Der Zivi und die Patientin mit Krankheitseinsicht
Markus Berges erzählt mit „Irre Wolken“ anrührend die Geschichte einer hoffnungslosen Verliebtheit
Von Rainer Rönsch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMarkus Berges ist als Texter und Lead-Sänger der eigenwilligen Band „Erdmöbel“ bekannt. In seinem neuen Roman erinnert sich ein Icherzähler an eine verbotene, intensive und chancenlose Verliebtheit als 19-Jähriger. Er leistete damals – wie der Autor – ein freiwilliges soziales Jahr in einer psychiatrischen Einrichtung ab. Die Eltern waren dagegen, der wegen seiner Augen wehruntaugliche Junge sollte studieren.
Nach einem Vierteljahr in der am Stadtrand gelegenen psychiatrischen Einrichtung für Frauen traf dort eine neue Patientin ein: Anne Schmidt, freiwillig, aber „angespannt“. Ihre von einem leicht ironisch dargestellten Oberarzt später bestätigte „Krankheitseinsicht“ hinderte Anne nicht daran, erst mit einem abgeschraubten Badewannenhahn den Stationsarzt zu bedrohen und dann bei einem Spaziergang davonzulaufen. Der Icherzähler, als dicker Junge einst der Langsamste im Schulsport und nun abgespeckt, holte sie ein, ließ sich jedoch überreden, auf der Station zu behaupten, sie sei ihm entwischt. Sie trafen sich abends wieder.
Eine Liebesgeschichte möchte man es nicht nennen, was sich da im Jahre 1986 in der Gegend von Münster zutrug. Auf die bodenlose Verliebtheit des bisher über Knutschen nicht hinausgekommenen jungen Mannes reagierte Anne (Walddorfschule, Fotodesign-Studium) zunächst mit Hingabe, doch schon bald mit Distanz und Abwehr. Im Jahr des Reaktorunglücks von Tschernobyl geschah dies, der als größter anzunehmender Unfall damals schlimme Befürchtungen auslöste, aber weniger Hysterie von Amts wegen als ein halbes Menschenalter später die Corona-Pandemie. Annes psychotische Schübe allerdings hatten mit der Angst vor einer Atommafia und einem „Kugelhaufenreaktor“ zu tun.
Bei aller Sympathie für den ehrlich verliebten Helden und seine offenherzige Darstellung ist mangelnde Lebenserfahrung nicht zu übersehen. Ein reiferer Mensch hätte erkannt, dass Anne nicht als „Rettungsring“ für einen Einsamen taugte, sondern selbst der Rettung bedurfte. Er verstand ihre Ängste nicht, wo doch der Frühlingsmond leuchtete in der „langweilig idyllischen Landschaft“ an der Ems. In der Literatur wie im realen Leben birgt die Beziehung zwischen Krankenpfleger und Patientin reichlich Potenzial für Konflikte oder sogar Delikte und andererseits für gegenseitiges Verständnis bis zur innigen Liebe. Diese Grenzbezirke werden im Roman allenfalls touchiert. Der Sex auf einem Hochsitz geschieht einvernehmlich, wobei die Schilderung eher unbeholfen als pornographisch wirkt.
Parallel zum Abenteuer mit Anne wird die musikalische Entwicklung des Helden geschildert. Auch seine Aufnahme als Gitarrist in eine noch ganz am Anfang stehende Rockband, die sogar im nahen Holland auftritt, endet mit einem Abschied für immer.
Anrührend bekennt sich der Icherzähler uneingeschränkt zu seiner damaligen Verliebtheit, die auch Sprachliches erfasste, wenn ihn ein „Annewort“ faszinierte. Der endgültige Abschied geht nahe, gerade weil er ohne Kitsch auskommt. Als Anne von ihren Eltern abgeholt wird, erzählt der Verliebte ungehört all das, wonach er nie gefragt worden ist. Anne winkt – jedenfalls hätte er sich das gewünscht. Ein Foto bleibt ihm, darauf neben anderen „mit Sonnenbrille, meine erste Liebe“.
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