Kindheit und Jugend in Iran
In seinem postum erschienenen Buch „ein vibrierendes kind“ erzählt SAID in bekanntem Stil aus der Zeit vor seinem Exil
Von Christian Palm
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAm 15. Mai 2021 starb der Lyriker und Prosaautor SAID, der in Iran aufgewachsen war und ab 1965 in München gelebt hatte. Da sich der anfängliche Studienmigrant in Deutschland schnell zum politisch engagierten Exilanten entwickelt hatte, blieb die Rückkehr nach Iran für SAID – abgesehen von wenigen Wochen im Revolutionsjahr 1979 – bis zu seinem Tod unmöglich. In seinen von Anfang an ausschließlich deutschsprachigen Texten hat er sich immer wieder mit seinem Exil auseinandergesetzt und seine entschiedene Gegnerschaft zu den beiden aufeinanderfolgenden totalitären Regimes in seinem Herkunftsstaat, dem (1979 gestürzten) Schah-Regime und der bis heute existierenden Islamischen Republik Iran, kundgetan. Im März dieses Jahres, knapp ein Jahr nach seinem Tod, erschienen mit dem nachgelassenen Werk ein vibrierendes kind SAIDS „erinnerungen an eine persische kindheit“, die abrupt mit dem Abheben des Flugzeugs nach Deutschland endete, wie der Schlusssatz des Buches offenbart: „das kind flüchtet aus der kindheit.“ Dass sich die nur wenige Zeilen zuvor geäußerte Hoffnung der Großtante „auf seine rückkehr“ nicht erfüllen sollte, fällt aus dem Rahmen des Buches, ist aber aus anderen Werken und der Vita des Autors bekannt. In ein vibrierendes kind weisen lediglich die an einer Stelle erwähnten „aktivitäten“ des Protagonisten „im ausland“ sowie der Anfang des antizipatorischen Kapitels „in einem münchner café spricht ahmad“ bruchstückhaft auf das spätere Exil hin: „ich war nicht einmal in teheran, als dein vater starb, und du warst hier. jahre nach seinem tod fragst du nun, was er für ein mensch war?“
Zwar mag das autobiografisch grundierte Prosawerk ein vibrierendes kind im Klappentext als Roman bezeichnet werden, doch erzählt SAID seine Kindheits- und Jugenderinnerungen auf eine etwas andere Weise. Indem der Autor jede Seite zu einem Kapitel mit eigenem Titel macht, verleiht er seinem Buch vielmehr einen episodenhaften Charakter. Da die Kapitelseiten nicht vollgeschrieben sind, ist zudem die Lesedauer kürzer, als die 272 Buchseiten zunächst vermuten lassen. Mit ein vibrierendes kind knüpft SAID inhaltlich und formal an frühere Texte an. Wie schon der Titel, der Untertitel und die obigen Zitate zeigen, hält der Autor auch in diesem vermutlich letzten Werk an seiner seit 1999 etablierten Schriftästhetik fest, nach der alle Wörter kleingeschrieben werden.
Genau genommen handelt es sich nicht um das letzte geschriebene, sondern nur um das letzte veröffentlichte Werk SAIDs. So erläutert sein Freund Michael Scholz im Nachwort, dass der Autor ihm, dem Leiter des Literaturfests „Poetische Quellen“, das Manuskript schon 2014 geschickt habe und ihn um Hilfe bei der Suche nach einem Verlag gebeten habe. Erschienen ist das Buch erst acht Jahre später im Verlag C.H. Beck, der bereits die meisten SAID-Bücher von 1995 bis 2010 veröffentlicht hatte. Neben dem Verlag und der Kleinschreibung sind weitere Elemente typisch für SAIDs Literatur. Dass sich der Autor als Kind inszeniert und von sich in der dritten Person schreibt, ist dem geübten SAID-Leser ebenso bekannt – nämlich aus den Essays Die Sprache der Fremdheit und Freiheit (1997), ich und der islam (2005) und ein kind auf der suche nach europa (2010). Durch die Bezeichnung „das kind“ (anstelle von „ich“) betrachtet sich SAID gewissermaßen von außen und schafft eine für seine Selbstreflexion notwendige Distanz und Differenz zu sich selbst.
Darüber hinaus werden einige Informationen, Ereignisse und Erlebnisse wie die frühe Scheidung der Eltern während der Schwangerschaft, die Offizierstätigkeit des Vaters unter dem Schah, das für den Sohn auserkorene Ingenieursstudium in Deutschland, die Lektüre europäischer, in Iran verbotener Autoren (wie Camus, Sartre, Stendhal oder Gorki) oder der durch Schuldgefühle ausgelöste Traum vom Suizid des Vaters aus anderen Werken, insbesondere dem Langgedicht Selbstbildnis für eine ferne Mutter (1992) und der Erzählung Landschaften einer fernen Mutter (2001), wiederholt. Diese Liste ließe sich problemlos fortsetzen. In SAIDs letztem Buch zeigt sich somit erneut, dass sein Gesamtwerk – wie ich 2017 in meiner Dissertation argumentiert habe – durch eine werkinterne Intertextualität gekennzeichnet ist, die von frühen bis zu neueren Texten des Autors reicht.
Hatte sich SAID in Selbstbildnis für eine ferne Mutter und Landschaften einer fernen Mutter mit seiner doppelten Erfahrung eines Lebens ohne die „ferne Mutter“, also mit den Traumata der Mutterlosigkeit (SAID als Scheidungskind) und des Heimatverlusts (SAID als Exilant) autotherapeutisch auseinandergesetzt, so gilt das vordergründige Interesse nun anderen Themen – auch wenn die Sehnsucht nach der Mutter, wie das Exil, zumindest indirekt thematisiert wird: Da das Kind ohne leibliche Mutter aufwächst und zudem oft auf seinen Vater verzichten muss, der sich ständig auf Dienstreisen befindet, sucht es immer wieder Trost und Geborgenheit bei anderen Verwandten, die als Elternersatz taugen: „zu hause kriecht es unter den schleier von [groß]tante zinat“ und spricht Onkel und Tanten mit elterlichen Kosenamen wie „baba“ und „mama“ an. Während „mama charmante“ nicht nur „eine freundin für das leben“, sondern auch eine „zuflucht für das kind“ wird, „ohne eine gegenleistung zu fordern“, erinnert „mama rosa“, die jüngere Tante, den Neffen an einer Stelle an ihre begrenzten Kapazitäten als Ersatzmutter: „als wir in ahwas ausgingen, schriest du immer nach meiner hand. ich hatte zwei hände für meine kinder. aber du wolltest auch eine hand.“
Den Fokus richtet SAID in ein vibrierendes kind aber nicht mehr auf seine Mutterlosigkeit und sein Exil, sondern auf seine Kindheit und Jugend in Iran und der väterlichen Familie. Unter der durchgängigen Verwendung des Präsens wird unter anderem von der Beschneidung, der Schulzeit, prägenden Erlebnissen und Ausflügen mit Verwandten, Freunden und Fremden, den ersten sexuellen Erfahrungen, der Bücheraffinität und dem Freiheitsdrang der Titelfigur erzählt. Geboren in Teheran verbringt der Junge seine ersten Lebensjahre in Behbahān und Ahwas im Südwesten des Landes. Die Familie ist wohlhabend und gesellschaftlich geachtet. Als „herr oberst“ oder „herr leutnant“ muss der Vater bei Ärzten nicht bezahlen. „nein herr oberst, ich nehme kein honorar von meinen kameraden“, sagt zum Beispiel der Leibarzt des Schahs. Im Alter von sieben Jahren zieht das Kind mit seiner Familie nach Teheran. In den Sommermonaten lebt der Junge zudem zeitweise bei mama charmante im nördlichen Rascht, wo die Luft des Kaspischen Meeres anfangs Balsam für seine angeschlagene Lunge ist, sich später aber auch ein praktischer Abschiebeort ausmachen lässt, als sich die herrische Großmutter und der Vater wegen dessen neuer Frau in die Haare kriegen. Leidtragender dieses Streits ist der Jugendliche, der nach den Sommerferien in ein Internat kommt, das „bekannt für seine disziplin“ ist. Und dennoch: „das kind ist hier weit weg von den kämpfen. […] die nähe der anderen kinder tut ihm gut.“
ein vibrierendes kind ist aber nicht nur ein Coming-of-Age-Buch und eine Familiengeschichte, sondern gewährt dem deutschsprachigen Leser auch interessante Einblicke in das Land Iran der 1950er- und frühen 1960er-Jahre. Neben dem scharfen Kontrast zwischen westlichem Einfluss und islamischem Traditionalismus, der sich in dieser Zeit auftut, fallen besonders zwei weitere Merkmale ins Auge: Durch die Präsenz von Arabern, Schwarzen, Juden, Armeniern, Aserbaidschanern oder Kurden wird erstens die ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt in Iran hervorgehoben. Teheran wird beispielsweise als „stadt“ mit „vielen gesichtern“ gezeigt. Unter den iranischen „nationalhelden“ befindet sich bezeichnenderweise ein Georgier, dessen Grabmal in einer Kirche ist. Hierzu passt auch, dass die Zentralmoschee und die Hauptsynagoge in Isfahan fast nebeneinander liegen und beide „für alle“ Menschen offen sind. Während der ansässige Rabbiner für das Kind und „für unser land“ betet, hat die Großmutter – auch diese Schattenseite der interkulturellen Gesellschaft sei erwähnt – antisemitische Einstellungen und lässt zum Beispiel ihren Enkel aus Angst vor jüdischen Kindesentführern nicht allein zur Schule gehen. Zweitens wird im Buch, besonders in der zweiten Hälfte, der Totalitarismus unter dem Schah demaskiert. Schon bei Schülern „löst“ der Name SAVAK sofort „schrecken aus; der geheimdienst ist berüchtigt für seine methoden – es folgt schweigen.“ ein vibrierendes kind legt Zeugnis davon ab, wie sich das Schah-Regime durch Zensur, Inhaftierungen, Folter und Hinrichtungen seiner Feinde entledigt, zu denen vor allem Kommunisten gezählt werden. Als beispielhaft erscheint das Schicksal eines ehemaligen Kollegen des Vaters:
der mann erzählt, daß er kommunist gewesen ist, aus der armee entlassen wurde und zehn jahre haft hinter sich hat. […] vater und sohn sitzen auf hockern neben dem freund und essen kartoffeln mit der hand. „weißt du, mein sohn, einmal wollten wir die welt ändern. heute bin ich froh, wenn ich meine frau behalten kann.“
In Anbetracht dessen, dass SAID letztes Jahr verstorben ist, sind weitere postume Publikationen aus dem Nachlass mehr denn ungewiss. Bevor SAID als Autor aber für immer verstummt, hat er sein Gesamtwerk mit den Erinnerungen an die Zeit vor seinem langen Exil in Deutschland lesenswert abgerundet. Am Lebensende steht der Blick zurück in die ferne Kindheit, die SAID als extrem prägend für sein weiteres Leben betrachtet hat. „es ist nicht entscheidend“, schrieb er im Jahr 2005, „was der erwachsene später räsoniert, sondern was das kind gesehen, gerochen und gehört hat.“ Als der Protagonist von ein vibrierendes kind einmal ins Internat zurückkehren soll, „gibt [die Großmutter] ihm das geld für den bus. das kind geht zu fuß. es muß seine stadt sehen, seine augen brauchen das.“ Bei aller Kritik am Schah-Regime, die sich ebenfalls in ein vibrierendes kind findet, gilt für SAIDs wohl letztes Buch in gewisser Weise das Gleiche, was der Autor schon 1985 in einem Interview über seinen frühen Lyrikband Wo ich sterbe ist meine Fremde gesagt hat. Denn auch seine postum erschienenen Kindheitserinnerungen lassen sich als „Liebeserklärung an ein Land [lesen], welches ja nicht mehr existiert.“
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