Ein prekäres Verhältnis
James Sallisʼ „Willnot“ ist nur vorgeblich ein Krimi – tatsächlich lesen wir eine wunderbare erzählerische Reflexion über die Grenzen zwischen Leben und Tod
Von Walter Delabar
James Sallis ist ein ungewöhnlicher Autor, erst recht, wenn man sein Werk dem Krimi-Genre zuschlägt, wohin es sich allerdings nur mit Mühe fügen lässt. Sicher, sein eben auf deutsch erschienener Roman Willnot hat zu Anfang gleich eine große Krimi-Szenerie: Ein Grab mit drei Leichen, die bereits vor längerer Zeit verscharrt worden sind. Kurze Zeit später wird ein Mann angeschossen, der sich ohne ersichtlichen Grund in der Gegend herumtreibt. Wie überhaupt Männer mit militärischer Ausbildung eine große, auch beunruhigende Präsenz in Willnots Roman haben. Angeblich ist dieser Brandon Lowndes ein Scharfschütze, der sich unerlaubt von seiner Einheit entfernt hat. Im Laufe des Romans taucht dann nicht nur eine FBI-Agentin auf, die sich kurze Zeit später vom Dienst verabschiedet, sondern auch ein weiterer Mann, ebenfalls ein Scharfschütze, der vom Sheriff zufällig dingfest gemacht werden kann. Sie alle verschwinden irgendwann spurlos.
Im Zentrum des Romans steht ein lokaler Arzt, Lamar Hale, der in die Untersuchung des Leichenfundes eingebunden wird und darüber hinaus die Verletzungen der diversen Männer mit militärischem Hintergrund behandelt. Der Roman macht ihn zu erzählenden Instanz, es ist sein ganz persönlicher Bericht, der hier zu lesen ist. Es dauert nicht lange, bis erkennbar ist, dass von diesem Bericht alles mögliche zu erwarten ist, aber keine Aufklärung, zumindest was die Morde und andere Vorfälle angeht. Und das ist unerhört.
Haben wir denn nicht vor langer Zeit gelernt, dass der Krimi zuerst einmal die Irritation von geordneter Welt inszeniert? Angezeigt durch den wohl extremsten Verstoß gegen das Ordnungsprinzip, den Mord, um diese Irritation schließlich durch die Aufklärung des Mordhergangs und die Identifizierung des Mörders wieder aufzuheben? Das ist ein bis heute gut einklagbares Erklärungsmuster, das selbst für extreme Inszenierung, wie sie etwa im skandinavischen Krimi en vogue sind, eine hinreichende Entlastung bringt, damit kann bis heute gut leben und Krimis lesen.
Und nun das? Über gut 200 Seiten folgen wir jenem Lamar Hale, der als Inkarnation des guten Menschen erscheint, wenngleich er wie alle anderen auch von Gespenstern verfolgt wird. Von seiner Vergangenheit, von seinen Ängsten, von der Furcht zu versagen und jemanden zu verlieren. Die Gewalt muss nicht in das Leben dieses Mannes einbrechen, denn sie ist immer schon da, als menschengemachte Gewalt ebenso wie als naturgegebene, die sich als Krankheit verdeckt. Hales Selbstverständnis ist das eines Handwerkers, der sich darum kümmert, dass in seinem Fall Menschen funktionieren oder wiederhergestellt werden. Das hört sich sehr mechanisch an, vielleicht materialistisch. Aber die Entlastung, die darin liegt, dass er auf diese Weise zu seinen Patienten auf Distanz gehen kann, ist offensichtlich. Dass er intuitiv darüber hinaus geht, zeigt sich immer dann, wenn er an den Betten seiner Patienten sitzt, ihnen zuhört oder mit ihnen spricht.
Hale ist, das wird mehr und mehr offensichtlich, jemand, der sich in der Grauzone, im Übergangsbereich von Leben zu Tod bewegt, und der gegen das Vergessen, das mit dem Tod verbunden ist, die aktive Erinnerung setzt. Die an seinen Vater, der als Science-Fiction-Autor bekannt geworden ist und dessen umfangreiches Werk zu lesen Hale nie zu einem Ende zu kommen scheint, steht dabei an vorderster Stelle. Um sein Thema aber voranzutreiben, muss dieser erzählende Arzt nicht nur solch anrüchige Themen wie das Verhältnis des utilitaristischen Sohnes zum kreativen Vater bemühen. Dafür reichen auch die Blicke, die er auf seine Beziehung zu seinem Partner Richard wirft, der erst Lehrer, später Schulleiter im Ort ist, oder auf ihren gemeinsamen Kater Dickens, der im Laufe des Romans stirbt. Das ist große Kunst, mindestens aber großes Können.
Die Furcht, die in der Reflexion über den Übergang zwischen Leben und Tod immer wieder durchscheint, wird gebannt, interessanterweise durch die Literatur. Der junge Nathan, der zwischenzeitlich vermisst worden ist und durch den herumstreunenden Marine wieder nachhause gebracht wird, liest Theodor Adornos Minima Moralia – in dieser Kleinstadt irgendwo in den USA –, und will darüber dringend mit Richard sprechen. Und der Marine, der von einem Kollegen angeschossen wurde – ein Gruß unter Freunden –, schreibt an Hale eine Postkarte, in der er die andere Seite des ewigen Lebens anspricht: Leute, die ewig leben, müssen alle hundert Jahre ihre Erinnerungen löschen lassen. Eine Geschichte, die von Hales Vater stammen könnte.
Aber die Gewalt bleibt nicht nur eine Erfahrung, die die anderen machen müssen. Die Kontingenz bricht eben auch in Hales prekäre Welt ein. Richard wird angeschossen und überlebt nur knapp. Eine Erfahrung, die sich in seinen Körper einschreibt, ein Hinken und eine Hand, die nicht immer das tut, was sie soll. Das ist, was bleibt – und irgendwann untergeht, nicht ohne dass etwas Neues entsteht. Alles ist im Fluss, und deshalb gibt es so etwas wie eine geordnete Welt nicht. Sallis beschreibt das sehr genau.
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