Vom Schachspiel und dem Liebeskampf

Matthias Aumüller präsentiert in „Das Schachspiel in der europäischen Literatur“ fünf Schach-Poeme – und mehr

Von Siegfried SchönleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Siegfried Schönle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Schachspiel in der europäischen Literatur? Ein überaus weit gefasster Buchtitel, der auf 266 Seiten kaum das einhalten kann, was er verspricht. Deswegen wird auch sogleich in der lesenswerten Einleitung von Matthias Aumüller wohlbegründet eingegrenzt. Hingegen ist die Wahl des Titelfotos eindeutiger, da unschwer zu erkennen ist: Hier geht es um Liebe/Eros und das Schachspiel. Wer wird im sogenannten Liebeskampf besiegt, die Frau (Venus) oder der Mann (Mars)?

Den Leser erwartet im Folgenden eine vielschichtige Behandlung von fünf Schach-Poemen, die alle eines gemeinsam haben: In ihnen geht es vornehmlich um die Liebe und ihre Verbindung zum Schach. Europäisch ist der Rahmen, weil die Schach-Poeme auf Altkatalanisch, Neulateinisch, Polnisch, Italienisch und Englisch verfasst sind. Auch jeweils eine eigene Gestaltung einer Schachpartie gehört zu allen Poemen.

Dabei erhält der Leser einen Einblick in die europäische Literaturgeschichte, die sich über die Jahrhunderte nie isoliert in einem Land, sondern immer im Austausch der verschiedenen Literaturen und deren Kulturen entwickelt hat. Offen bleibt, warum kein deutschsprachiges Gedicht in diese Reihe passt. Mit der Analyse dieser Gedichte gelingt es dem Verfasser, einen Zeitraum – nimmt man das erste Kapitel heraus – der europäischen Kultur und Historie von circa 1470 bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen.

Zwei weiteren möglichen Vorbehalten ist vorweg zu begegnen. Kaum jemand wird die genannten Sprachen vollständig im Original lesen können, deswegen sind fundierte Übersetzungen der Gedichte in die deutsche Sprache in Abschnitten in den Druck gelangt. Ein zweiter Vorbehalt mag dem Schachspiel gegenüber bestehen: ‚Ich kann kein Schach spielen‘, ‚Das Spiel ist langweilig‘ … Weit gefehlt, denn schachspezifische Kenntnisse wie die der Schachnotation, der Spielstrategie oder Spieltaktik benötigt der Leser ebenfalls nicht oder nur in sehr geringem Maße.

Zum Beginn wirft der Autor einen „Blick auf die außereuropäische Herkunft des Spiels“. Und dieser Blick ist alles andere als ein flüchtiger. Was erwartet den Leser? „Ein Streifzug durch die Literatur des Mittelalters und die Schachgeschichte der frühen Neuzeit, bei dem die Texte und wichtigsten Passagen ausführlich vorgestellt und im Kontext der Zeit erklärt werden.“ Hinzu kommen Kapitel mit biographischen Informationen zu den Autoren sowie Mitteilungen zu den jeweiligen historischen Hintergründen aus den Entstehungsepochen der Gedichte wie dem Mittelalter, der Renaissance oder dem England des 18. Jahrhunderts. Diese wecken weiteres Interesse, sollte der Leser lediglich eine rein philologische Gedichtanalyse erwartet haben.

Das einleitende Kapitel über die mittelalterliche Literatur zum Schach zeigt, wahrscheinlich für manche überraschend, sowohl die große Bandbreite an Schachmotiven in der Literatur als auch die weite Verbreitung des Schachspiels in der europäischen Kultur der damaligen Zeit. Zu nennen sind hier die thematischen Aspekte, das heißt, woher das Schachspiel kommt, ferner der mittelalterliche Klerus, der erste Stand, und das moralische Problem: Ist es christlich, Schach zu spielen und mit diesem Spiel Zeit zu verbringen? In diesem Zusammenhang bietet Aumüller eine gute Erklärung zum Gedicht von Einsiedeln, dem versus de scachis aus dem 10. Jahrhundert.

Es folgt das Schachspiel als „Modell“ zu einer geordneten Gesellschaft anhand der Predigten des Jacobus de Cessolis. Aber das Schachspiel ließ noch Weiteres zu: Es war Sinnbild des Daseins und verwies auf Dualitäten wie Leben und Tod, Sünde und Heilserwartung. Die Bildsprache, die mithilfe des Schachbrettes und seiner Figuren ermöglicht wurde, strahlte auch in andere Kulturbereiche aus, weil sich mit ihm schwierige Zusammenhänge erklären ließen. Diese Aspekte lassen sich grob dem religiösen Kontext zuordnen.

Eine wirklich hilfreiche und gut zu lesende Überschau gelingt dem Autor, indem er sich auch der weltlich-höfischen Lebenssphäre zuwendet: Schach und Ritter sowie die Vielzahl der heute bekannten Schachszenen in höfischen Epen und Romanen. Angedeutet wird dies durch Tristan und Isolde, den Parzival und Flore und Blanscheflur. In allen Texten spielt das zentrale Thema – Schach und Liebe – eine Rolle. Selbstverständlich erlaubt der Aufbau ein Überspringen der folgenden Details (Schach als Liebesmetapher und -symbol; die Allegorie vom Liebesschach), um mit Gewinn direkt die Zusammenfassung zu studieren.

Das gilt auch für die folgenden Kapitel, in denen die einzelnen Schachgedichte vorgestellt werden. Auch hier kann man sich, je nach Interesse, ganz auf Vida oder William Jones einlassen oder begrenzen auf Informationen zu den Autoren, die zeitgeschichtlichen Hintergründe (Renaissance, Barock, 18. Jahrhundert), die Inhalte der Gedichte und deren Sprache, nicht zu vergessen natürlich auch die vom Autor angebotenen Interpretationen.

Aumüller verfasst seine Ausführungen in einer gut zu lesenden Sprache, die verständlich ist, weil auf Fachbegrifflichkeiten weitgehend verzichtet wird. Sollten diese notwendig sein, werden sie sauber erklärt. Lesefreundlich sind die Abhandlungen auch, weil keine Fußnoten den Lesefluss behindern. Jedes Kapitel ist nicht mit Hinweisen auf Sekundärliteratur ‚belastet‘, sondern diese lässt sich, bei Bedarf, in gesonderten Abschnitten am Ende nachlesen.

Der Gang der Analyse lässt sich grob so zusammenfassen: Das katalanische Schachgedicht Scachs d’amor ist in mancherlei Hinsicht mittelalterlich geprägt. Die im Gedicht vermittelte Spielweise und die Sprache reichen bis in die beginnende Neuzeit. Scacchia Ludus des Bischofs Marco Girolamo Vida von 1527 verzichtet auf das Thema Liebe, betont hingegen das Spiel als göttliche Kunst. Weltlicher geht es bei Jan Kochanowski zu, in dessen Gedicht Szachy zwei Männer in einer feudalen Welt um die Gunst einer Frau spielen. Allerdings ist hier die Frau nicht mehr die aktive, sondern Objekt des Geschehens. Dies unter dem Eindruck des Gedichtes von Vida, dem der polnische Dichter seine Ehre erweist.

Das Zeitalter des italienischen Barocks wird mit dem Poem L’Adone des Giambattista Marino plastischer. Adonis, der schöne Jüngling und Jäger, und Venus, die Göttin der Liebe, sind die Handelnden und Marino erlaubt zum Schluss hin deren Vereinigung. Schachlich von besonderem Interesse ist der Gesang XV. Ein Schachbrett steht auf einem Tisch, die Figuren werden erklärt wie die Schachregeln, die auch das Ziel nennen. Das Spiel dient dem Zeitvertreib der Liebenden. Es beginnt mit einem Doppelschritt des Damenbauern durch Venus, es folgen der Abtausch von Bauern sowie Rochaden. Auch die Springergabel ist dem Dichter schon bekannt. Mit göttlicher Hilfe Merkurs, mit Falschspiel und dem Einsetzen schon geschlagener Figuren gelingt Adonis scheinbar ein Sieg. Doch Venus durchschaut dies – obwohl sie unter dem Brett mit den Füßen zuvor ihre Liebe signalisiert, streicht sie ärgerlich alle Figuren vom Brett. Strittig ist daraufhin, wer dieses Spiel gewonnen hat.

Das sechste Kapitel bildet mit dem Gedicht Caïssa von Sir William Jones (1746–1794) den Abschluss der Untersuchung Matthias Aumüllers. Caïssa, or the Game at Chess, a Poem – so lautet der vollständige Titel des Gedichtes, mit dessen Namen sich der Autor berühmt gemacht hat, weil heute die Schachgöttin Caissa wohlbekannt ist.

Im Jahr 1763, im Alter von 17 Jahren, schrieb Jones Caïssa in lateinischen Hexametern mit starken Bezügen zu Scacchia Ludus. Aumüller nennt das Gedicht „ein spätes Echo“ auf Vida. Jones gab damit einen mythischen Ursprung des Schachs an, der dann auch zu einer Art Mythos geworden ist. Caïssa wird seitdem als „Göttin“ des Schachs bezeichnet, wobei ihr Name in verschiedenen Zusammenhängen im modernen Schachspiel, auch in der Sprache der Spieler, verwendet wird. Jones, eher bekannt als Wissenschaftler, veröffentlichte im jugendlichen Alter auch eine englischsprachige Version des Gedichts.

In der Rahmenerzählung spielen zwei Nymphen, Sirena und Delia, Schach. Daphnis ist ihr Lehrer und Schiedsrichter. In der Binnenerzählung in einer mythischen Landschaft jagt eine Baumnymphe einen Hirsch, ist aber vor allem für ihre Schönheit berühmt – das ist Caïssa.

Diese wehrt zunächst die Liebesbemühungen des Kriegsgottes Mars ab. Verschmäht sucht Mars die Hilfe eines Gottes, der das Schachspiel als Geschenk für Mars erschafft, um Caïssas Gunst zu gewinnen. Mars erhält daraufhin ihre Zuneigung, allerdings nur, weil diese an seinem Schachbrett Gefallen findet. Auch in der weiteren Rahmenerzählung, in der Daphnis eine auf Verlust stehende Partie für Sirena fortsetzt, gelingt ihm kein Gewinn, da die Schönheit Delia über Daphnis siegt. Dies alles geschieht während eines Königsgambits, in der auch eine Bauernumwandlung beschrieben wird.

Detaillierte biographische Bemerkungen schließen das Kapitel, wobei man von weiteren interessanten Fähigkeiten des begabten Dichters erfährt, etwa dass er elf Sprachen beherrschte.

Die ‚einfache‘ Sprache des Autors ist bewusst gewählt und nicht die eines schwer zu verstehenden Fachwissenschaftlers. Die stilistische Einfachheit zeigt sich dabei als eine gute Wahl, um die Distanz zwischen dem Dargestellten und dem Leser zu minimieren, sodass eine möglichst breite Leserschaft angesprochen wird. Im Kapitel zu Vida formuliert Aumüller, man müsse nicht „allzuviel“ über literarische Vorgänger wissen, um ein Werk verstehen zu können: „Was man wissen muss, enthält es idealerweise selbst.“

Bezogen auf das Buch lässt sich feststellen, dass diese Abhandlung in hohem Maße genau das enthält, was man zum Schachspiel in der Literatur vom Mittelalter bis in die Neuzeit wissen sollte. Interessierte, und das heißt: sicher nicht nur Schachinteressierte, sollten es daher unbedingt lesen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Matthias Aumüller: Das Schachspiel in der europäischen Literatur. Von den Anfängen bis zu den großen Schach-Poemen der Frühen Neuzeit.
Joachim Beyer Verlag, Eltmann 2023.
266 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783959201902

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch