Andere Räume, andere Sitten?
Der Sammelband „Fremde Räume“ bietet interessante Einzelstudien zur phantastischen Literatur, widmet sich dagegen kaum der Interkulturalität des Phantastischen
Von Swen Schulte Eickholt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGierige Kobolde, grantige Zwerge, Orks ‒ die gefallenen Elfen, die im Dunklen hausen ‒, zwielichtige Zigeuner, dumme Oger, Schlammblüter und Lichtelfen ‒ es drängt sich auch dem unbedarften Leser auf, dass die Welt der Phantastik und Fantasy oftmals reichlich rassistisch strukturiert ist. Ist das oder der Andere nur idealisiert oder degeneriert zu denken? Könnten die Orks, die Rotten Mordors, die literarisierte Angst vor den kulturell Anderen sein? Und die diffusen Monstrositäten aus H. P. Lovecrafts Welt? Personifizierte Abjektvorstellungen? Wie werden diese Figuren aus kulturtheoretischer Perspektive inszeniert, in welchen Räumen begegnen sie den Protagonisten, wo verlaufen die Grenzlinien und gibt es Erklärungsansätze für diese Konstruktionen aus dem sozio-kulturellen Umfeld der Autorinnen?
Diese wissenschaftlich noch ungenauen Fragen evoziert der Untertitel Interkulturalität und Semiotik des Phantastischen. Klaus Schenk und Ingold Zeisberger bestärken als Herausgeber in ihrem Vorwort diese Erwartungshaltung: „Das Phantastische kann aber auch zeichenhaft für das Unbekannte, Fremde, andere Kulturen etc. stehen“; gerade der Fremde sei häufig empfänglich für das Phantastische. Bevor man nun zu schwärmen beginnt, welche innovativen Impulse die profilierte Kombination von Kultur- und Phantastiktheorie geben könnte (Umgang mit Fremden, Codierung anthropologischer Orte, interkulturelle Räume und vieles mehr), soll es lieber gleich gesagt sein: Bei allen Stärken der vorliegenden Artikel, diese Vorlage wird von keinem ernsthaft aufgegriffen. Hans Richard Brittnacher und Marianne Wünsch nähern sich diesen vielfältigen Themen an, wenn sie von der rassischen Grundstruktur von Lovecrafts Fiktionen erzählen oder den Sumpf als Ort analysieren, der „das Gegenteil von Kultur“ (Brittnacher) evoziert. ‒ Dass die von Alan Ball konzipierte Vampirserie True Blood in den Sümpfen von New Orleans spiele, wo die Vampire in einer giftigen Atmosphäre aus Rassismus und Xenophobie zwischen der amerikanischen und französischen Kultur handeln, ist eine Steilvorlage, die wenig genutzt wird. In vielen Aufsätzen findet sich ein ebenso pflichtschuldiger wie globaler Verweis auf Homi K. Bhabha, dessen Konzept der Hybridität oder des Third Space zwar angerissen, aber keineswegs methodisch reflektiert integriert wird.
Diese Schelte auf der Basis eines bloßen Untertitels ist vielleicht schon zu lang geraten und nicht zuletzt einer problematischen Struktur des wissenschaftlichen Betriebs geschuldet. Schließlich wird die Zeit für einzelne Beiträge immer knapper, während eine immer höhere Frequenz erwartet wird. Das mindert zwar auch hier nicht die Qualität, aber das Thema des Kolloquiums, auf das die Beiträge im Band zurückgehen und das unter gleichem Titel 2013 an der TU Dortmund abgehalten wurde, konnte offenbar nicht in seiner ganzen Tragweite ausgeschöpft werden. Was die Beiträge jedoch bieten, sind fundierte Einzelstudien zur Raumgestaltung in der phantastischen Literatur. Am erfreulichsten dabei ist, dass die Autoren ‒ größtenteils im Bereich der Phantastik-Forschung schon durch exzellente Arbeiten vertreten ‒ nicht nochmals das kleine Einmaleins der Phantastik durchdeklinieren, sondern auf dem neuesten Stand der Forschung argumentieren; so wird etwa nicht mehr die leidige Frage gestellt, ob nun ein Werk der Phantastik zuzurechnen ist oder nicht, sondern zumeist knapp und präzise das zu Grunde gelegte Verständnis verdeutlicht.
Monika Schmitz-Emmans eröffnet den Band insofern glücklich, als sie anders als die meisten anderen Beiträger aufzeigt, wie Tzvetan Todorovs klassischer Ansatz immer noch sinnvoll Anwendung finden kann. (Todorov widmete seine letzte Monographie im Übrigen dem Kampf der Kulturen.) Wenn Schmitz-Emmans Phantastik in dieser Tradition als performativen Selbstwiderspruch begreift, da sie einen Riss in der Ordnung erzeugt, kann sie Potentiale von Todorovs viel kritisiertem Konzept insofern plausibilisieren, dass die Phantastik sich der Kohärenzbildung verweigert, der sich die anderen Gattungen im Rahmen ihrer fiktionalen Welt durchaus fügen. Sie stelle keine konsistente fiktive Wirklichkeit her, sondern eine in sich widersprüchliche Welt, die auf die Störung der vermeintlichen Sicherheiten abzielt. Diese Perspektive droht gerade verloren zu gehen, da man mit guten Gründen für einen Einbezug der Fantasy in den Bereich phantastischer Literatur plädiert. Dass ausschließlich als Phantastik gilt, was sich in diesem Bereich der Konsistenzverweigerung befindet, dürfte als überholt gelten. Wie man das Potential dieses Ansatzes dennoch ausschöpft, zeigt Schmitz-Emans dann insbesondere an einer Literaturgattung, für die sie den plausiblen Begriff „phantastische Beschreibungsliteratur“ vorschlägt. Man hätte sich gewünscht, dass diesem neuen Genre etwas mehr Raum gewährt wird, aber hier kann die Forschung gewinnbringend anschließen.
Neuland betritt auch Hans Krah, der in seinem Artikel den Ingenieur als literarische Figur in den Fokus seiner Überlegungen stellt und von einer Seite die Grenzen der Phantastik erkundet, die zumindest Todorov nicht hätte gelten lassen. Anhand der wenig bekannten Texte Amadeus (John Knittel, 1939), Der Tunnel (Bernhard Kellermann, 1913) und Der Kanal (Hans Richter, 1923) kann Krah zeigen, dass der Ingenieur als messianische Gestalt einer höheren Ordnung imaginiert wird, dem nicht weniger aufgetragen ist, als mit seinen utopischen Mammutprojekten die Welt (oder wenigstens das Abendland) zu retten. Auch die Wandlung dieser Figur vom gnadenlosen Herren über die Arbeiter hin zum bedingungslosen Diener der Sache, der in allen Lebensbereichen bewandert ist, wird plausibel skizziert. Zentral dabei ist das Ordnungsparadigma. Der Ingenieur als Mensch der Zukunft zähmt die wilde Natur durch die Technik. Besonders interessant sind darüber hinaus die Einblicke in das historische Projekt Atlantropa des Ingenieurs Herman Sörgel, der 1932 in einem Buch sein megalomanisches Projekt vorstellt, in dessen 250jährigem Verlauf er den Wasserstand des Mittelmeeres bis zu 200 Meter senken wollte, um Europa mit Afrika zu verbinden (das natürlich dankbar zivilisiert wird), um den neuen Imperien standhalten zu können. Das hier eine postkoloniale Perspektivierung unterbleibt, ist schon erstaunlich.
Dem Sumpf als phantastischem Gelände widmet sich Brittnacher in seinem Artikel. Hat der biblische Gott die Schöpfung begonnen, indem er Wasser und Land getrennt hat, so bekommt der Sumpf schon aus dieser Perspektive einen Sonderstatus als amorpher Raum hybrider Ordnung. Brittnacher referiert kurz die lesenswerte Studie Die Eroberung der Natur von David Blackburn, um aufzuzeigen, wie historisch auch in Deutschland die Landgewinnung vielfältig erst durch die Trockenlegung der Sümpfe möglich war. So erscheint der Sumpf gerade in der Goethezeit als Gegenteil von Kultur, ein Ort der Ekstase, der zur Kultivierung förmlich herausfordert. Am Beispiel der Erzählung Teichlandschaft mit Erle und Weide des Lovecraft nahestehenden Autors Clark Ashton kann Brittnacher zeigen, wie der Versuch, die diffusen Schrecken des Sumpfes ästhetisch zu kontrollieren, scheitert. Der Maler Amberville wird wie magisch von einer Sumpflandschaft angezogen, die er ins Bild bannen möchte. Schließlich jedoch erliegt er der Sogkraft dieser Ursuppe, man findet ihn und seine Geliebte tot im Sumpf, schon halb von Algen bedeckt. Der Sumpf erinnere daran, „dass das master narrative von der Eroberung des Raumes durch den Menschen noch lange nicht zu Ende geschrieben ist“. Es ist die Phantastik, die sich der Aufgabe stellen kann, „dem Menschen seinen zivilisatorischen Hochmut auszutreiben.“
Ausziehen und heil wiederzukommen, das ist nach Ulf Abraham die Grundstruktur der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur. Die Phantastik bietet dabei ein besonderes Potential für die Darstellung von Adoleszenzgeschichten, da die Räume stärker noch als in realistischen Erzählungen symbolisch ausgestaltet werden können. Abraham zeigt auf, wie die räumliche Struktur meistens durch einen Bereich von Ordnung und Harmonie gekennzeichnet ist, der an den Grenzen bedroht wird. Die Protagonisten müssen den Bereich der Ordnung verlassen und auf immer schlechteren Wegen der Gefahr entgegen gehen, wobei gerade der Verlust der Orientierung durch das völlige Ausbleiben von Wegen typisch ist. Archetypisch etwa Frodos Reise von Beutelsend nach Mordor in J. R. R. Tolkiens Der Herr der Ringe. Mit Blick auf Brittnachers Beitrag lässt sich ergänzen, dass Frodo, Sam und Gollum die Todessümpfe durchqueren müssen, um nach Mordor zu gelangen ‒ ein Gelände, das damit droht, sie ebenso zu verschlingen wie die Kämpfer der Ringkriege ‒ der Sumpf markiert auch hier den Übergang in eine andere Ordnung.
Neben den näher besprochenen Artikeln enthält der Band lesenswerte Studien von Stefan Neuhaus zu doppelt heterotopischen Räumen; von Tobias Lachmann zu Seelenlandschaften bei Ludwig Tieck (wobei der Artikel einen sehr gelungenen Transfer von den Schilderungen persönlicher Erlebnisse in Briefen Tiecks auf fiktionale Texte leistet); eine fundierte Detailstudie von Ingold Zeiserer zu der Figur der Alraune; von Marianne Wünsch zur Raumstruktur bei Lovecraft; von Eckhard Pabst zu Tod Brownings Kultfilm Freaks; kenntnisreiche Artikel von Martin Nies und Klaus Schenk, die sich den phantastischen Stadträumen von Venedig und Prag widmen und schließlich eine materialreiche Darstellung der Bibliothek in der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur von Maren Bonacker.
Auch wenn der Band den titelgebenden Anspruch, die Interkulturalität der Phantastik aufzuarbeiten, eher nicht erfüllt, liegt eine große Fülle sehr lesenswerter, gut geschriebener Aufsätze vor, die fast durchweg durch das profunde Wissen der Autoren überzeugen können und sich durch ihre gute Lesbarkeit sowohl für eine erste Auseinandersetzung mit phantastischer Literatur eignen, als auch und besonders einen vertieften Zugang auf dem aktuellen Stand der Forschung gewähren.
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