelle als Deuter des Zeitgeschehens mit. In seiner langjährigen akademischen Laufbahn hat er zahlreiche grundlegende Studien vorgelegt, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Buttiglione ist aber nicht nur Philosoph, er war auch viele Jahre politisch tätig als Abgeordneter in Italien und im europäischen Parlament. Er brachte seine Erfahrungen in zahlreiche Parlamentsausschüsse ein und wirkte als Kultusminister und Minister für Europaangelegenheiten in unterschiedlichen Kabinetten. Mit Buttiglione spricht ein Mann zu uns, der Theorie und Praxis in seiner Lebensgeschichte in Verbindung zueinander gesetzt hat. Von dieser doppelten Erfahrung ist Die Wahrheit im Menschen durchdrungen. Die Studie trägt grundlegende Erkenntnisse für das Verständnis der liberalen, freiheitlichen Demokratie und ihre geistigen Grundlagen zusammen. Erkenntnisse, die im Trubel des politischen Alltagsgeschäfts allzu oft aus dem Blickfeld geraten und erschweren, das Geschehen richtig einzuordnen. Dies gilt für die politische Klasse genauso wie für den Bürger. Beide Seiten orientieren sich zu wenig am Wesen der Demokratie und zu viel an der veröffentlichten Lautstärke. Nicht der aber nähert sich der Wahrheit an, der sie in den Medien am lautesten verkündet, sondern der den Prozess ihres Entstehens reflektiert. Die Lautstärke ist eher ein Indiz für die Unwahrheit als für die Wahrheit.
Gerade vor dem Hintergrund der politischen und philosophischen Erfahrungswelten des Autors wäre es wünschenswert gewesen, wenn dieser stärker auf die Ursachen der gegenwärtigen Krise der modernen Demokratien eingegangen wäre. Es ist offenkundig, dass die Informationsüberflutung mit ihrem Überbietungswettbewerb subjektiver Wahrheiten zu einem eklatanten Orientierungsnotstand führen und die Demokratie in ihren Grundfesten erschüttern. Ungeachtet dessen gibt Buttiglione wesentliche Denkanstöße für die Wiederentdeckung der geistigen Grundlagen liberaler Demokratien. Gehen sie verloren, erodiert ihr Fundament.
Christoph Böhrs Schriftenreihe „Das Bild vom Menschen und die Ordnung der Gesellschaft“ weist mit Buttigliones Studie nach den Schriften unter anderem von Rémi Brague, Leonidas Donskis und Richard Schaeffler – sowie demnächst Luigino Bruni – ein weiteres Werk aus, das die Grundfragen menschlichen Zusammenlebens aus europäischer Sicht thematisiert. Die Reihe richtet sich an Leser mit philosophischen, sozialwissenschaftlichen und religionswissenschaftlichen Grundkenntnissen. Sie ist nicht nur für den geübten Laien, sondern auch für den Fachmann eine Fundgrube neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse. Buttigliones fundierte und abwägende Studie ist einmal mehr ein Belge dafür.
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