Doppelte Autorschaften
Ein Text+Kritik-Band erschließt Judith Schalanskys Kunst des Schreibens und Buchgestaltens
Von Michael Braun
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Aufnahme in die Reihe „Text+Kritik“ ist ein Ritterschlag. An die 250 Hefte gibt es bereits; die Autoren und Autorinnen, die darin behandelt, untersucht und beleuchtet werden, haben es in die Hall of Fame der Gegenwartsliteratur geschafft. Die kalifornische Literaturwissenschaftlerin Lilla Balint und ihr Leipziger Kollege Leonhard Herrmann haben Judith Schalansky ein längst überfälliges Heft der renommierten Reihe gewidmet. Auf die Frage, wie sie sich als ‚Gegenstand‘ der Reihe denn jetzt fühle, sage die Autorin: Nun ja, sie erlebe, wie sie „von einer Person zum Werk“ werde.
Und dieses Werk ist vergleichsweise schmal, aber höchst gehaltvoll. Fünf Bücher sind es seit dem Debütband Fraktur mon Amour (2007), darunter der Bildungs- und Naturroman Das Hals der Giraffe (2011) und der mehrfach überarbeitete und neu aufgelegte Atlas der abgelegenen Inseln (2009, 2021, 2023), der zur „Königsklasse poetischer Originalität“ zählt, weil er, wie Alexander Honold im einleitenden Beitrag schreibt, die Inseln aus der Grammatik von Mittelpunkt und Rand herausholt und sie als Hotspots von umstürzender „Vernichtung und Neubildung“ markiert.
Im Kontext des Nature Writing gewinnen Schalanskys Werke einen besonderen Stellenwert. Gabriele Dürbeck bettet ihre Texte in das New Nature Writing ein, das urbane und postindustrielle Orte einschließt und Modellierungen von „Sehnsucht und Wildnis“ (Robert Macfarlane) gegenüber Formaten einer aufklärerischen Naturgeschichte bevorzugt. Beispiel dafür ist Schalanskys Essay „Hafen von Greifswald“ (2018). Hier ist ihr Ausgangspunkt ein gleichnamiges verlorengegangenes Gemälde von Caspar David Friedrich. Es dient als Impuls, um einer verlorenen Natur nachzusehen. Das reicht bis zu einer ambivalenten ökopoetischen Reflexion, in dem ein tröstliches Abendlicht auf den verschmutzten Hafen fällt. Ganz ähnlich untersucht Caroline Schaumann Judith Schalanskys Texte im Spiegel der Extinction Studies. 99 Prozent aller Arten sind heute ausgestorben, die Hälfte davon wird nie erfasst werden können. Auch die untergegangene DDR (in Der Hals der Giraffe), ein ungebrochener Fortschrittsoptimismus, die vom Untergang bedrohten Inselstaaten und verschollene Kulturgüter wie Filme, Manuskripte und Gebäude gehören in Schalansky Verzeichnis einiger Verluste (2018).
Mit solchen Registraturen abgelegener oder verlorener ‚Dinge‘ fordert die Autorin Erkenntnisprozesse heraus, die Ulrike Vedder unter die Lupe nimmt. Und zwar mit dem glücklichen Begriff der tipping points: Kipp- und Wendepunkte, die ihre Folgenschwere oft erst verzögert offenbaren. Wie die „schwankenden Kanarien“: In dem gleichnamigen, von Carola Hilmes eingehend betrachteten Essay (2023) entdeckt Schalansky die Warnvögel, die bei dünner werdender Luft von der Stange fallen und dadurch Untertagebauarbeiter vor einer Kohlenmonoxidvergiftung warnen: ein Gleichnis für Klimawandel und Verlust des ökologischen Gleichgewichts. Wenn wir merken, dass unserem Planeten die Luft ausgeht, ist es womöglich schon zu spät: „Wo die Kanarienvögel schweigen, ist Gefahr. Wo Gefahr ist, darf die Literatur nicht schweigen“ (Begründung des Wortmeldung-Literaturpreises für kritische Kurztexte 2023).
Natürlich wird auch die Buchgestaltungskunst der Autorin, zu der Typographie, Einband und Illustrationen gehören, eingehend gewürdigt (von Andreas Platthaus und von Philip Ajouri). Jackie Smith berichtet von dem Abenteuer, Schalansky ins Englische zu übersetzen (die Übersetzung von Verzeichnis einiger Verluste zu An Inventory of Losses kostete die deutsche Alliteration, gewann aber einen eigenen Rhythmus und verlagerte die Unbestimmtheit des Adjektivs „einiger“ in einen unbestimmten Artikel, „An“).
In dem Gespräch, das diesen exzellenten Band beschließt, enthüllt die Autorin das Vorhaben einer Liebesnovelle, bekennt ihren Glauben an vernachlässigte Formen und „wildes Wissen“ und begründet ihre Vorliebe für Endnoten. Außerdem bringt Schalansky ihre Gesprächspartner dazu, den Text des Gesprächs nicht mit „Weißraum“ auf der Seite enden zu lassen. So wird die Gestaltung zur besten Freundin, zur „Komplizin“ des Schreibens.
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