Ein Roman wie ein vielstimmiges Musikstück

In „Die Sprache des Regens“ erzählt Roland Schimmelpfennig von der Macht des Geschichtenerzählens, der Unerklärbarkeit der Liebe und von der Nähe zur Natur

Von Marita MeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marita Meyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Dramatiker Roland Schimmelpfennig erkundet weiter die Möglichkeiten des Romans. Nach seinem Prosadebüt An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts liegt nun der zweite Roman des vielgespielten Theaterautors vor. Ähnlich wie im Debütroman besteht auch Die Sprache des Regens aus mehreren, zunächst unverbunden wirkenden Erzählsträngen. Beim zweiten Roman tritt nun die Fabulierlust des Autors noch stärker hervor. Zugleich sind die verdichtenden Motive der diversen Geschichten zwingender und damit der gesamte Roman fesselnder.

Mit welcher der Geschichten beginnen? Vielleicht mit Maria, der Lehrerin, die eines Morgens ohne erkennbaren Grund verhaftet wird. Ja, das erinnert an eine berühmte Erzählung der Weltliteratur. Anders als in Franz Kafkas Prozess erkennen wir am Ende einen Grund beziehungsweise besser gesagt einen Anlass für ihre Verhaftung. Bis dahin aber breitet der Erzähler eine Vielfalt von Neben- und Parallelgeschichten vor uns aus, deren Beziehungsgeflecht  erst allmählich deutlich wird. Ramiel, der verhaftende Polizist, ist ein Freund Marias aus Jugendzeiten. Sein jüngster Sohn liegt im Fieber, sein älterer Sohn ist vor Tagen, einem lokalen Brauch folgend, von einer Brücke in den Fluss gesprungen und seitdem verschollen.

Maria, die Lehrerin, die früher Anwältin war, – aber das ist wieder eine andere Geschichte –, erzählt ihren Schülern gern von George Washington, Julius Cäsar, Königin Elisabeth oder Johannes Gutenberg. Am liebsten aber erzählt sie von König Vadim von Riga und Reval, der Katharina von Aragon liebte. Obwohl diese seine Liebe erwiderte, wurden beide kein Paar, denn sie waren sich „zu ähnlich und zu verschieden.“ Um seine Trauer über diese unglückliche Liebe zu verarbeiten, begibt sich der König auf eine Wanderschaft von 90.000 Meilen. Unterwegs lernt er die Sprache des Feuers, der Sonne, der Steine ebenso wie die des Regens. Im Roman sind diesen Sprachen jeweils eigene, ausgesprochen poetische Passagen gewidmet. So erfahren wir, dass der Regen von der Ferne spricht und die Tropfen nach anfänglicher Verwirrung nach dem langen Sturz aus den Wolken aus der fernen Welt berichten, während sie an den Stämmen der Bäume herabrinnen und bevor sich ihre Stimmen im Erdreich verlieren.

Mit jeder Variante des Märchens über König Vadim, die Maria erzählt, wird deutlicher, wie sehr die erfundene Geschichte mit ihrem eigenen Leben verbunden ist. Nicht die historisch verbürgten Geschichten, sondern das Märchen wird dann auch einen besonders großen Einfluss auf einen ihrer Schüler ausüben, ihn zu einer schwer erklärbaren Handlung motivieren.

Die Geschichten um Maria, Ramiel und all die anderen Verwandten, Nachbarn und alten Freunde spielen an einem Ort, der an eine Küstenstadt in der deutschen Provinz erinnert, mit sozial divergierenden Wohnvierteln, die vom „Pfützen“- bis zum Villenviertel reichen. Auch eine Zeit wird nahegelegt. Offenbar spielen die Geschichten in der Gegenwart, mit Erinnerungen, die 30 bis 40 Jahre zurückreichen. Man assoziiert die politisch bewegten 1970er Jahre mit den Schilderungen über ein Kino namens „Tornado“, dessen Schließung von Protesten und von tragischen, auch blutigen Auseinandersetzungen geprägt war. Diese Ereignisse sind im kollektiven wie im individuellen Gedächtnis der Stadtbewohner verankert. Jeder im Ort kennt sie und alle gemeinsam gedenken ihrer jedes Jahr bei einem Festzug. Andererseits gibt es Rituale, Geisterbeschwörungen und Wunderglauben in der Stadt, die ganz andere Orte und Zeiten nahelegen, so als wären mit dem Regen Geschichten aus anderen Kontinenten  und aus fernen voraufgeklärten Zeiten in die Stadt gekommen. (Hatte nicht Roland Schimmelpfennig in seinen Vorlesungen über Dramatik über seine Geburtsstadt Göttingen gesagt, dass es dort immer besonders viel geregnet habe?) Fast spielerisch sind  die Spuren gelegt, die über die Erzählungen aus der deutschen Provinz hinausweisen wie der Brauch, Kerzen, Blumen und Obst auf einem Stück Holz auf das offene Meer zu schicken, bei dem man an Indien denkt, oder wenn  surreale Elemente wie eine Leiter, die in den Himmel wächst, in die sozial stimmigen Milieuschilderungen einfließen.

Schimmelpfennig erzählt parataktisch und kontrapunktisch, arbeitet mit Wiederholungen, erweitert dabei Geschichten und variiert Einzelheiten, so dass eine Art Sound entsteht, mit wiedererkennbaren Melodien und mit Refrains. Als Leser wird man in dieses Buch hineingezogen. Man liest angetrieben von Ahnungen über Zusammenhänge und Auflösungen von Geheimnissen. Realistische Beschreibungen und fantastische Erzählungen, Glaubhaftes und Unglaubliches stehen dicht nebeneinander. Am unerklärlichsten aber ist die Liebe. Was hat die große Erzählerin Maria mit dem wortkargen Handwerker Toni zusammengeführt? Wieso verliebt sich ein Fünfzehnjähriger in eine depressive junge Frau, die er kaum kennt? Die Ergründungsversuche der Liebe, die Sprache der Natur und die Macht des Geschichtenerzählens halten als Themen den Roman und seine Erzählstränge zusammen. Es gibt einen Plot und auch eine Auflösung. Aber bedeutender ist das Vergnügen, den kunstvoll in sich verschachtelten Versatzstücken zu folgen, wie man einem Musikstück lauscht oder dem Regen zuhört.

Roland Schimmelpfennig hat bereits in seinen Dramen immer wieder Geschichten erzählt und narrative Elemente einbezogen, so etwa die mehrfach variierenden Weitererzählungen der Fabel von der Ameise und der Grille im Drama  Der Goldene Drache.  Als Romanautor kann er die Komplexität und die Formensprache des Erzählens noch steigern, was allerdings vom Leser Vergnügen an Ver- und Enträtselungen  sowie ein gewisses Maß an kontemplativer Konzentration verlangt. Die naturpoetischen Passagen des Romans sind besonders gelungen, sodass es gut vorstellbar ist, dass der Dramatiker, der zum Romancier geworden ist, demnächst auch als Lyriker hervortritt.

Titelbild

Roland Schimmelpfennig: Die Sprache des Regens. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
315 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783103973211

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