Die Demokratie ist jeden Tag zu verteidigen

Siegbert Schefkes fesselnder Zeitzeugenbericht „Als die Angst die Seiten wechselte“

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seinen sechzigsten Geburtstag feierte der DDR-Bürgerrechtler und Journalist Siegbert Schefke im Jahr 2019. „Nach über dreißig Jahren Unfreiheit in der DDR folgten nun über dreißig Jahre Freiheit“, resümiert er in seinem neuen Buch Als die Angst die Seiten wechselte und fügt hinzu: „Mit dem Mauerfall ist die Demokratie aber noch lange nicht gesichert.“ Wie es in Ostdeutschland zu PEGIDA-Demonstrationen und zu starken Wahlergebnissen der AfD wie zuletzt im September 2019 bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen – 30 Jahre nach dem Mauerfall – kommen konnte, beschäftigt ihn sehr. Freiheit könne schnell wieder in Unfreiheit enden. Schefke fragt sich: „Haben im Osten unseres Landes zu viele die Demokratie nie gelernt oder begriffen?“ Sie muss jeden Tag verteidigt werden. Deswegen wird Schefke nicht müde, von seinen Erfahrungen in Schulen und auf Veranstaltungen zu erzählen. Mit dem Buch hat er die Erinnerungen an die DDR nun auch schriftlich festgehalten.

Schefke berichtet darüber, wie die Mauer seine Familie teilte, wie ihm der Staat seinen Berufsweg vorgab, ihn exmatrikulierte und die Wut wachsen ließ: „Sie mussten uns immer wieder beweisen, wer im Besitz der Macht war und dass die Genossen für uns nur Unfreiheit vorgesehen hatten.“ Im Sommer 1986 entschied Schefke, dass er Veränderungen in der DDR erreichen wollte und gründete die „Umwelt-Bibliothek“– ein Oppositionszentrum, das Aufklärung über Umweltzerstörung und Nazis in Ostdeutschland verbreitete. „Ich wollte radikaler werden, die Bevölkerung aufrütteln, schlicht und einfach die Situation verändern“, betont er. Deswegen erhöhte die Stasi den Druck auf ihn. „Schlapphüte“ standen rund um die Uhr vor seinem Haus und folgten ihm zum Bäcker und zur Kirche. Detailliert legt Schefke in seinem Buch dar, wie die Stasi ihn und seine Mitstreiter „brechen und zerstören“ wollte. Er gibt zu: „Die Dauerbewachung durch die Stasi zeigte Wirkung. Ich war total verunsichert.“ Seine Beschreibungen werden im Buch ergänzt von QR-Codes zu Filmen sowie von Fotos und Auszügen aus Schefkes Stasi-Akte. Die Auszüge aus der Akte mit dem Titel „Satan“ und die Observationsfotos sind erschreckende Belege für die Bespitzelung, das Suchen nach Plänen, Absichten und Aktivitäten Schefkes. In den Akten ist beschrieben, welche Personen genutzt wurden, um „ein persönliches Vertrauensverhältnis“ zu Schefke aufzubauen und ihn auszuhorchen. Weiter heißt es, Schefke würde „feindlich-negative Videoaufnahmen aus der gesamten Republik in den Westen“ verkaufen. Außerdem ist die „Einleitung eines umfassenden Differenzierungs- und Zersetzungsprozesses“ dargelegt, „dessen Zielsetzung darin besteht, den Schefke unglaubwürdig zu machen.“ Der Leser kann kaum nachvollziehen, wie groß der Druck auf den Autor gewesen sein muss und welche Ängste er auslöste. „Doch letztendlich erreichten sie [die Stasi; d.V.] genau das Gegenteil“, betont der Autor.

Im Jahr 1989 entschieden sich die Bürger in der DDR, für ihre Freiheit und gegen die Diktatur auf die Straße zu gehen. Obwohl die Volkspolizei am 7. Oktober 1989, dem vierzigsten Jahrestag der DDR-Gründung, in Ost-Berlin auf Demonstranten einschlug, fuhr der Bürgerrechtler Schefke nach Leipzig, um dort die Montagsdemonstration am 9. Oktober zu filmen. Medien waren nicht zugelassen. Niemand wusste, ob die Gewalt eskalieren würde. Doch entgegen aller Befürchtungen griff die Staatsmacht angesichts der überwältigenden Menschenmenge nicht ein. Schefke filmte die Demonstration vom Kirchturm der Reformierten Kirche aus, und es gelang ihm, das Video über den SPIEGEL-Journalisten Ulli Schwarz nach Westdeutschland zu schmuggeln, wo es in den Tagesthemen der ARD gesendet wurde.

Schefkes Ziel war, dass die Bilder in der DDR gesehen wurden („da fast in der gesamten DDR West-Fernsehen zu empfangen war “). Seine Filme vom Giftmüll auf der Deponie Schöneiche, vom Schmutz und den verfallenden Häusern sowie von der friedlichen Demonstration in Leipzig entfalteten eine große Wirkung. Sie belegten das Ende des sozialistischen Systems. Der Autor fragt sich jedoch wegen dieser Macht der Bilder damals auch, ob heute Journalisten PEGIDA „durch die intensive Berichterstattung“ erst „groß gemacht haben“. An Stellen wie diesen wird das Buch subjektiv und emotional. Mit Einschüben wie „ganz wichtig“ oder „echt nervend“ unterstreicht oder urteilt Schefke. Ulli Schwarz und er ärgerten sich über die „Feigheit“ anderer Journalisten, die doch allzu verständlich ist. Schließlich behauptet der Autor, Politiker der Grünen seien die einzigen gewesen, welche die DDR-Oppositionellen unterstützten – was anderen Zeitzeugenberichten wie dem des Bundesministers a.D. Franz Josef Jung (Die letzten Tage der Teilung, erschienen 2010 im Herder Verlag) widerspricht. Aber es war nun einmal seine Wahrnehmung in einer turbulenten Zeit mit Panzern „in Alarmzustand“. Der manchmal ungeschliffen wirkende Gedankenstrom ist besonders wertvoll. Denn es ist der unverfälschte Blick eines Zeitzeugen, der auch urteilen, kommentieren, zugeben und schreiben darf: „Das genaue Datum habe ich nicht mehr in Erinnerung“.

Der damalige Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl sagte einmal, dass Geschichtsschreibung an Qualität gewinnt, wenn die Akteure selbst das Wort ergreifen. Mit dem Buch von Siegbert Schefke wird die Atmosphäre der Montagsdemonstration lebendig und bleibt für diejenigen erhalten, die nach dem Mauerfall geboren wurden. Als die Angst die Seiten wechselte ist eine fesselnde Dokumentation der Diktatur auf deutschem Boden und der Möglichkeit, sich friedlich gegen sie aufzulehnen. Den Erinnerungen von Siegbert Schefke ist der Drang anzumerken, etwas zu bewirken und zu verhindern, dass Rechtspopulisten Ängste schüren und gegen die Grundpfeiler unseres Landes angehen.

Titelbild

Siegbert Schefke: Als die Angst die Seite wechselte. Die Macht der verbotenen Bilder.
Herausgegeben von Maren Martell.
Transit Buchverlag, Berlin 2019.
160 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783887473730

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