Neue Impulse für die Erzähltheorie

Eine Typologie des polyphonen Erzählens erweitert die Perspektiven der Narratologie

Von Natalia Blum-BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalia Blum-Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die bei De Gruyter erschienene Dissertation von Stefanie Roggenbuck ist eine vom Grundansatz her komparatistisch angelegte narratologische Studie. Die Autorin akzentuiert das Phänomen der Polyphonie als ein besonderes Merkmal schriftlichen Erzählens und fokussiert Formen der Mehrstimmigkeit, „die innerhalb der jeweiligen Aussageinstanz angelegt sind und nicht durch eine interpretatorische Rückkopplung an außertextuelle Größen“ (S. 5) zustande kommen. Dieser Ansatz geht über die beiden in der Literaturwissenschaft dominanten Thesen – Michail Bachtins theoretische Überlegungen zum „zweistimmigen Wort“ und Roy Pascals Theorie der Dual Voice – hinaus. Die Studie setzt sich folglich zum Ziel, eine Typologie bestimmter Formen polyphonen Erzählens zu entwickeln, um dadurch verschiedene Varianten von Aussageinstanzen zu unterscheiden. Dabei soll eine differenzierte Beschreibung der Sprechinstanz hilfreich sein, um den betreffenden Erzähltext neu lesen und interpretieren zu können.

Die Studie besteht aus vier theoretisch-analytischen Kapiteln und einem abschließenden Resümee, das Varianten und Anwendungspotenziale narrativer Polyphonie zusammenfasst. Im ersten Kapitel, „Narrative Polyphonie und ihre literaturtheoretischen Voraussetzungen“, werden verschiedene Ansätze vorgestellt, die der Frage nach einer potenziellen narrativen Polyphonie nachgehen. Ausgehend von der narratologischen Kategorie der ‚Stimme‘ nach Genette werden fünf weitere Konzepte – Stimmen-Pluralität bei Bachtin, unzuverlässiges Erzählen nach Wayne C. Booth, die erlebte Rede in Erzähltexten, der Skaz-Begriff im russischen Formalismus und das Zitat als intertextuelle Polyphonie – in Bezug auf eine potenzielle Polyphonie innerhalb der ‚Stimme‘ kritisch beleuchtet.

Dabei wird deutlich, dass im Unterschied zum einstimmigen Modell Genettes andere Ansätze besondere Formen von Mehrstimmigkeit verhandeln und das Überschreiten von Erzählebenen für sie konstitutiv zu sein scheint. Ausgehend von dieser Erkenntnis versucht die Autorin, den innerhalb der Narratologie dominanten Stimmbegriff Genettes zu überarbeiten und zu erweitern, um die bisher unberücksichtigte Vielzahl von Aussageinstanzen in Erzähltexten sichtbar zu machen. Dieses Vorhaben wird im zweiten Kapitel, „Grundzüge polyphonen Erzählens“, umgesetzt, indem Formen der Polyphonie in Bezug auf polyphone und kollektive intradiegetische Figurenstimmen herausgearbeitet werden. Besondere Aufmerksamkeit wird der Kategorie einer figural-konstruierten Stimme geschenkt, die in der Erzähltheorie kaum beachtet wurde. Dabei geht es der Autorin nicht um „eine weitere Präzisierung des Genetteschen Modells […], sondern vielmehr um eine Erweiterung seines Beschreibungsvokabulars“ (S. 52), das durch eine Inklusion der erzählten Figuren ausgedehnt wird.

Im dritten Kapitel, „Narrative Polyphonie: Kategorien mehrstimmigen Erzählens“, werden verschiedene Typen polyphoner Phänomene in fiktionalen Texten entwickelt und anhand einzelner Texte in ihrem heuristischen Wert vorgestellt. Betrachtet werden sie auf zwei Ebenen: der extradiegetischen narrativen Instanz und der intradiegetischen Erzählebene. Zunächst werden zwei Kategorien, „polyphone narrative Instanz“ und „kollektive narrative Instanz“ fokussiert. Während für die erstere „die Unterschiedlichkeit der Haltungen zu dem Inhalt der erzählten Geschichte ein distinktives Merkmal ist, so vereint die kollektive narrative Instanz die Äußerungen einer größeren Anzahl von Sprechern im Sinne eines Konsenses, welcher zwischen den Aussageinstanzen, die über die scheinbar einstimmige narrative Instanz mitgeteilt werden, herrscht.“ (S. 57).

Auch auf der intradiegetischen Erzählebene werden zwei verschiedene Varianten narrativer Polyphonie unterschieden: die polyphone Figurenstimme und die kollektive Figurenstimme. Sind für die polyphone Stimme zwei oder mehrere Aussageinstanzen konstituierend, so vereint bei der kollektiven Figurenstimme eine Stimme die Stimmen einer Vielzahl intradiegetischer Figuren. Darüber hinaus wird eine weitere Kategorie, die figural-konstruierte Stimme, vorgestellt, die „ein gänzlich neues Verständnis einer Aussageninstanz innerhalb fiktionaler Erzähltexte“ (S. 153) darstellt. Ihre Existenz ist einzig an die Wahrnehmung der sie hörenden Figur gebunden und weist weitreichende Konsequenzen sowohl für die Struktur des Textes als auch für die erzählte Welt auf. In präzisen Ausführungen werden theoretische Voraussetzungen der ausdifferenzierten Kategorien und weiterer Unterkategorien zusammengefasst und im nächsten Schritt anhand von Beispieltexten ausführlich erläutert.

Im vierten Kapitel, „Narrative Polyphonie zwischen Spätaufklärung und Postmoderne“, wird in komparatistischen Untersuchungen ein diachroner Zugriff erprobt, um das heuristische Potenzial der erstellten Typologie auszuschöpfen. Zu diesem Zweck werden zu jeder der vier Epochen jeweils zwei literarische Beispiele – ein deutscher und ein amerikanischer Text – herangezogen und vergleichend analysiert. Das breit angelegte Textkorpus macht deutlich, dass „es sich beim polyphonen Erzählen um ein Phänomen handelt, das in verschiedenen Formen und transepochal auftritt“ (S. 291). Gleichzeitig lassen sich bereits anhand der herangezogenen Textbeispiele einige Tendenzen ablesen, die für einzelne Epochen und Nationalphilologien spezifisch zu sein scheinen. Diesem Aspekt widmet sich das fünfte Kapitel „Varianten und Anwendungspotenziale narrativer Polyphonie“. Mehrstimmigkeit erweist sich als ein transepochales und zugleich historisch gebundenes Phänomen, das das spezielle Potenzial von Literatur fokussiert: „Die differenzierte Darstellung sozialer Konflikte auf der Ebene des discours und der histoire.“ (S. 306)

Auch wenn die Abhandlung zur figural-konstruierten Stimme in einem separaten Kapitel die Verdienste dieser Studie optisch betont und sich auch gerade deshalb angeboten hätte, weil für sie die grundsätzliche Trennung zwischen heterodiegetischen narrativen Instanzen und homodiegetischen Figurenstimmen sowie die Binnendifferenzierung zwischen polyphon und kollektiv aufgegeben wurde, wurde nichtsdestotrotz deutlich, dass die figural-konstruierte Stimme ermöglicht, bis dahin noch nicht erfasste erzähltheoretische Phänomene zu erfassen.

Das Bemühen um begriffliche Klarheit, um die Ausformung der Unterschiede, die Ausdifferenzierung verschiedener Typen polyphoner Stimmen und die Herausarbeitung einer Terminologie für ihre Beschreibung gehörte mit Sicherheit zur größten Herausforderung dieser Studie, die die Autorin vorbildlich gemeistert hat. Das anhand eines breit angelegten Textkorpus erstellte systematische Beschreibungsvokabular liefert ein wichtiges Instrumentarium für künftige Studien. Theoretische Überlegungen zu den herausgearbeiteten Kategorien mehrstimmigen Erzählens haben einen willkommenen Handbuchcharakter. Ihre Typisierung ermöglicht neue Erkenntnisse für eine auf narratologischen Grundmustern basierende Textanalyse, die sicherlich auf weitere Nationalphilologien, Epochen und Autoren angewendet werden kann.

Titelbild

Stefanie Roggenbuck: Narrative Polyphonie. Formen von Mehrstimmigkeit in deutschsprachigen und anglo-amerikanischen Erzähltexten.
De Gruyter, Berlin 2020.
319 Seiten , 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110640083

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