Die Welt ist klein

In Mercedes Rosendes Roman „Krokodilstränen“ geht mehr schief als nur der Überfall auf einen Geldtransporter

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An drei Orten auf dieser Welt, hat der mit allen Wassern gewaschene und so smarte wie aalglatte Anwalt Dr. Antinucci gelernt, darf man das Rauchverbot in öffentlichen Einrichtungen heutzutage ignorieren: „in Guantánamo, türkischen Gefängnissen und uruguayischen Haftanstalten.“ An einem der zuletzt genannten Schauplätze, dem Santiago-Vazquez-Gefängnis von Montevideo, beginnt Mercedes Rosendes Roman Krokodilstränen denn auch mit einem in Zigarettenrauch gehüllten Auftritt des geschniegelten, einen nagelneuen Audi A6 fahrenden, voller krimineller Energie steckenden, nichtsdestotrotz aber streng gläubigen Rechtsverdrehers.

Gute Kunde hat der im Gepäck für den Kleinkriminellen Germán, der wegen Entführung einen Monat lang hinter Gittern sitzt, nun aber bald wieder freigelassen werden soll, weil die Ehefrau des entführten Industriellen Santiago Losada bestreitet, eine Lösegeldforderung bekommen zu haben. Während das für Anwalt Antinucci ganz nach der Stümperei eines geborenen Losers aussieht, ahnt Germán bereits, dass hinter der Aussage der Frau noch etwas ganz anderes steckt. Und auch der Einsatz des Anwalts für den Häftling ist letzten Endes nicht ganz so selbstlos, wie er ihn gern hinstellen möchte. Germán wird nämlich noch gebraucht.

Mercedes Rosende aus Uruguay gehört zu jener neuen Generation lateinamerikanischer Autorinnen, die sich um Traditionen wenig scheren und frisch von der Leber weg und mit viel kompositorischer Freiheit ihre Geschichten erzählen. Im Falle von Krokodilstränen, im Original 2017 erschienen, verknüpft die 1958 in Montevideo geborene Schriftstellerin, Anwältin und Journalistin die Lebenswege von vier Figuren auf raffinierte Weise. Außer Germán und Dr. Antinucci begegnen dem Leser noch die übergewichtige, voyeuristisch veranlagte und in ihrer Kindheit vom Vater schwer drangsalierte Ursula López sowie Kommissarin Leonilda Lima, die etwas anderes von ihrem Job erwartet hatte, als sie ihn auszuüben begann. Doch in all den Jahren voller Frust und Erniedrigungen in einer von Männern mehr schlecht als recht verwalteten Welt verlor sie eines nicht: ihren Gerechtigkeitssinn..

Wo mehrere Kriminelle und eine Gesetzeshüterin als Personal in einem Roman auftreten, braucht es natürlich auch ein Verbrechen, damit es zur Konfrontation von Gut und Böse – die bei Rosende allerdings nicht ganz so leicht auseinanderzuhalten sind – kommen kann. Hier ist es der Überfall auf einen Geldtransporter – von Dr. Antinucci geplant und ein paar Kriminellen ausgeführt, die der bei seinen beruflich bedingten Gefängnisbesuchen angeheuert hat. Auch Germán ist dabei, weil dem Doktor im letzten Moment ein Mann ausgefallen ist. Aber den tumben Entführer, dem niemand so recht etwas zutraut, hat man vorsichtshalber nur zum Geldsäcke schleppen eingeteilt. Dass er am Ende des katastrophal in die Hose gehenden Coups allein mit den Millionen dastehen würde, war nicht vorauszusehen. Und so allein ist er dann ja auch nicht.

Denn er hat Ursula mitgebracht, die ihm inzwischen gestanden hat, dass die Gattin des von ihm Entführten, deren Aussage ihn aus dem Gefängnis befreite, nicht sie, sondern eine andere Frau gleichen Namens ist. Sie steht ihm auf der Flucht mit den vollen Geldsäcken eine Weile zur Seite, während ihm der erzürnte Dr. Antinucci und die Polizei Stück für Stück auf den Pelz rücken.

Krokodilstränen erzählt in seinem ersten und gleichzeitig längsten Teil in 26 Kapiteln aus unterschiedlichen Perspektiven die Vorgeschichte eines Verbrechens, das die wenigsten, die an ihm beteiligt sind, überleben. Viel Zeit lässt sich Mercedes Rosende bei der Charakterisierung ihrer einzelnen Figuren und der Atmosphäre an den verschiedenen Schauplätzen der Handlung. Wer dabei Spannung und Action vermisst, wird in Teil 2 entschädigt – mit einem Feuerwerk aus leichten und schweren Waffen.

Doch auch auf Montevideos Straßen siegen nicht immer die mit der größten Feuerkraft. Stattdessen sind es die beiden Frauen, die am Ende triumphieren: Ursula, die aus der Verwechslung, durch die sie in die ganze Geschichte hineingerät, das Beste für sich macht – um ihren Coup dreht sich übrigens auch Rosendes sechs Jahre vor Krokodilstränen erschienener Roman Falsche Ursula (deutsch im Unionsverlag 2020) –, und Kommissarin Leonilda Lima, die das doppelbödige Spiel zuletzt wohl als Einzige durchschaut. Ihnen allein gehört deshalb der kurze dritte Teil des Romans. Und das haben sie sich wahrhaftig auch verdient.

Titelbild

Mercedes Rosende: Krokodilstränen.
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen.
Unionsverlag, Zürich 2020.
224 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783293208728

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