Die Freiheit bevor der Vorhang fällt

Ferdinand von Schirachs Theaterstück „Gott“ thematisiert Suizid und Sterbehilfe

Von Martin A. HainzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin A. Hainz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Kehrseite der gegenwärtig tragischerweise wieder weltweit virulent gewordenen Frage, wer leben dürfe, der Schrecknisse der Triage also, ist die Frage, wer leben müsse – in dem Sinne, dass der assistierte Suizid ihm verwehrt wird. Dieses heiklen Themas nimmt sich der zunächst mit Kriminalgeschichten bekannt gewordene, aber inzwischen auf dieses Genre nicht mehr festgelegte Autor Ferdinand von Schirach in Gott an. An die Aufführung soll als Exposition vor einem Schlusstext eine Abstimmung anschließen: Darf die Figur, die den Anspruch stellt, mit Hilfe eines Arztes zu sterben, und zwar nicht in der Schweiz, sondern eben in seiner Heimat, die tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital bekommen, die ihm bislang vorenthalten wurde?

Dieser Aufbau kommt bei Schirach nicht zum ersten Mal zur Anwendung, schon in Terror (2015) musste das Publikum einen Richtspruch abgeben, damals zum Abschuss eines Flugzeugs im Rahmen eines moralischen Dilemmas, worin verschiedene Auffassungen von Ethik kollidierten, was auch hier gilt: Gott lässt einen Arzt, einen Anwalt, der den Sterbewilligen unterstützt, diesen selbst, der sich bemerkenswert der Begründung entzieht, einen Rechtssachverständigen, einen medizinischen Sachverständigen sowie einen Vertreter der Kirche miteinander ins Streitgespräch treten. Moderiert wird die Auseinandersetzung vom Vorsitzenden, der manchmal schlichtend eingreift – selten, da die Gespräche sehr geordnet verlaufen, manchmal auch hölzern. Zum Teil liegt das wohl daran, dass der Autor das Stück sich ändernden Rechtslagen anpassen musste, im Februar 2020 kassierte das Bundesverfassungsgericht jenen Paragraphen, der die „geschäftsmäßige Förderung“ von Suizid untersagte: zu einem Zeitpunkt, als das Stück schon abgeschlossen war und auch bereits Premiere gehabt hätte, wenn Corona das nicht verhindert hätte.

Die Positionen werden nun vorgetragen: Dabei hängt alles von der Frage ab, wann „die Autonomie und die Würde des Patienten“ – in der Genfer Deklaration angeführt – eher gewürdigt sind, beim Weiterleben-Müssen oder bei der Beihilfe zum Selbstmord, um beides so überspitzt zu formulieren, wie es das Stück mitunter tut, wobei die Rechtskundigen hier dann von Schirach als jene eingesetzt werden, die präzisieren dürfen: „Wir sollten ,Suizid‘ sagen, nicht ,Selbstmord‘. Sich selbst zu töten ist kein Mord.“

Wann ist also der Würde Rechnung getragen? Ist sie dem Menschen in einer Weise gegeben, die unabweisbar ist, das Leben selbst, dem sie dann aus Sicht des Lebensmüden eher ungut anhaftet? Ist das Leben „die Grundlage der Liebe“, wie der Kleriker in diesem Sinne formuliert? Ist der Begriff der Würde das, was die ärztliche Kunst von dem unterscheidet, was „Mechaniker des Todes“ (so im Stück die medizinische Perspektive) betreiben, also zum Schutz der Integrität derer erdacht, die, wo sie töten dürften, vielleicht auch töten müssten, wie jedenfalls diskutiert wird? Ist die Frage demokratisch zu regeln – oder durch eine Befragung der Ärzte, die die aktive Sterbehilfe mit einer „überwältigenden Mehrheit“ ablehnen, übrigens dann doch nur 62 Prozent? Oder meint Würde das, was der Anwalt des schweigsamen Patienten vorträgt, dass nämlich genau der Respekt vor diesem Wunsch ihr angemessen wäre? – „So ist dieser Absatz nicht gemeint“, antwortet der medizinische Sachverständige hierauf.

Die Frage ist, wie es denn gemeint sei, immer wieder, flankiert von Randfragen, ob etwa liberalere Gesetzgebungen zu vermehrter Inanspruchnahme des assistierten Suizids führten und Fälle bekannt seien, dass diese Euthanasie zu „finanziellen Verfehlungen“ führte. Immerhin könnte es doch sein, dass eine Gesellschaft, die ökonomischen Argumenten (zu) viel Beachtung schenkt, auch manchen heute von der Palliativmedizin gut Versorgten zwecks Einsparung allzu gerne erlösen würde. Gute Palliativmedizin könne immerhin dies bedeuten, so heißt es im Stück: „Der Sterbewunsch verschwindet damit.“ Ob sie das aber immer bedeutet? Und was bleibt dem Menschen, bei dem er nicht schwindet, wenn man aus Argwohn den Einsparungen/Erlösungen gegenüber für eine „freundliche Vision“, so die Replik im Stück, den assistierten Suizid untersagt, das Leid, die Flucht über die Grenze, um allein diesen Schritt zu tun…?

Schirach übt Zurückhaltung beim Werben für eine Position; er wirbt für jede – jedenfalls vordergründig. Es hängt zuletzt vom Sprachspiel ab, was zu geschehen habe, wobei es dann eben das Schweigen dessen ist, der seinen Tod will, was am Eindrücklichsten scheint. Wer die Freiheit in Anspruch nimmt zu sterben, ist, wenn ihm das zugestanden wird, in einer Weise souverän, angesichts derer alle Begründungen, wie verdienstvoll da die Bedenken auch durchdekliniert werden, lächerlich erscheinen. Jener Mann, der mit dem leidvollen Ende seiner Frau lebensmüde wurde, schildert, was geschah, dass er Hilfe in Anspruch nahm, dass er seinen Wunsch auch mit seinen Kindern besprach – doch die Erklärung, die er keinem schuldet, wenn er darf, was er will, unterbleibt, und zwar genau darum. Sie würde ihn geradezu widerlegen müssen. Das Schlusswort des Patienten, der nicht mehr leben will, vor der Abstimmung, die dann im Theater erfolgen soll, lautet bloß: „Ich vertraue dem Arzt, der bereit ist, mir zu helfen. Mehr kann ich nicht sagen.“

Schirach hat ein Stück vorgelegt, dessen Thema wichtig ist. Die Weise, in der hier Diskurse in Stellung zueinander gebracht werden, ist bemerkenswert. Ergänzend sind dem Buch in einem Anhang übrigens Beiträge zu Suizid und Suizidbeihilfe in existentieller, religiöser und kultureller Hinsicht von Hartmut Kreß, zur Hilfe zum Suizid von Bettina Schöne-Seifert und zum Suizid im Recht von Henning Rosenau beigefügt, die die theoretische Basis des aber ohnehin sehr diskursiv angelegten Dramas (wenn es das ist) nochmals klären.

Ob es klug ist, den Ernst der Frage zuletzt pseudodemokratisch einer unverbindlichen Wahl zu überantworten, ob nicht schon zuvor die steifen Dialoge sich gegen diese Idee sperren, das wäre zu diskutieren. Auch fehlen manche Fragen bezüglich der Legitimität oder Expertise, schon vor über 20 Jahren meinte etwa Rudolf Burger zum Thema, man solle nicht so tun, „als ob das ein medizinisches Problem wäre“, wozu ohne weitere Fragen hier nun wieder wesentlich auch Vertreter der Heilkunde sprechen. Man kann also einiges einwenden, zur Diskussion und zur Qualität des sich dramatisch verstehenden Textes. Interessant und anregend ist das neue Buch von Schirach aber allemal.

Titelbild

Ferdinand von Schirach: GOTT. Ein Theaterstück.
Luchterhand Literaturverlag, München 2020.
160 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783630876290

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