Menschen mit Migrationshintergrund als neue Norm?

Sunita Sukhana stellt den Weg ihres Vaters von Indien nach Deutschland in den Kontext zeitgeschichtlicher Ereignisse

Von Christine SchachtnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Schachtner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einer Nacht im Dezember 1978 kocht eine Mutter für ihren Sohn Bagicha im indischen Bundesstaat Pandschab Kheer, heißen Milchreis, als Abschiedsmahl. Bagicha, indischer Meister im 400-Meter-Lauf und Angehöriger der Sikhs, will Indien verlassen. Die Begegnung mit Hippies Anfang der 70er Jahre an einem Strand in Goa hat seine Sehnsucht nach dem Westen geweckt. Paris, die USA, Kanada sind seine Sehnsuchtsorte.

Es war während des Coronalockdowns als Sunita Sukhana die Idee entwickelte, ein Buch über die Migration von Bagicha, ihren Vater, zu schreiben. Sie begann, lange Gespräche mit ihrem Vater zu führen. Sunita Sukhana ist in Deutschland geboren, wo Bagicha nach seinem Aufbruch aus Indien schließlich ankam, blieb und eine Familie gründete.

300 Dollar hatte Bagicha als Elektroingenieur bei der Indian Railway für seine Reise in den Westen gespart. Damit wollte er auskommen. Aber das erwies sich immer wieder als schwierig. Viele Hindernisse taten sich auf, die Bagicha unvorbereitet trafen. Es begann schon damit, dass sich sein Flug wegen Schneesturms vom Dezember in den Januar verschob. Angekommen in Kabul Anfang Januar 1979, versanken seine Füße im Schnee und auch sonst steckte er fest, denn für seine Weiterreise in den Iran und in die Türkei brauchte er ein Visum, das er bereits in Indien hätte beantragen sollen. Er schaffte es aber mit der Hilfe von freundlichen Fremden zu den nötigen Papieren zu kommen und verließ die jeweiligen Länder kurz bevor es in Afghanistan zur Invasion durch die Sowjetunion und in Teheran zum Sturz des Shahs kam.

Die Autorin setzt die Migration des Vaters immer wieder in Beziehung zu parallel stattfindenden politischen Ereignissen von weltweiter Brisanz und zeigt auf, wie diese Ereignisse bereits die Gespräche des Vaters mit den Menschen in diesen Ländern prägen. Diese ahnen, dass große Veränderungen auf sie zukommen würden und empfehlen Bagicha das jeweilige Land so schnell wie möglich zu verlassen. Zuweilen stößt er auf Verhaltensweisen und Stimmungen in den Ländern seiner Durchreise, die ihn irritieren, etwa auf die Sympathie für Indira Ghandi in Bulgarien. Bagicha war kein Fan der ehemaligen Premierministerin aufgrund der von ihr erlassenen Notstandsgesetze, in deren Folge, so die Autorin, die freie Presse verboten und politische Gegner verhaftet wurden, was aus Sicht von Bagicha nicht der Friedens-, sondern der Machtsicherung der Premierministerin diente. Drei große stämmige Männer, die Bagicha in einer Bahnhofsbar in Bulgarien traf, sahen das anders, weshalb er sich dazu hinreißen ließ, Indira Ghandi zu loben, weil er befürchtete, sonst verprügelt zu werden. Die Tochter geht später der Frage nach, wie sich das Verhalten der bulgarischen Männer erklären lässt und findet heraus, dass es an den damaligen guten Beziehungen Indiens zur Sowjetunion gelegen haben könnte. Bevölkerungsteile in Ländern des Warschauer Pakts wie Bulgarien könnten diese Beziehungen wohlwollend aufgenommen haben.

Bagichas Reise führt weiter und wird mehrmals von Zufällen gesteuert. Auf dem Weg mit der Bahn von Sofia nach Belgrad lässt er sein vorläufiges Traumziel fallen, weil ihm ein Mitreisender empfiehlt, lieber Deutschland anzupeilen, da es dort Arbeit gebe. Aber auch das funktioniert nicht sofort. Er landet, ohne es zunächst zu wissen, in Ost-Berlin, und fragt sich, wie er ohne Geld in den Westen gelangen soll, denn Dollars werden nicht anerkannt. Bagicha fürchtet, einen Schritt vor seinem Ziel aufgeben zu müssen. Es wäre in seinen Augen der „schlimmstmögliche Ausgang seiner Reise“ gewesen. Ein Pakistani kauft ihm ein Ticket, ausgerechnet ein Pakistani, was Bagichas Position wieder einmal auf den Kopf stellt. Indien und Pakistan verbinden viele Vorurteile und eine „alte Feindschaft“. Später im Buch charakterisiert die Autorin diese Begegnung als die „vielleicht wichtigste Erfahrung meines Vaters“. Sie kritisiert den Vater, der ihr trotz dieser Erfahrung Distanz und Skepsis gegenüber den Pakistanis zu vermitteln suchte. Wieso verhält sich der Vater so? „Weil sie auf der anderen Seite einer Ländergrenze aufgewachsen sind? Weil sie eine andere Religion haben, eine, mit deren Anhängern die Sikhs jahrhundertelang Krieg führten?“ Der Autorin geht es, so drängt sich der Rezensentin spontan auf, nicht nur um eine vereinzelte Beobachtung. Sie scheint sich mittels dieses Beispiels als Kritikerin eines allgemeinen Trends zu positionieren, der auf Abgrenzung und Abwertung von denjenigen setzt, die eine andere Sprache sprechen, die eine andere Religion haben, die eine andere Hautfarbe haben, ein Trend, der sich in westlichen Migrationsgesellschaften heutzutage rasant ausbreitet und eine migrationsfeindliche Stimmung erzeugt.

Von West-Berlin reist Bagicha nach Düsseldorf, lebt zuerst in einem Wohnheim der Caritas und als er eines Tages in einem Park auf einen anderen Inder trifft, nimmt ihn dieser mit in seine Vierer-WG, wo Inder, Pakistanis und Türken leben. Bagicha ist angekommen. „Mit ihnen fühlt er sich endlich wieder zu Hause“.

Es sind viele Fragen und Themen, die die Migration des Vaters für die Tochter aufwirft. Wie erwähnt, konfrontiert sie seine Reise nach Europa immer wieder mit politischen Ereignissen in den verschiedenen Ländern in die er kommt und die sich in zufälligen Gesprächen an Bahnhöfen, auf der Straße, in Bars spiegeln. Sie bezieht seine Erfahrungen, auch die im späteren Aufnahmeland Deutschland auf indische Lebensweisen. Ja, sie bringt sich auch selbst ins Spiel, wenn sie ihre Beobachtungen bei den jährlichen Besuchen in Pandschab mit ihren Erfahrungen in Deutschland vergleicht. Sie ist es gewöhnt, dass sie sich mit Freund*innen verabreden muss, wenn sie sie treffen will. Anders sei es in Indien. Dort kämen Verwandte und Freund*innen ohne Ankündigung zum Nachmittags-Chai einfach vorbei. Auch die Art des Zusammentreffens sei anders. Ungewohnt ist für die Autorin, dass viele Menschen auf engstem Raum zusammenkommen. Demgegenüber empfindet sie, dass die Menschen im Migrationsland ihres Vaters oft ein „sozial isoliertes Leben“ führen. Sie fragt sich, ob sie mit dieser Beobachtung „einer Theorie auf der Spur ist“, weil es möglicherweise „eine geteilte Erfahrung von Menschen mit Migrationsgeschichte“ sei.

Es gelingt der Autorin, im Verlauf des Buches wiederholt Brücken zwischen alltäglichen Migrationserfahrungen und Theorie zu schlagen. Ein Beispiel dafür ist die Frage nach dem, was Heimat ist. Für ihren Vater ist das noch klar: „Heimat ist, wo du geboren bist. Heimat ist das Dorf, wo ich als Kind in den Straßen gespielt habe und wo mein Vater Priester war“. Nicht mehr eindeutig sind Zugehörigkeit und Heimat für die Tochter: „Langsam fühle ich mich nicht mehr nur als Deutsche, die einen indischen Vater hat, sondern auch selbst zur Hälfte wie eine Inderin“. Sie markiert diese Entwicklung in ihrem Selbstverständnis als Erfahrung einer „Migrantentochter der zweiten Generation“. Dieses Selbstverständnis erinnert an den von Erol Yildiz geprägten Begriff des Mehrheimischseins, den er als Lebensmodell in Migrationsgesellschaften vorstellt.

Als Migrantentochter spürt Sunita Sukhana, dass Asien und Europa, Orient und Okzident gegeneinander hierarchisch gesetzt werden. Edward W. Said lieferte Sukhana zufolge mit seinem Buch Orientalism eine Erklärung.Darin wird „der Orient als eine Erfindung Europas“ behauptet, „um die orientalischen Weltgebiete als Gegenteil Europas, als das Andere, zu definieren und um diese Unterscheidung dafür (zu) nutzen, die ‚orientalischen‘ Länder zu kontrollieren und zu dominieren“. In dieser These zeigt sich eine Nähe zum Konzept des Othering, das im gegenwärtigen postkolonialen Diskurs als Erklärungskonzept für den diskriminierenden Umgang mit Migrant*innen eine zentrale Rolle spielt.

Das Buch von Sunita Sukhana enthält ausgehend von der Biografie des Vaters und seinem Aufbruch in ein anderes Land, vielfache, über diese Biografie hinausgehende Bezüge, die dem Buch seinen besonderen Charakter geben. Es stellt eine einzelne Migrationsbiografie in den Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen in verschiedenen Ländern und Kontinenten, es nutzt diese Biografie für migrations- und kulturtheoretische Überlegungen und es trifft unter Einbeziehung der Empfindungen einer „Migrantentochter“ gesellschaftspolitische Aussagen, die in die Zukunft weisen, wenn sie nicht schon Gegenwart sind. Die Autorin schreibt quasi als Fazit ihrer Erzählung:

Migration ist normal. Mehr noch. Ich würde sagen, sie ist unser Recht in einer Welt, in der die einen auf Kosten der anderen leben. […]. Deshalb sollte Migration ein Menschenrecht sein.

Das Buch erhält seine Spannung nicht zuletzt dadurch, dass die verschiedenen Ebenen miteinander verschränkt werden; migrationstheoretische Argumente etwa werden formuliert, wenn die biografische Erzählung dazu drängt. Nach der Lektüre dieser Einsprengsel möchte man wissen, wie Bagichas Geschichte weitergeht. So entsteht ein Ineinander verschiedener Perspektiven, die die Leser*innen dazu aufrufen, das Migrationsgeschehen von unterschiedlichen Seiten zu betrachten. Die Strukturierung des Textes durch die Nennung der Orte, die Bagicha durchreist oder wo sich die Autorin befindet und dazugehörige Jahreszahlen kommen dem Wunsch der Leser*innen nach Orientierung entgegen.

Titelbild

Sunita Sukhana: Von Indien nach Deutschland. Was uns der Weg meines Vaters über Migration und die Freundlichkeit von Fremden erzählt.
Hirzel Verlag, Stuttgart 2023.
175 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783777632742

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