Zwischen Sex-Fantasie und kaltblütigem Mord

Die uruguayische Schriftstellerin Mercedes Rosende schreibt mit „Falsche Ursula“ einen ungewöhnlichen Krimi

Von Jonas HeßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Heß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stell dir vor, dein Ehepartner wird entführt, aber du bist eigentlich ledig. Das ist im Grunde die zentrale Idee, über die Mercedes Rosende in ihrem Roman Falsche Ursula frei improvisiert. Protagonistin des Ganzen ist Ursula – die ‚falsche Ursula‘ wohlgemerkt, denn bei der etwas hemdsärmeligen Entführung eines reichen Geschäftsmannes gibt es eine Namensverwechslung und statt der getrennt lebenden Ehefrau des Mannes wird die Erzählerin des Romans kontaktiert und mit den Lösegeldforderungen konfrontiert. Was Entführung, Tätersuche und Polizeikontakt-Verbot angeht, ein klassischer Krimi-Plot also.

Doch bevor dieser Handlungsstrang ab etwa der Hälfte des Buches an Fahrt aufnimmt, lesen wir ca. 100 Seiten vom nicht eben spannenden Leben der – wie sie selbst mehrmals betont – übergewichtigen Ich-Erzählerin. Wir begleiten sie durch den ein oder anderen Diät-Versuch, quälende Weight-Watchers-Treffen und Besuche bei ihrer in Reichtum unglücklichen aber bildhübschen und schlanken Schwester. Die beiden Geschwister haben sich an irgendeinem Punkt in der Vergangenheit in verschiedene Richtungen entwickelt – mental, beruflich und körpergewichtsmäßig. Und vielleicht ist da noch ein dunkles Familiengeheimnis, das mit der Affäre von Vater und Tante zusammenhängt …

Bis auf die wenigen eingestreuten Stellen, die in kurzen Ausschnitten von der Entführung und den Tätern berichten, ist das Buch an diesen Stellen weit weniger als „Kriminalroman“ zu verstehen, als das entsprechend betitelte Cover zunächst vermuten lässt. Das hat neben der – wie wir zunächst glauben – gänzlich belanglosen Handlung auch mit den einigermaßen sinnlos eingestreuten Sexfantasien der Ich-Erzählerin zu tun, die einen ziemlich ratlos zurücklassen. Wenn sie etwa im Hausflur sitzend ihren Nachbarn durch die einen Spalt weit geöffnete Wohnungstür beim Sex zusieht oder lüstern in einer anderen voyeuristischen Erinnerung schwelgt, fragt man sich unweigerlich, warum man davon überhaupt erfährt. Zumal die Szenen auch im weiteren Verlauf der Handlung nicht an Relevanz gewinnen.

Aber wie dem auch sei: Hat man den ersten, etwas zähen Teil des Romans erst einmal hinter sich gebracht, wird man belohnt. Denn spätestens nachdem auch die Hauptfigur endlich versteht, was wir Leser*innen aufgrund der Einschübe längst wissen – dass eben der Anruf der Entführer und die Lösegeldforderung für „ihren“ Mann auf einer Namensverwechslung beruhen – gewinnt die Handlung zusehends an Geschwindigkeit. Die ‚falsche‘ Ursula trifft sich trotz der Erkenntnis zunächst mit einem der Entführer zu Verhandlungen. Beinah freut sie sich, mit ihm in einem Restaurant zusammen zu sein, baut Verständnis für ihn auf und fragt bald ungeduldig nach dem nächsten Anruf – Ursula wird selten angerufen.

Dann folgt ein Plot-Twist auf den nächsten. Der Entführer wird von seinem Partner sitzen gelassen, die Protagonisten-Ursula wittert ihre Chance auf finanziellen Gewinn und wird neue Partnerin – den Entführten kennt sie schließlich nicht einmal. Folglich überbringt die ‚falsche‘ der ‚richtigen‘ Ursula endlich die Lösegeldforderung – doch diese will ihren Mann gar nicht zurück und bietet noch mehr Geld für sein endgültiges Verschwinden. Und nach und nach wird dann auch manches, was wir in der ersten Hälfte erfahren haben, bedeutsam (wenn auch nicht alles).

Was so ruhig, ja beinahe zäh begann, beschleunigt sich auf diese Weise ab der Hälfte immer mehr, bis wir am Ende, nach zahlreichen Volten nahezu alles in Frage stellen müssen, was wir bis dahin angenommen hatten. Bis hin zu der Natur der Person, durch deren Augen wir den Großteil der Handlung erlebt haben und die wohl nicht nur in einer Hinsicht eine ‚falsche‘ Ursula ist. Schritt für Schritt lösen sich so fast alle angenommenen Sicherheiten auf, bis die noch viel abgründigere Wahrheit zu Tage tritt. Und genau so etwas macht schließlich einen guten Krimi aus.

Titelbild

Mercedes Rosende: Falsche Ursula. Kriminalroman.
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen.
Unionsverlag, Zürich 2020.
208 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783293005594

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