Die Einsamkeit des Menschen in Gesellschaft

James Salters gesammelte Erzählungen sind Meisterwerke des lakonischen Alltags-Realismus

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man kann natürlich über Sinn und Unsinn von kaum veränderten Neuausgaben älterer Texte streiten. Die hier von James Salter noch vor seinem Tod 2015 in einem Band zusammengestellten Erzählungen seiner Sammlungen „Letzte Nacht“ (1988) und „Dämmerung“ (2005) wurden geringfügig überarbeitet sowie ergänzt und in der amerikanischen Originalausgabe (2013) nur um eine neue, titelgebende Erzählung („Charisma“) erweitert. Für die deutsche Ausgabe wurden die von Salter vorgenommenen Änderungen aufgegriffen und eingearbeitet, ansonsten aber auf die kongenialen und bewährten Übersetzungen von Beatrice Howeg und Malte Friedrich zurückgegriffen. Die deutsche Ausgabe enthält daneben noch Salters 2014 an der Universität Virginia als Writer in Residence gehaltenen „Kapnic-Letures“, die ebenso wie das kluge Vorwort von John Banville und die neue Erzählung „Charisma“ von Nikolaus Hansen übersetzt worden sind. Die Geschichten haben seit ihrer Erstpublikation nichts von ihrer Faszination, Stilsicherheit und Brillanz verloren. Sie nach Jahren wiederzulesen ist intellektueller Gewinn, ästhetischer Genuss und unerhört bereichernd.

James Salter ist in Deutschland ohnehin recht spät entdeckt worden – die erste deutsche Übersetzung seines in der Originalausgabe bereits 1975 erschienenen Romans „Lichtjahre“ kam erst 1998 heraus. Die vorliegende Neupublikation seiner Erzählungen ist ein willkommener Anlass, den Autor wieder- oder neuzuentdecken. Salter, der als James Arnold Horowitz 1925 in New Jersey geboren wurde und anfangs neben der Schriftstellerei noch seinem Beruf als Pilot der amerikanischen Luftwaffe nachging, war kein Vielschreiber, sein Werk ist überschaubar. Seine tiefsinnigen, atmosphärisch dichten und nachdenklichen Romane und Erzählungen sowie seine Erinnerungen („Verbrannte Tage“, dt. 2000) eröffnen aber ein breites Kaleidoskop amerikanischer Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit einem ausgesprochen feinem „sense of time and place“, das zu Unrecht über viele Jahre im Schatten von John Updike oder Philip Roth stand.

Seit Rainer Maria Rilkes erster „Duineser Elegie“ wissen wir: „Das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen“. So ist es auch mit den meisterhaften Erzählungen von Salter. Sie erzählen formvollendet und mit unnachahmlich poetischer Lakonie von Abgründigem und Schrecklichem, das meist als Alltägliches daherkommt. Die Erzählungen ergötzen sich dabei aber nicht in destruktiver und selbstzerstörerischer Weise am meist leise und unscheinbar einsetzenden Unglück ihrer Protagonisten, sondern sind Belege für das brillante Talent des Autors, Lebensgeschichten und Lebensentwürfe aus der Mitte der amerikanischen Gesellschaft von den 1960er-Jahren bis zur Jahrtausendwende unaufgeregt erzählerisch zu sezieren. Die meisten Texte umfassen kaum mehr als 15 Seiten und sind keine Stories im Hemingwayschen Sinne. Sie bedienen sich nur bisweilen erzählerischer Mittel der Short Story wie etwa der extremen Verknappung und Ausschnitthaftigkeit. Sie erzählen aber nicht selten auch größere Zeiträume mit einer auffälligen Tendenz zu Leerstellen, was man aus Salters Romanen „Lichtjahre“ (1975) und „Alles was ist“ (2013) ebenfalls kennt. Die Momentaufnahmen werden oft kombiniert mit Rückblicken, sodass sich Vergangenheit und Gegenwart in den Erzählungen für die Protagonisten und den Leser auf verstörende Weise überlagern und vermischen.

Gerade um die Wahrnehmung, Beurteilung und Bedeutung von Gegenwart und Vergangenheit geht es leitmotivisch in den Erzählungen. Wir haben es mit New Yorker Börsenmaklern, alten Jungfern aus Illinois, reichen Witwen, durchschnittlichen Ehepaaren, Ehebrechern, verzweifelten Handwerkern aus North Haven, Freunden und Jugendfreunden, Schriftstellern und Rechtsanwälten zu tun, die in ihrem Ringen um eine Gegenwartsdiagnose und die eigene Selbstwahrnehmung sowie in der Stellung zu ihrer Vergangenheit dargestellt werden. Die meisten Geschichten zeigen Menschen und deren Lebenslügen und Lebensträume, ihre Furcht, etwas nicht mehr zu schaffen respektive zu sehen oder jemanden nicht mehr zu erreichen. Meist sind die Erzählungen auch in mittel- und großstädtischen Milieus angesiedelt und spielen sich in Bars und Büros, in Clubs oder in der Privatwohnung ab. Immer aber wird das Individuum dort gezeigt, wo es nicht allein aber oft am einsamsten und verloren ist: in der Ehe, bei Abendessen mit Freunden und in Bars. Immer sind es feinste Haarrisse, unscheinbare Erlebnisse wie die Begegnung mit einem Hund („My Lord“) oder ein toter Vogel („Am Strande von Tanger“), die zu großen Erosionen in unterschiedlichsten menschlichen Beziehungen führen. Die Veränderungen werden von den Beteiligten zunächst oft kaum beachtet. Die Erzählungen entfalten dann aber sukzessive die mentalen Folgen dieser Umbrüche und stellen die erzählte Gegenwart ihrer Protagonisten auch immer als Ergebnisse ihrer Vergangenheit dar, mit der sie aber nicht umzugehen wissen.

Nach außen hin sind die meisten der Figuren erfolgreich und führen ein angenehmes Leben wie etwa der Börsenmakler Arthur in „Palm Court“. Die Begegnung mit seiner einzigen großen Liebe nach vielen Jahren macht ihm nicht nur die Unumkehrbarkeit einer falschen Lebensentscheidung bewusst, sondern ruft ihm auch schmerzhaft die Einmaligkeit von Augenblicken und vergangenen Glücksmomenten in Erinnerung. Die Vorgeschichte und der lange Nachhall der Trennung werden ebenso knapp wie präzise erfasst: „Nach diesem Abend verschwand sie. Nicht plötzlich, aber es dauerte nicht lange. Sie heiratete Bobby. Es war so schlicht wie ein Todesfall, aber es hielt länger an. Es schien nicht weggehen zu wollen. Sie blieb in seinen Gedanken.“ Wie so viele andere Figuren aus Salters Erzählkosmos versucht auch Arthur verzweifelt, die glücklichen Momente der Vergangenheit zu rekonstruieren und zu wiederholen und scheitert ebenso daran wie das ehemalige Liebespaar aus der Erzählung „Bangkok“.  Dabei wird nicht etwa die materielle Seite zerbrochener und zerbrechender Beziehungen gezeigt, sondern deren psychologische Dimensionen. Aus der einst großen Liebe zwischen Hollis und Carol, dem großen Glück, das man leichtfertig verspielt hat, wird in „Bangkok“ zerstörerischer Hass, der offenbar als einziges alternatives Gefühl an die Stelle der Liebe zu treten vermag.

Es ist eine der herausragenden Qualitäten von Salters Erzählungen, dass sie ohne Moral oder moralisierende Tendenz auskommen. Sie konzentrieren sich auf die Darstellung des Menschen im Spannungsfeld von Freundschaft, Partnerschaft und Arbeitsleben und bewegen sich nur scheinbar an der Oberfläche. Das auffälligste erzähltechnische Charakteristikum aller Geschichten ist Salters Verzicht, seine Erzähler ausufernde Beschreibungen des Innenlebens der Figuren präsentieren zu lassen. Wenige Sätze wie „Etwas war in ihm erloschen“ („Akhnilo“) oder „Es ist nie, wie es sein sollte oder wie es mal war“ („Bangkok“) reichen aus, um ganze Figuren-Konstellationen, Sinnkrisen und Spannungsfelder zu konturieren. Die zurückhaltende Erzählweise ruft beim Leser den Eindruck hervor, als würden sich die Geschichten selbst erzählen. So schlicht und lakonisch wie die Abgründe und das Unglück der Protagonisten dargestellt werden, so einfach ist auch ihre Botschaft: Alle suchen Erlösung.

Titelbild

James Salter: Charisma. Sämtliche Stories & drei literarische Essays.
Mit einem Vorwort von John Banville.
Übersetzt aus dem Englischen von Beatrice Howeg, Nikolaus Hansen und Malte Friedrich.
Berlin Verlag, Berlin 2016.
304 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783827013279

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