Liebe in aller Kürze

Der Gedichtband „von liebe viel“ präsentiert Doris Runges poetische Arbeit der letzten vierzig Jahre

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aus insgesamt elf Publikationen wurden in chronologischer Folge Gedichte aus Doris Runges Schaffen zusammengestellt. Auf jeder Seite des Bandes ein Text wie ein sehr schmaler Flattersatz, sprachlich ganz knapp und doch so randvoll mit Bedeutung angefüllt, wie es nur Gedichte sein können. Mehr als vier Worte pro Zeile kommen selten vor, oft sind es nur ein oder zwei. Die Moderne begann einst mit dem Aufruf zur Konzentration auf das Wesentliche, womit sich die Erkenntnis verband, dass Fülle und Vollständigkeit keine Frage der Quantität sind.

Doris Runge ist eine Meisterin der gerade beschriebenen ästhetischen Haltung, die offenkundig nicht nur Wirkung in der bildenden Kunst fand, sondern ebenso in der sprachlichen, und zwar gleich in einem doppelten Sinne. Doppelt deshalb, weil Runge mit nur wenigen Worten ganze Dramen erfasst und weil die Spanne vom Anfang bis zum Ende des Gedichts meistens auch die Essenz von Lebens- und Liebesgeschichten wiederzugeben vermag. Und sie haben immer einen Dreh- und Angelpunkt und mit ihm den Kippmoment, mit dem die Stimmung umschlägt, das Süße bitter, der Höhenflug zum Absturz wird. Das ist von großer Faszination. Ein paar Stichworte genügen, um einen Lebensroman zu umreißen. Ein Beispiel das Gedicht „dreimal“:

traf ich den engel
dreimal
bat ihn zu tisch
er trank meinen wein
er aß mein brot
er brach mein herz
der schmerz
gab mir augen
ohren mund wörter
reich war ich
als er ging
schickte er
dürre hunger
lehrte mich
lieben
den vogel der
über der wüste kreist

Der Band enthält ein Nachwort von Heinrich Detering, der zu Recht darauf hinweist, dass Doris Runge unbeirrbar die Phänomenologie der Liebe erkundet habe. Sie ist bei ihr immer ein Zustand der Gegensätze und Extreme, stets so, als treffe in ihr Feuer und Eis zusammen. Und so mute dieses Land der Geschlechterbeziehungen oft wie eine Kampfzone an. Detering hat auch recht, wenn er meint, diese Gedichte seien kantig, dass man sich daran schneiden könne (glücklicherweise nur im metaphorischen Sinne). Das Erstaunliche jedoch, dass man beim Lesen leicht über die Wörter hinweg gleitet und mit dem raschen Ende zugleich die Schwere ihres Gewichts spürt. Auch hier ein Beispiel, überschrieben mit „glücksspiel“:

zwei sind
einer zu viel
zum glück
zwei sind genug
für ein unglück
hat einer
den anderen
zum glück

In „die schleppe“ scheint Runge über das Dichten Auskunft zu geben, wenn es heißt „wie schwer / das leichte ist / wie schwer ist es / leicht zu werden“. Sie beherrscht es jedenfalls virtuos. Und manches bleibt auch rätselhaft: „manchmal nachts / die morde / die wir tagsüber / mit sauberen händen / begehen“. Und dann wieder das Sinnfällige, das in einem weiten Gedankenbogen das Ungleiche in eins bringt, wie etwa in „café niederegger“: „legen den kaffeelöffel / auf die untertasse / sanft / wie sonntags die blumen aufs grab“. Das sind, wie so oft in den Gedichten von Doris Runge, Augenblicke als Stimmungsbilder, in denen es keinen Platz für Romantik gibt, keine Verklärung, nur die Härte der klaren Erkenntnis.

Vier Jahrzehnte poetische Arbeit mit der Sprache – neben der stilistischen Kontinuität fällt vor allem diese nicht nachlassende Begabung für die absolute Konzentration im sprachlichen Ausdruck auf, dieses entschiedene Zurücknehmen, das – so paradox es klingt – ein umso größeres Mehr an Wirkung erzielt. Selten klingt Beiläufigkeit so eindringlich, so nachhaltig wie in den Gedichten von Doris Runge.

Titelbild

Doris Runge: Von Liebe viel.
Herausgegeben von Jörn van Hall und mit einem Nachwort von Heinrich Detering.
Wallstein Verlag, Göttingen 2023.
159 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783835355293

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