Geh sterben fetter weißer Hetero

„Follower“ von Eugen Ruge ist bei allem Witz und Lesevergnügen die düstere Vision einer nicht sehr fernen Zukunft

Von Ulrike SchuffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Schuff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Reichlich desorientiert wacht Nio Schulz, Protagonist in Eugen Ruges neuem Roman Follower, in einem chinesischen Hotelzimmer aus Alpträumen auf, trotz Schlafmittels, einem Instant-Antidepressivum. Er braucht lange, um zu erkennen, wo er sich befindet, aber schlimmer noch sind die Zweifel und die Motivationslosigkeit beim Gedanken an die bevorstehende Verkaufsverhandlung mit potentiellen chinesischen Kunden, denen er – Associative Agent bei einem Marketingunternehmen – die neueste Geschäftsidee seiner Firma verkaufen soll: „True barefoot running“, ein immaterielles „Produkt“, das nach dem Nachtfederball mit fluoreszierendem Knicklicht und dem essbaren Zimmermädchenkostüm der neueste heiße Trend werden soll. Und Nios Chance, seine Position wieder zu festigen, die nach nur einem einzigen Verkaufsflop mit der fotoidentischen Atemschutzmaske „Fama“, an dem er im Grunde auch gar keine Schuld hatte, ins Wanken geraten ist. So bekämpft er Müdigkeit und Zweifel mit den Tricks seines Motivationscoachs und einem Decaff-Soja-Macciato mit natürlichem Ephedrin.

Schlimmer aber als Gemütstrübung und Zweifel ist der kurze Schockmoment, als seine GLASS ihn wiederholt nicht erkennt: das Horrorszenario der Totalsperrung seines Accounts. Denn an ihm und dem permanent erzeugten Nachrichtenstrom inklusive aller Identitätsnachweise (Profile, Playlists, Passwörter) hängt er wie an einem Tropf. Schulz versucht verzweifelt, in Form und up to date zu sein, das Richtige zu essen (Reismilch-Käse, Tofu-Eisbein), in die richtige Seite des Gender-Fahrstuhls einzusteigen und die korrekten Begriffe zu verwenden („ein als Roma oder Sinti oder Jenischer oder Angehöriger einer anderen zur Dauermigration gezwungenen Bevölkerungsgruppe Europas“ zum Beispiel), also unbedingt „pisi“ zu sein, weshalb er auch Mitglied der Selbsthilfegruppe der Anonymen kritischen weißen Heterosexuellen ist, die sich regelmäßig in der Steve-Jobs-Oberschule trifft. Und so beruhigt es ihn, der an diesem Tag 39 Jahre alt wird, dass es ihm noch immer gelingt, die kryptische Sprache der Jungmenschen zu entziffern: „g++fwh“ gleich „Geh sterben fetter weißer Hetero“.

Es sind nur minimale Verschiebungen und Übertreibungen, mit denen Eugen Ruge diesen Zukunftsroman, der im Jahr 2055 spielt, aus der Gegenwart entwickelt. Mit viel Witz und Zynismus spitzt er die Trends der Jetztzeit zu. Und die Leserschaft folgt dem aus dem Takt geratenen Antihelden mit Vergnügen und zunehmender Beklemmung durch eine chinesische Megastadt, die unter dem künstlichen UNIVERS-Blau wie ein riesiger Verkaufsstore anmutet, wo sich die Werbeslogans mit den politischen Nachrichten-Tweets aus Nios Bonephones zu einem entlarvenden Flosken-Einerlei vermischen, einem staccatohaften Permasound, garniert mit den Odeurs der verschiedenen Geruchsmarketing-Initiativen.

Auch formal geht der Autor neue Wege: Nios Geschichte wird in 14 Kapiteln erzählt, die jeweils aus einem einzigen Satz bestehen. Hinzu kommen Polizeiprotokolle, Kommunikationsdaten, Beziehungscluster und digitale Charakterprofile von Schulz und den Personen seines Umfelds (Mutter, Freundin, Chefin und der verhasste Kollege) und schließlich eine ganz persönliche Menschheitsgeschichte, die Genesis Schulz sozusagen, eine vom Urknall an in Kurzform erzählte Familiengeschichte, an deren Ende der „Follower“ Nio Schulz steht, dessen Persönlichkeitsprofil ihn laut ausgewerteter Metadatenkommunikation als Psychotyp „Fischkopf“ ausweist: „angepasst, leistungsbereit, zerrissen, unsicher, u.U. explosiv, keine Führungskraft“.

Während Nio auf seinem Weg durch die Stadt immer mehr die Orientierung verliert, seinen Termin verpasst und schließlich gänzlich vom Radar der Überwachungselektronik verschwindet, offenbart sich auch der wahrlich finstere Unter- und Hintergrund der schönen neuen Verkaufswelt in all ihrer Bedrohlichkeit und Menschenverachtung. Wie ein Gegenpol verdichten sich hingegen die von Anfang an eingestreuten Kindheitserinnerungen Nios an seinen Großvater – eine Gegenwelt aus Grasgeruch und Sensengeräusch, die aber nicht als solche funktioniert, denn der Großvater blieb ihm im Grunde fremd, es gab auch seit vielen Jahren keinen Kontakt und aus dem Newsfeed erfährt Nio vom Tod seines Großvaters. Dieser Alexander Umnitzer – Vertreter der Enkelgeneration in Eugen Ruges furiosem Erfolgsroman In Zeiten des abnehmenden Lichts – stirbt nicht nur ausgerechnet an Nios Geburtstag, sondern ist auch zur völligen Überraschung seines Enkels ein bekannter Schriftsteller, Autor des Erfolgsromans Follower.

Anders als die Vorgängergeneration im komplexen Beziehungsgeflecht von In Zeiten des abnehmenden Lichts ist Nio in Follower konsequenterweise völlig vereinzelt, trotz der Überpräsenz der Kommunikationsmittel kontaktlos – „echte“ Begegnungen gibt es fast nur mit roboterhaften Angestellten (oder Androiden?) und trotz der Bemühungen von Nios Freundin, eine Leihmutter zu finden (obwohl: „Manche tragen ihre Kinder ja wieder selbst aus“), wird dieser Nachfolger wohl der letzte in der Kette sein. Ein bitteres Ende und die düstere Prognose einer Realität, die so fern nicht ist.

Titelbild

Eugen Ruge: Follower.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016.
320 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783498058050

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