Das Eifeltagebuch eines Bienenzüchters

Norbert Scheuer erzählt über das Leben in Diktaturen

Von Monika WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bienen leben seit fünf Millionen Jahren auf der Erde, der moderne Mensch (homo sapiens sapiens) ist dagegen erst ca. 300.000 Jahre alt. Bei der Lektüre von Norbert Scheuers neuestem Roman Winterbienen könnte man sich fragen, wie sich die Menschheit in fünf Millionen Jahren Evolution entwickelt haben wird, vielleicht ist dann die menschliche Individualität auf ein solches Minimum retardiert wie bei einem Bienenvolk und die zwischenmenschliche Kommunikation könnte dann eine ganz andere sein als die heutige. Auch wenn Norbert Scheuer seine Leser zeitlich in die nationalsozialistische Diktatur versetzt, so widmet er seine detaillierten Beschreibungen insbesondere der Diktatur der Bienenvölker, die wie dystopische Zukunftsvorstellung gelesen werden können.

Trotz der Tragweite des Themas lässt sich der Roman leicht und schnell lesen. Dieses Paradoxon wird über die Schönheit und die Poesie der Sprache erreicht. Scheuer schreibt über den Krieg, der zum Alltag der Menschen und der Bienen wird, wunderbar unaufgeregt und lapidar, er hält immer nur den Moment fest, der grade zu erzählen ist. Den Lesefluss beschleunigt die Exotik der Geschichte: Dem Leser wird sonst selten der Einblick in die neben der menschlichen Welt existierende Welt der Natur geboten. Im Mittelpunkt von Scheuers Roman steht die Erzählung über Arimonds subjektive Begegnung, seine Erfahrungen und Wahrnehmungen der Natur. Anders jedoch als in dem 2015 publizierten Roman Die Sprache der Vögel stellt die Bienenwelt keine hoffnungsvolle, friedliche Welt dar. Das Summen der Bienen geht nahtlos in das Brummen der Flugzeugmotoren über, die tagtäglich über die Eifel fliegen.

Der Bombenkrieg in Deutschland ist spätestens seit W. G. Sebalds Ausführungen in seinen umstrittenen Zürcher Vorlesungen über Luftkrieg und Literatur von 1999 kein Tabuthema mehr und trotzdem lässt sich das Thema immer neu erzählen und kann die Leser immer neu bewegen. Scheuer schildert in Winterbienen ruhig und bewusst unspektakulär den Bombenkrieg in der Eifel, einer Region, die bis zur Landung der Alliierten im Juni 1944 in der Normandie weitgehend von den unmittelbaren Kriegseinwirkungen verschont blieb. Erst mit dem Eintreffen der amerikanischen Streitkräfte im September 1944 an der deutschen Westgrenze wurde die Eifel zum Aufmarsch- und Kriegsgebiet. Die große Geschichte bildet den Hintergrund für die individuelle Geschichte Egidius Arimonds.

Arimond führt ein Tagebuch, in dem er die Ereignisse der Tage literarisch sammelt, dabei setzt er keine inhaltlichen Schwerpunkte, sondern berichtet mit wechselndem Interesse über seine eigenen Beschäftigungen und das Geschehen im Städtchen. Es entsteht ein komplexes, dokumentartiges Bild der Geschehnisse des letzten Kriegsjahres. Die Tagebuchnotizen, die sorgfältig in einem Geheimfach eines Bienenstocks aufbewahrt werden, setzen am 3. Januar 1944 ein und enden am 19. Mai 1945. Bienenzüchter, Epileptiker, Frauenheld, Altphilologe und Fluchthelfer – das sind nur einige wenige Beschreibungsmöglichkeiten, die auf die Hauptfigur passen würden. Arimond wächst in einer Familie auf, die sich seit Generationen mit der Bienenzucht beschäftigt. Aus reinem Interesse wurde er Altphilologe und unterrichtete Latein am Gymnasium. Seit der Kindheit leidet er an Epilepsie, mit Ausbruch des Krieges verlor er als Epileptiker seine Stelle, wurde zwangssterilisiert und kein Arzt ist nun bereit, ihm Medikamente gegen sein Leiden zu verschreiben. Um zu überleben, und vor allem um an Arzneimittel auf dem Schwarzmarkt heranzukommen, verdient er das Geld mit Honigverkauf und mit der Überführung von Flüchtlingen über die Grenze nach Belgien. Als Fluchthelfer greift er bei den Fluchtvorbereitungen auf die Bienenzucht zurück, um unentdeckt zur Grenze zu gelangen.

Durch die gewählte Tagebuchform steuert Scheuer der Macht der Zeit entgegen, die fortwährend die Erinnerung an Geschehnisse verändert. Die Aufzeichnungen von Egidius Arimond zeichnen sich durch eine Resistenz gegen den diskursiven Prozess jeder Erzählung aus, bei dem notwendigerweise aus der jeweiligen Gegenwart heraus die Vergangenheit thematisiert und rekonstruiert wird. Der Protagonist schreibt in einer knappen, wenig reflektierenden Form die Erlebnisse des Tages nieder. Er beurteilt nicht, fasst nichts zusammen, nimmt keine Stellung zu politischen oder sozialen Fragen der Zeit und sieht zuversichtlich dem baldigen Ende des Krieges entgegen. Er zweifelt auch nicht, fragt nicht danach, ob sein Tun richtig oder falsch ist, denn das einzige, was für Arimond von Bedeutung ist, ist das Leben im weitesten Sinne zu erhalten, sein eigenes und das der anderen, darin war er dem Gedankengut von Nikolaus Cusanus sehr nahe, der in seiner Philosophie und seinem Leben eine Einheit jenseits aller Gegensätze versuchte. So verwundert es kaum, dass der Geist des Humanismus den gesamten Roman durchzieht.

Die Krankheit veranlasst Egidius dazu, ein Tagebuch zu verfassen; in ihm hält er sein Leben gegen das Vergessen fest, das die falsch behandelte Epilepsie mit sich bringt. Er notiert: „das Einzige, was bleibt, sind die Notizen. Sie halten mich am Leben, sind meine einzige Erinnerung. Ich spüre, wie ich mit jedem Anfall mehr und mehr vergesse“. In Egidiusʼ Gehirn vermischen sich die Welten und die Zeiten, die Jagdflugzeuge summen und kreischen, die Bienen verwandeln sich in die Bomber, die Flugzeuge werden zu Insekten, die Insekten dröhnen wie Jagdflugzeuge. Erasmus Scheuer zeichnet mit leichter Hand dreizehn Flugzeugtypen, die wie Insekten auf dem weißen Blatt aus dem dunklen Wolkenhimmel auftauchen.

Durch diese Parallelstellung der menschlichen Welt und der Bienenwelt gelingt Scheuer ein Vexierbild der Vernichtung. Auf dem Bild werden die Drohnen nach der Paarung getötet, die Winterbienen sterben nach dem Winter, die Sommerbienen machen nach einer kurzen Arbeitszeit Platz für andere Sommerbienen, um die Bienenstöcke verbreiten sich überall winzige Leichen. Auf diesem Bild werden auch Menschen willkürlich aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und zum Tod verurteilt, es zeigt Frauen, die wie Bienenköniginnen in einem Lockenwickler verfangen sind, wie Menschen auf Menschen schießen und Bomben auf die Zivilbevölkerung fallen: „Tote sitzen auf Stühlen, liegen in Betten, sie hocken in einem Schrank; ein Hund hinkt in den Ruinen umher, hat Glassplitter in einer Pfote. Alles ist dunkel vom Staub“.

Winterbienen ist auch ein theoretisch fundiertes, klug konzipiertes, vor allem aber spannend zu lesendes Buch, das von seiner Sprache vorangetrieben wird – und das nicht nur zwischen zwei Welten, sondern auch zwischen zwei Zeitebenen hin- und herwechselt: Zum einen wird die Gegenwart von Egidus Arimond und seiner Bienenvölker geschildert, zum anderen übersetzt und rekonstruiert der Erzähler die Geschichte seines Vorfahren aus dem 15. Jahrhundert und gibt Einblicke in die Gedankenwelt des Nikolaus Cusanus.

Es ist eine der großen Leistungen Scheuers, seinen Stoff jederzeit ansprechend darzubieten, Spannungsbögen aufzubauen, Szenen abzuschließen und trotzdem stets anschlussfähig zu halten. Norbert Scheuer ist ein Buch gelungen, in dem das Vergangene in Schrift gespeichert wird und das ein unverfälschtes Zeugnis der zeitlich entfernten Geschehnisse in die Gegenwart überführt.

Titelbild

Norbert Scheuer: Winterbienen. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2019.
319 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783406739637

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