Albrecht Dürer, immer wieder

Thomas Schauerte schreibt ein handliches Wissensbuch über den ambitionierten Künstler

Von Jörn MünknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörn Münkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Charles Bukowski meinte einmal, alle redeten zu viel. Das klingt sympathisch, doch bedeutet es nicht, dass immer schon alles gesagt ist. Zu Albrecht Dürer (1471–1528) wurde zweifellos viel gesagt und vorgezeigt, biographische Darstellungen, Werkstudien und Reprints seiner Arbeiten gibt es zuhauf, Museen und Denkmäler sind dem nordalpinen Großmeister gewidmet. Aber es gehört zur Einrichtung der Welt, dass auch die Kunst ihre Zeit hat. Weshalb man sie kontinuierlich auf den Prüfstand stellt, um sich ihrer zu versichern oder sie zu verwerfen. Dürers Werk bildet da keine Ausnahme, auch wenn 500 Jahre Wertschätzung dessen ästhetischen und sonstigen Dauerbrennerstatus erweisen.

Thomas Schauerte bietet eine Dürer-Werk-Synopse im Gesäßtaschenformat, 128 eng beschriebene Seiten mit zahlreichen Bild-Reproduktionen offerieren eine materialreiche Gabe. Im Zentrum steht die Möglichkeitsbedingung der künstlerischen und intellektuellen Karriere des mehrfach Begabten: Wer hat Dürer geprägt? Anders gefragt und weniger das Empfangsmoment der Beeinflussung betonend: Auf welche Personen hat Dürer von sich aus seine Antennen ausgerichtet, und warum? Schauerte liefert die bekannten Lebensdaten, betont aber vor allem Weichenstellungen wie den Abbruch der Goldschmiedelehre beim Vater und den Wechsel in die Malerwerkstatt Michael Wolgemuts (1434–1519); oder die Synchronizität des Einsatzes bei Wolgemut und der zeitgleiche Großauftrag für dessen Werkstatt, Hunderte von Holzschnitten für zwei herausragende Werke des frühen Buchdrucks (der Schatzbehalter 1491 und die Schedelsche Weltchronik 1493) zu produzieren. Die Hintergründe dieser für den Lebensweg Dürers bedeutsamen Ereignisse sind oft unklar und teilweise rätselhaft, weshalb über sie nur gemutmaßt werden kann. Schauerte tut das selbstbewusst, indem er die weißen Flecken identifiziert, auf die Forschungsdiskussion verweist und sein Dafürhalten anbietet.

Schnell kommen die beiden Personen ins Spiel, ohne die – so die zentrale These – das Jahrhundertphänomen Dürer nicht zu erklären ist: Konrad Celtis (1459–1508) und Willibald Pirckheimer (1470–1530). Zwischen 1495 und 1502 regte der ‚Erzhumanist‘, Poet und Netzwerker Celtis mit klassischer Gelehrsamkeit der antiken Literatur und persönlicher Entdeckerfreude eine Horizonterweiterung des jungen Künstlers an, in deren Verlauf der neue Motive und Gestaltungsformen für eine humanistische Bildrhetorik entdeckte und entwickelte. Als Protegé von Kurfürst Friedrich dem Weisen von Sachsen lancierte Celtis zudem Dürers Anschluss an die gesellschaftliche Elite.

Nach Celtis ist es ab 1502 der Nürnberger Landsmann, Mentor und spätere enge Freund Pirckheimer, mit dem Dürer bis zu seinem Tod im regen Austausch über die theoretischen und ikonologischen Implikationen der künstlerischen Arbeit stand. Pirckheimer, Spross einer angesehenen, humanistisch geprägten Patrizierfamilie, hat nicht nur Dürers Aufmerksamkeit auf die skulpturale Tradition der Antike gelenkt, sondern als wohlhabender Bürger auch vorgelebt, was Dürer erst in seinen letzten Lebensjahren gelingen sollte: als forschender Privatier über exklusive theoretische und didaktische Probleme nachdenken zu können, für die das routinierte Tagesgeschäft der Bilderproduktion, das lange Zeit dem Lebenserwerb diente, kaum Zeit ließ. So konnte es sich Dürer nach der Rückkehr aus den Niederlanden im Sommer 1521 leisten, seine großen drei Lehrtraktate zu verfassen (Unterweisung der Messung 1525, Befestigungstraktat 1527, Proportionslehre 1528). Der Briefwechsel der beiden Männer, die gegenseitigen Dedikationen und die Elegie Pirckheimers auf Dürers Tod zeigen, wie wichtig der eine für den anderen war.

Es wird gut nachvollziehbar, welche intellektuellen Impulse von Celtis auf Dürer ausgegangen sind. Warum gerade Celtis? Erstens hatte dieser ausgerechnet die Reichsstadt Nürnberg als Resonanzboden für eines seiner Vorhaben ausgesucht. Zweitens, und das ist nicht zu vernachlässigen, umwehte ihn das Prestige des viel gereisten, weltgewandten und beziehungsreichen Gelehrten, der jede Menge sozialen Kapitals besaß. In Pirckheimers Person vereinen sich Förderer, Anreger und Intimus. Insgesamt ist es schlicht erstaunlich, dass und wie der talentierte Handwerkersohn Dürer, für den eine höhere Bildung (inkl. Latein) nicht vorgesehen war, es den Bildungs- und Standesunterschieden zum Trotz schaffte, mit diesen beiden Männern intensive Beziehungen einzugehen, auf gelehrten Wissensfeldern wie der Perspektivik, Proportionslehre und Festungsbaukunde und auch im Umgang mit den rational begründeten Kulturtechniken messen, projektieren und aufreißen so produktiv zu sein.

Das künstlerische Repertoire Dürers kommt bei Schauerte keineswegs zu kurz. Im Gegenteil zeichnen sich die Bildbeschreibungen durch intensive Nahbetrachtung aus. Der Autor korreliert die Bilder mit seinen Ausführungen bzw. lässt die Argumentation zuallererst von den Bildern ausgehen. Auf manches Detail wird hingewiesen, das bislang unterbelichtet blieb; oder es wird die kunsthistorische Großerzählung in Frage gestellt, der zufolge Dürer von der italienischen Renaissance ausschließlich inspiriert wurde und schöpferisch profitierte (vgl. seine beiden Italienreisen ab Oktober 1494 und ab Sommer 1505) – während die Quellen und die Entwicklungsphasen in Dürers Technik und Schaffen auch eine andere Beeinflussungsrichtung plausibel machen.

Eine Nebenbeilektüre des Bandes ist ausgeschlossen, das Lesen erfordert Konzentration, auch wenn die Wissens-Reihe des Beck Verlags und das Format des Bandes etwas anderes suggerieren. Kleine, aber scharfe s/w Repros werden geboten, dazu kommen 16 Farbtafeln, die wenn möglich die ganze Seite einnehmen. So kommen das berühmte Selbstbildnis im Pelzrock (1500) und auch die Selbstdarstellung von 1493, ebenso der Feldhase (1502), das Bildnis Maximilians I. (1519) oder das Jesuskind mit der Weltkugel (1493) gut zur Geltung, während die verkleinerten Holzschnitt-Wiedergaben eher indizienhaft die große Meisterschaft Dürers bezeugen.

Albrecht Dürer ist der Spagat gelungen, zu Lebzeiten wie heutigentags die Geschmäcker anzusprechen, und zwar jeweils verschiedene. Das Aquarell des ikonischen Feldhasen hängt in vielen Wohnzimmern, verbreitet sind die Marienbilder des Nürnbergers, deren Varianten in den unterschiedlichen Techniken Zeichnung, Malerei und Druckgraphik in die Hunderte gehen. In der Mehrheit handelt es sich nicht um vertrackte Denkbilder – die es aber auch gibt, ganz prominent der populäre Meisterstich der Melencolia (1514). Dürer hat Sujets gewählt und eine Formensprache entwickelt, mit denen er ein großes Publikum anspricht, den Kunstliebhaber erregt und zugleich dem Ikonologen Denkstoff anbietet. Letzterer gehört auch deshalb zur Dürer-Gemeinschaft, weil dessen Kunst mit den Jahren verstärkt den Weg einer Intellektualisierung gegangen ist. Dazu ein letztes Beispiel: Im sog. Dresdner Skizzenbuch (erschienen 1513) ist Dürers Zeichnung einer linken Hand erhalten. Sie gehört zu einer Gruppe von Studienentwürfen zur menschlichen Proportion. Die Hand ist einerseits realistisch dargestellt, sie ähnelt aber auch einer geometrischen Figur, insofern sie sorgfältig kalkuliert scheint: Dürer exponiert sich als wissenschaftlicher Künstler.

Diese Hand, die im Modus des pars pro toto die mathematische Berechenbarkeit des gesamten menschlichen Körpers vorführt, ist denn auch Teil eines Wandlungsprozesses, der das Selbstverständnis des frühneuzeitlichen Künstler-Handwerkers betraf. Gehörte etwa die Malerei noch im 15. Jahrhundert zu den niederen Handwerkskünsten (artes mechanicae), wurde sie in Folge dem Kanon der prestigeträchtigen Freien Künste (artes liberales) zugeschlagen, die Kunst wurde insgesamt hierarchisch aufgewertet. So haben die Generationen über die Jahrhunderte Dürers Kunst immer wieder bestätigt. Zur zeitlosen Gültigkeit beigetragen hat sicherlich auch, dass Dürer es verstand, seine Werke politischer und religiöser Vereinnahmung zu entziehen. Sein Schaffen ist präsent, es dient nach wie vor der ästhetischen Unterhaltung und Erbauung, es ist anäugende Wohltat, zentrales Element des kulturellen Gedächtnisses und symbolisches Kapital wie Objektkapitalanlage, und es bietet Reibung und Inspiration für Künstler wie Forscher. All das kommt in dem schmalen Band zur Sprache, all das beansprucht einen aufmerksamen Leser, mehr Qualität geht fast nicht.

Titelbild

Thomas Schauerte: Albrecht Dürer.
Verlag C.H.Beck, München 2020.
128 Seiten , 9,95 EUR.
ISBN-13: 9783406756252

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