Mutterliebe zwischen Tatsache und Vorstellung
In dem Roman „Maman“ von Sylvie Schenk sucht die Protagonistin im Leben ihrer verstorbenen Mutter nach der Grundlage der eigenen Existenz
Von Frederike Karger
Jeder Mensch kennt das Verlangen, sich mit der eigenen Herkunft und Vergangenheit vertraut zu machen. Sylvie Schenks mit autobiografischen Andeutungen gespickter Roman Maman begleitet die namenlose Protagonistin bei diesem Vorhaben. Schenk selbst stammt aus Frankreich, studierte dort und lebt nun seit mehreren Jahren in Deutschland. Die Sprachwissenschaftlerin arbeitete als Lehrerin, bevor sie ihre ersten literarischen Werke sowohl in französischer also auch deutscher Sprache veröffentlichte. Die vielen Parallelen zwischen der Erzählerin in Maman und der Autorin weisen Schenks jüngsten Roman als eine persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft und Mutter aus und machen ihn so zu einem sehr emotionalen Text.
Auch die Ich-Erzählerin stammt aus Frankreich und zieht zusammen mit ihrem deutschen Mann in seine Heimat. Dort lebend arbeitet sie nun an einem literarischen Werk, in welchem sie das gesamte Leben ihrer eigenen verstorbenen Mutter rekapituliert. In den vielen kurzen Kapiteln von Maman sucht die Erzählerin Hinweise zur Vergangenheit ihrer Mutter, einem möglichen Seitensprung, der entweder zu ihrer Geburt führte oder der ihrer jüngeren Schwester. Als Schriftstellerin trägt die Protagonistin in Gesprächen und Telefonaten mit ihrer Verwandtschaft die wenigen Fakten zusammen, welche sie zu dem verzweigten Leben ihrer Mutter finden kann. Diese ergänzt sie um Hoffnungen und Vorstellungen, welche ihr von der Erinnerung an ihre Mutter und ihrem Pflichtgefühl eben dieser gegenüber, geblieben sind. Tatsachen und Vorstellungen stehen für sie scheinbar gleichwertig nebeneinander.
Mit jedem Kapitel wird der Unterschied deutlicher zwischen dem Wenigen, das wirklich war, und dem Vielen, das die Erzählerin sich vorstellt. Sie sucht in einer unbekannten Vergangenheit verzweifelt nach der Antwort auf die Frage, weshalb die eigene Mutter ihr immer distanziert begegnet ist. Doch diese hat nie viel über das eigene Leben erzählt und die Erzählerin und ihre Geschwister haben zu Lebzeiten der Mutter auch nie gefragt. Niemand, der mit Sicherheit erzählen kann, was vor so vielen Jahren passiert ist, ist noch am Leben.
Jedes einzelne Kapitel des Romans ist ein liebevoller, jedoch emotional sehr beladener Gedankengang der Erzählerin mit Blick auf die Frauen ihrer Familie. Jeder dieser Gedankengänge steht dabei in einem festen Zusammenhang mit den anderen und doch für sich allein. Beginnend mit dem Tod der eigenen Großmutter folgt die Erzählerin dem Leben ihrer Mutter, wobei sie häufig wechselt zwischen der vorgestellten Kindheit ihrer Großmutter, den womöglich realen Misshandlungen in früher Kindheit ihrer Mutter und der eigenen Gegenwart.
Auf wenigen Seiten setzt sich Schenks Werk mit einer Fülle von Themen auseinander. Im Zentrum steht dabei meist die fehlende Nähe in den Mutter-Kind-Beziehungen von der Großmutter Cécile bis hin zur Nichte der Erzählerin Flore. Über vier Generationen hinweg sind diese Beziehungen geprägt von unsicherer Herkunft, unklarem Selbstbild und ungewollten Schwangerschaften.
Mit dem Leben der Großmutter kommt zudem die Realität der Näherinnen und Seidenarbeiterinnen zu Zeiten des Ersten Weltkrieges, deren Not und niedere gesellschaftliche Stellung ebenso wie der zu wahrende äußere Schein einer Familie in der damaligen Gesellschaft in den Blick, welcher jedes individuelle Sein zu erdrücken scheint. Anhand einer matrilinearen Familiengeschichte werden somit auch Frauenbilder und gesellschaftliche Missstände der vergangenen 200 Jahre thematisiert. In jedem Abschnitt klingt leise Kritik mit den historischen Zuständen mit, doch Schenk verbleibt dabei nie allzu lang und springt bald zum nächsten Gedankengang und zum nächsten „was wäre, wenn“.
Erscheint der Roman auf den ersten Blick wie leichte und kurzweilige Lektüre, wird der Leser nach den ersten, oft nur zwei bis drei Seiten langen Kapiteln eines Besseren belehrt. Ihm begegnen überwiegend fantastische Abschnitte offensichtlicher Vorstellung und nüchterne Darstellungen weniger, eher fragwürdiger Fakten – und darüber hinaus immer wieder „Sie“. „Sie“ die Großmutter, „Sie“ Maman als Kind, „Sie“ die Ziehmutter von Maman und viele weitere Frauen aus dem Leben der Erzählerin.
Schenk durchschreitet in Maman beinah vier Menschenleben, eine Vielzahl an Themen und fast zehn Frauen allein in der engeren Familie der Protagonistin, die zudem nicht immer namentlich angesprochen werden. Diese Fülle wird leider in besonders irritierender Weise deutlich, wenn man sich etwa alle zwei Seiten neu orientieren muss in annähernd 200 Jahren Geschichte.
Die vielen Fragen, welche die etwas unübersichtliche Struktur des Werkes auslöst, übersteigen bei Weitem die Antworten darin und lassen die Leser mit einem zwiegespaltenen Gefühl zurück. Zum einen erhofft man sich durch eine erneute Lektüre mögliche Erkenntnisse aus dem verworrenen Zusammenspiel von Fakt und Fantasie. Zum anderen erkennt man die Fruchtlosigkeit einer Suche im „was wäre, wenn“ und wendet sich schließlich lieber von Schenks Werk ab – und im besten Fall jenen Menschen zu, denen man noch zuhören kann, bevor sie endgültig zu Vergangenheit und Ungewissheit werden.
Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2023 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2023 erscheinen.
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