Ein Hauch von Wuxia

Der klassische chinesische Roman „Vollständige Überlieferung von den Ufern der Flüsse“ liegt erstmals in einer ungekürzten deutschen Übersetzung vor

Von Manfred RothRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Roth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Roman Vollständige Überlieferung von den Ufern der Flüsse spielt zur Zeit der Sòng-Dynastie (960–1279), wurde zunächst mündlich überliefert, um 1370 wohl zum ersten Mal schriftlich festgehalten und erhielt im Laufe der Zeit etliche Ergänzungen und Änderungen. Der Roman wird dem Laienbuddhist Shī Nàiān und dem Theaterautor Luó Guánzhōng zugeschrieben. Er gilt neben Die Geschichte der drei Reiche, Die Reise nach Westen und Der Traum von der roten Kammer (in dem sich der exzentrische James Joyce-Experte John Kidd verloren haben soll und danach beinahe nie wieder gesehen ward) als einer der vier klassischen chinesischen Romane. Bislang ist Vollständige Überlieferung von den Ufern der Flüsse vor allem in der gekürzten Übersetzung Franz Kuhns aus dem Jahr 1934 als Die Räuber vom Liang-Schan-Moor bekannt, und eine japanische Serienverfilmung des Stoffes wurde in den 1980er-Jahren unter dem Titel Die Rebellen vom Liang Shan Po im deutschen Fernsehen ausgestrahlt. Gemein ist allen Versionen die Rahmenhandlung: Ein böser Beamter öffnet eine versiegelte Truhe und entfesselt damit 108 Dämonen, die sich in Gestalt von 108 Helden als eine Art gefallener Sterne an den Flachseen am Brückenberg sammeln und eine gewaltige Armee aufstellen. Doch handelt es sich, bei den meisten von ihnen zumindest, nicht um Dämonen nach westlichem Verständnis. Sie seien eigentlich nicht böse, sondern wurden zumeist von skrupellosen und raffgierigen Beamten übervorteilt und in den Ruin getrieben, und sie folgten nun ihrem eigenen Kodex und stünden für Gerechtigkeit ein.

In epischem Umfang entfaltet der Romane also die Geschichte – besser müssten man sagen: die Geschichten – dieser Gesetzlosen, die sich nach und nach am Brückenberg um das spätere Oberhaupt Sòng Jiāng scharen. Während ein erster Teil damit endet, dass sich die Prophezeiung erfüllt, die 108 vollzählig versammelt sind und mit zahllosen Soldaten und Untergebenen eine gewaltige Privatarmee bilden, geht es im Anschluss darum, dass die Abtrünnigen, vor allem Sòng Jiāng, alles dafür tun, vom Kaiser begnadigt und in die reguläre Armee überführt zu werden. Gerade der zweite Teil mag wohl dazu gedient haben, dem Roman, der von staatlichen Stellen zeitweise immer wieder verboten wurde, das Aufwieglerische zu nehmen und ihm so den Stachel zu ziehen.

Once Upon a Time in China

Was für eine Mammutaufgabe Rainald Simon mit seiner Neuübersetzung hier geleistet hat, zeigt sich schon am schieren Umfang der knapp 1900 Seiten umfassenden deutschen Ausgabe, von den sprachlichen Schwierigkeiten, die ein vor Jahrhunderten in China entstandener Text mit sich bringen dürfte, ganz zu schweigen. Erwartet man einen homogenen „Roman“ nach heutigem Verständnis ist die Lektüre nicht immer ganz einfach, denn in den episodenhaften Darstellungen wiederholen sich Handlungsmotive immer wieder, wird das Erzählen ausschweifend, wo man sich eine Konzentration gewünscht hätte, und Figuren, die über lange Abschnitte das Zentrum des Romans waren, werden ganz ausgeblendet und kommen nur noch als Namen in seitenlangen Listen bei Schlachtaufstellungen vor. (Allein das Namensregister am Ende des Buches umfasst rund 60 Seiten.) Vor allem im wohl später abgefassten Teil der Überlieferungen, in dem sich die Räuber dem Kaiser andienen und ein ums andere Mal feindliche Armeen zurückschlagen, können diese ständigen Wiederholungen und Variationen des immer Gleichen durchaus ermüden, zumal das Erzählte hier eher Aufzählungscharakter hat, die Abläufe bloß als Nennung und nicht als beschreibende Darstellung wiedergegeben werden. Gerade auf den letzten Seiten wurde allerdings versucht, die losen Enden doch noch zu einem abgeschlossenen Ganzen zu verweben, mit durchaus eher tragischem Ausgang.

Umfang und Heterogenität des Textes fordern zwar das Konzentrations- und Durchhaltevermögen heraus, gleichzeitig wird so aber auch ein Panorama entworfen, bei dem in den stärksten Momenten ein lebendiger Eindruck von Kultur, Leben und Gebräuchen des feudalen Chinas entsteht, etwa wenn das Treiben auf einem Volksfest beschrieben wird, sich Exkurse finden, über den Alltag von Soldaten, die Bezeichnungen für unterschiedliche Beschaffenheiten von Schnee oder warum gerade Mönche unter allen Männern die wollüstigsten sind: sie haben einfach zu viel Muße!

Crouching Tiger, Hidden Dragon

Neben den längeren Prosapassagen und einigen Holzschnitten aus dem 18. Jahrhundert finden sich in dem Roman auch zahlreiche Gedichte und Lieder. Auch wenn manche durch blumige Wortwahl und verrätselten Inhalt ein wenig das Klischee fernöstlicher Lyrik bestätigen, sind sie bei näherer Betrachtung durchaus stimmungsvoll. Manche sind Lehrgedichte, andere fassen die Handlung zusammen, raffen schlaglichtartig längere Reisen, sind bukolische Landschaftsbeschreibungen oder thematisieren die Jahreszeiten; und wieder andere beschreiben bild- und metaphernreich Zweikämpfe, etwa wenn die „Shāndōng-Manier“ auf den „Héběi-Stil“ trifft:

(…)
Der heftige Stockschlag spritzt aus dem Loch des Schlammbeißers hervor, /
Der einzwängende Stoß entschlüpft dem Lager des riesigen Lindwurms. /
Der heftige Stockschlag, so als risse man einen riesigen Baum mit Wurzeln aus, /
Der einzwängende Stoß, so als rolle man überall trockene Lianen auf. /
Zwei im Meer die Perle jagende Drachen, /
Ein Paar vor der Felswand um Beute kämpfende Tiger.

Die Gedichte machen den Text abwechslungsreicher und vielschichtiger, wobei sich in die Vollständige Überlieferung nicht nur neue Gedichte finden, sondern auch sehr oft auf bereits existierende Gedichte und Lieder zurückgegriffen wird, die auf bekannte Metren vorgetragen wurden. Diese Intertextualität, an einer Stelle wird etwa von einer Episode aus Die Geschichte der drei Reiche erzählt, der Verweis auf Sagen und Mythen, aber auch das fast schon metafiktionale Bezugnehmen des Erzählers auf das Erzählen oder auch sich selbst, etwa wenn es immer wieder heißt: „Die Zeit des Erzählens ist langsam, aber jene Zeit lief schnell“ oder „Schaut auf mich, den Erzähler“ weisen auf die besondere ursprüngliche Rezeptionssituation des Romans hin.

Offensichtlich entstammt die Vollständige Überlieferung einer mündlichen Erzähltradition, und für die Hörerschaft war dies vielleicht Teil einer selbstverständlichen kulturellen Praxis mit je eigenen Chiffren, Bildern und Bezügen, wie wir es heute beim Gang ins Kino erleben.

Battles Without Honor and Humanity

Wie eingangs bereits erwähnt, wurde der Roman im Laufe der Zeiten gerade von staatlichen Stellen immer wieder kritisch gesehen, richtete er sich mit seinem Aufbegehren gegen den Apparat von korrupten Beamten – nie aber gegen den Kaiser selbst wohlgemerkt – zunächst an die einfachen Bevölkerungsschichten. So bedient er sich oft einer derben Sprache: „Diese Burschen kommen, um ihre Furzaugen schweifen zu lassen: Wenn sie nicht verschwinden, werde ich sie verprügeln!“ oder „Was für ein Pimmelschwert, für so viel willst du es verkaufen!“ Saufgelage sind allgegenwärtig und an der Tagesordnung und es wird kopuliert, geflucht, geprügelt und gemordet. Die dabei zum Teil exzessiv ausgeübte Gewalt spiegelt, wie auch Simon in seinem informativen Nachwort anmerkt, die Haltung der damaligen chinesischen Gesellschaft wider: Nie wird im Roman Anstoß daran genommen, dass zur Strafe der Feind nicht nur selbst getötet und zerstückelt wird oder dass seine Organe verzehrt werden, sondern auch daran nicht, dass immer zugleich sein gesamter Hausstand ausgelöscht, seine Bediensteten und auch seine Frau und Kinder ganz selbstverständlich abgeschlachtet werden. Daneben, und auch darauf weist Simon zu Recht hin, kann Gewalt im Roman manchmal auch eine kathartische Wirkung haben. So ist die Tötung des Schlachters Zhēng sprachlich so überzeichnet, dass sie an Animés oder sogar Tarantino-Filme denken lässt:

Und er versetzte ihm nur einen Faustschlag, genau auf die Nase, (…) dass frisches Blut floss, die Nase sich zur Seite neigte und es aussah, als sei ein Sojaöl-Laden geöffnet worden: Salziges, Saures und Scharfes, alles rollte heraus (…). Er hob die Faust (…) und schlug so zu, dass die Augenwinkel aufplatzten und die schwarze Perle heraussprang, und es war wie ein Laden für bunte Seidenstoffe: Rotes, Schwarzes und Karmesinrotes trat hervor.

Andererseits findet sich vor allem in der Figur des Lǐ Kuí eine Art personifizierter Dämon, der auch vor Kindstötung nicht Halt macht. Die Inszenierung der Ermordung eines Vierjährigen, indem sich der Mörder die Haarzöpfchen des Getöteten ansteckt, kann abstoßender kaum sein, und noch irritierender wird das Ganze, wenn sich herausstellt, dass der sich der „Redlichkeit und dem rechten Weg Dào“ verschriebene Anführer Sòng Jiāng den Mord in Auftrag gegeben hat, um jemanden so in die Räuberbande zu pressen. Durch die Akte extremer Grausamkeit stellt sich beim Lesen bisweilen etwas Ähnliches ein, was in der Videospieltheorie als ludonarrative Dissonanz bezeichnet wird: Auf narrativer Ebene wird moralisches Handeln gefordert, während die Spielmechanik darauf ausgelegt ist, über Leichen zu gehen. So behauptet der Roman noch im Angesicht größter Grausamkeit die Wohlanständigkeit seiner Figuren: 

(…) Shí Xiù und Ruǎn, der kleine Siebte, kamen zum Ufer des Flusses, töteten eine Familie mit Frau und Kindern, nahmen ein schnelles Boot an sich und gelangten in das Kloster auf dem ›Jiāo-Berg‹. Der Abt des Klosters erkannte, dass es sich um gute Männer von den ›Flachseen am Brückenberg‹ handelte, und gewährte ihnen Kost und Unterkunft. [Hervorhebung von mir]

Interessant wäre es zu erfahren, ob eine zeitgenössische Hörerschaft diese heute eklatant erscheinenden Widersprüche überhaupt als solche empfunden hatte. Moralische Ambivalenz zeichnet gerade auch moderne (Anti-)Helden aus, es wird aber hier beim Lesen schlichtweg irgendwann unmöglich, die Kluft zwischen behauptetem moralischem Anspruch, nicht nur durch die Briganten selbst, sondern auch durch den Erzähler, und ihren Taten zu übersehen. So entziehen sie sich beim Lesen stellenweise der Identifikation und erscheinen oft weniger als Ritter der Tafelrunde denn als Haus Lannister, erinnern weniger an die Schar um Robin Hood als an die ehrenwerte Gesellschaft eines Michael Corleone.

The One-armed Boxer vs. The Flying Guillotine

Auch wenn es manchmal derb zugeht, hat der Übersetzer Simon einen eher gehobenen Stil gewählt, allzu viele Modernismen vermieden, jedoch auch versucht, die Nuancen des Originals im Deutschen wiederzugeben. Um die Bandbreite von Vollständige Überlieferung zu fassen, kann es vorkommen, dass ein ländlicher Bursche aus der chinesischen Provinz plötzlich Hessisch spricht. Der Roman war wohl immer schon eher Teil einer volkstümlichen Populärkultur, die er bis in ihre gegenwärtige Ausformung mitgeprägt hat.

Vor dem Hintergrund etwa der historisch-phantastischen Schwertkämpfergeschichten des Wuxia-Genres, das mehr noch als in Romanen, vor allem in den Hongkong-Filmen der Shaw Brothers etwa seit den 1960er Jahren zunächst in den USA später auch in Europa bekannt wurde, wirken manche Passagen wie Vorläufer popkultureller Standards, seien es die abenteuerlichen Waffen, etwa Sensen mit drei Klingen, oder die wie Tänze choreografierten Duelle. Die Lektüre kann eine wahre Tour de Force sein, sowohl was Umfang als auch Inhalt angeht, dann wieder unterhaltsam und erhellend. In jedem Fall ist es begrüßenswert, einen der vier klassischen chinesischen Romane dank der Leistung Simons nun vollständig und mit zahlreichen Fußnoten und Anmerkungen vorliegen zu haben.

Titelbild

Shi Nàiān / Luò Guánzhōng: Vollständige Überlieferung von den Ufern der Flüsse.
Aus dem Chinesischen übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Rainald Simon.
Insel Verlag, Berlin 2024.
1879 Seiten , 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783458643845

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