„Schlagt die Germanistik tot …“

Kontroversen zur Literaturwissenschaft um 1968 und ihre Folgen

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

„Schlagt die Germanistik tot. Macht die blaue Blume rot.“ Mit diesem Zitat beginnt der Bericht von Rolf Michaelis in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 9. Oktober 1968 über den Germanistentag in West-Berlin. Und er fährt fort:

Dieses Plakat empfing die Teilnehmer an der Berliner Tagung des Deutschen Germanistenverbandes, als sie gestern zur Eröffnung in die Staatliche Ingenieur-Akademie Gauss kamen. Schupos markierten den Weg vom Parkplatz zum Festsaal.

Polizistentag? Germanistentag? Offenbar hatte die Flucht der Veranstalter aus der Freien Universität im Villenviertel von Dahlem, wo „materielle Gewalt“ von Studenten gefürchtet wurde, ins Arbeiterquartier Wedding nichts genützt. Die Revoluzzer vom Fachverband Germanistik im Verband Deutscher Studentenschaften waren entschlossen, den Kongreß „umzufunktionieren“. Der „gesellige Abend“ des Germanistenverbandes“ am Vorabend der Tagung im „Hotel am Zoo“, geplant, war aus Furcht vor einem Handgemenge mit den Studenten abgesagt worden, die ihre Absicht nicht verheimlicht hatten, die Party in ein „republikanisches Fest umzufunktionieren“. Würde auch der Kongreß auffliegen? Das mußte angesichts der auf der Bühne im Gauss-Saal gelagerten Studenten befürchtet werden: Man wußte, daß der Vorstand des Germanistenverbandes die (richtige und vernünftige) Entscheidung getroffen hatte, unter keinen Umständen einen wissenschaftlichen Kongreß unter Polizeischutz abzuhalten.

Unter dem Bericht steht noch abgesetzt eine „Letzte Meldung“: „Um 18 Uhr mußte nach neuen Tumulten die Tagung vorerst abgebrochen werden. Weder konnten Vorträge gehalten werden, noch waren Diskussionen möglich.“

Zu den Paradoxien der nicht gerade dichtungsfreundlichen Studentenbewegung um 1968 gehört es, dass sie ihre Proteste gerne mit Versen und Reimen artikulierte und in Szene setzte. Die Popularität dieser Art von „Politpop“, als die man sie bezeichnen könnte, war so groß, dass viele bis heute unvergessen blieben. „Schlagt die Germanistik tot, macht die blaue Blume rot!“ Nicht nur mit diesem antiromantischen Verspaar auf einem Transparent demonstrierten sie auf dem und gegen den legendären Germanistentag des Deutschen Germanistenverbandes, der vom 7. bis 12. Oktober 1968 in Berlin stattfand.

Man könnte die beiden vierhebigen, alternierenden Verse mit ihrem einsilbigen Endreim literaturwissenschaftlich genauer analysieren, interpretieren und kontextualisieren und dabei u.a. darauf achten, wie das Reimpaar „tot“ / „rot“ damals noch in anderen Zusammenhängen verbreitet war und ob und mit welchem Sinn das Verspaar nicht nur mit „blaue Blume“, sondern auch mit „tot“ / „rot“ auf bestimmte Prätexte anspielt. Während des Zweiten Weltkriegs und noch danach in Zeiten des Kalten Krieges war „Lieber tot als rot“ eine Parole, die appellierte, im Kampf gegen den Kommunismus kein Risiko zu scheuen. Kritiker der Wiederbewaffnung vor und nach der Gründung der Bundeswehr und dem Eintritt der Bundesrepublik Deutschland in die NATO im Jahr 1955 wiederum verkehrten die Parole zu „Lieber rot als tot“. Beide Versionen waren übrigens kein nur deutschsprachiges Phänomen. „Better dead than red“ reimt sich auch in englischer Sprache und war in den USA verbreitet. Dem 1963 ermordeten US-amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy wurde nachgesagt, er habe während der Kubakrise privat bekannt, er würde seine Kinder „lieber rot als tot“ sehen.

Lohnt es sich, nach solchen Hinweisen mit der Analyse und Interpretation der beiden Verse fortzufahren? Auch mit ästhetischen wie inhaltlichen Vergleichen zwischen ihnen und etlichen anderen Parolen der studentischen Protestbewegung um 1968? Mit der militanten, doch zugleich ironisch-komischen Metaphorik des Totschlags ähnelt das Verspaar etwa den folgenden damals populären Slogans: „Schmeißt auf Bürokraten / Eierhandgranaten“. Oder: „Gegen Aktionäre / helfen nur Gewehre“. Oder etwas moderater: „Haut dem Springer / auf die Finger“. Und zumindest im komischen Gestus der Übertreibung gleicht es der Parole: „Wer zweimal mit derselben pennt, / gehört schon zum Establishment“.

Man könnte behaupten, dass sich die Metaphorik der Gewalttätigkeit 1968 im Vergleich mit Parolen in den Jahren davor radikalisierte. Statt „Schlagt die Germanistik tot“ hieß es etliche Monate vorher noch „Schafft die Germanistik ab!“ So der Titel eines Manifests, das die Basisgruppe des Walter-Benjamin-Instituts Frankfurt am Main, hervorgegangen aus einem Arbeitskreis für materialistische Literaturbetrachtung, Ende des Wintersemester 1967/68 verfasst hatte. Lässt sich die radikalisierte Totschlagmetaphorik auch als eine Reaktion und Anspielung auf den Tod des Germanistik-Studenten Benno Ohnesorg im Juni 1967 verstehen, mit dem die studentische Protestbewegung eskalierte? Der Germanistikstudent war zwar bei der Demonstration gegen den Schahbesuch in Berlin nicht totgeschlagen, aber von einem Polizisten totgeschossen worden.

Der metaphorische Totschlag der Germanistik also eine Art Racheakt für Tod des Germanistik-Studenten? Und ein Symptom für die zweifellos vorhandene Gewaltbereitschaft in radikalen Teilen der antiautoritären Protestbewegung? Es gab sie, und an der Gewaltmetaphorik lässt sich durchaus eine latente Militanz erkennen und kritisieren, doch die Gewaltbereitschaft zum charakteristischen Merkmal der Revolte zu erklären oder diese gar mit dem späteren Terrorismus der RAF zu identifizieren, wäre verfehlt oder gar eine gezielte Diffamierung.

In der Tat: Am Anfang war die Gewalt. Doch nicht die der weltweit rebellierenden Studenten. Die Rebellion richtete sich gegen die staatlich sanktionierte Kriegsgewalt in Vietnam, gegen die Gewalt der sowjetischen Panzer in Prag, gegen die vergangenen Gewalttaten in einem Deutschland, in dem ehemaligen Täter höchste Staatsämter besetzten oder nicht zuletzt in der Germanistik universitäre Positionen professoraler Macht. In Westdeutschland eskalierte die Gewalt, als der Germanistikstudent Benno Ohnesorg im Anschluss an eine Demonstration gegen den Schah von Persien von einem Polizisten erschossen wurde. Auf dem Höhepunkt der Revolte überlebte Rudi Dutschke das Attentat eines von der Springer-Presse fanatisierten Mannes nur schwer verletzt. Er starb an den Spätfolgen. In den USA war am 4. April 1968 der Bürgerrechtler und Friedensnobelpreisträger Martin Luther King von einem weißen Rassisten ermordet worden.

Damit ist die weithin verbale Gewalt, die von der internationalen Protestbewegung um 1968 ausging, kaum vergleichbar. Wie intensiv man sich damals in Theorie und Praxis mit den aus den USA übernommenen Methoden des „zivilen Ungehorsams“ auseinandersetzte, kann man im 2000 erschienen Buch von Wolfgang Kraushaar mit dem Titel 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur nachlesen. Neben der vorsichtigen Legitimation neuer „Techniken der begrenzten Regelverletzung“, wie sie seinerzeit Jürgen Habermas zur Diskussion stellte, zitiert Kraushaar hier einen unter den Protestierenden populären Kinderreim: „Keine Keilerei / Mit der Polizei / Kommt die Polizei vorbei / Gehen wir an ihr vorbei. / An der nächsten Ecke dann / Fängt das Spiel von vorne an.“

Eine literaturwissenschaftliche Analyse und Interpretation unserer beiden Verse, die mit solchen Kontextualisierungen fortfährt, wäre 1968 in der Germanistik zweifellos eine Provokation jenes literaturwissenschaftlichen Establishments gewesen, das auf die „Kunst der Interpretation“ kanonisierter literarischer Werke mit historischer Dignität fixiert war. Die Wünsche und Interessen der Germanistik-Studenten waren damals andere. Eine 2016 erschienene Erinnerung des 1948 geborenen Literaturwissenschaftlers Klaus-Michael Bogdal, nachzulesen jetzt auch in einer von Sabine Koloch herausgegebenen Sonderausgabe von literaturkritik.de über 1968 in der deutschen Literaturwissenschaft, beginnt mit den Sätzen:

Wir konnten alles, wir wussten alles, schon mit neunzehn: Über Marx und Freud, die Bedürfnis- und Bewusstseinsmanipulateure des Spätkapitalismus, die Nazivergangenheit der Deutschen, über die populäre Musik aus England und den USA, das politische Theater und den unabhängigen Film, über die Provokationen der Aktionskünstler und über alternative Lebensformen.

Was wir nicht wussten: Das alles war weit weg von der Welt unserer Professoren, meist jungen Hochschullehrern, die durch die Neugründung in Bochum einen Karrieresprung machen konnten. Sie kannten nicht, was uns wichtig war, oder es interessierte sie nicht.

Zur Bedeutung der „Chiffre 1968“ (Kraushaar) – sie steht „zum einen für einen kurzen Zeitraum vom Juni 1967 bis zum Sommer 1969, zum anderen für einen längeren von Mitte der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre“ (Schönert in literaturkritik.de 7/2018) – gehört es in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht, dass die Fixierung der Interpretationskunst auf kanonisierte Werke im längeren Zeitraum der 68er Jahre in der Literaturwissenschaft deutlich gelockert wurde – zusammen mit der Fixierung auf die „werkimmanente Interpretation“. Ihr wurde zumindest von jüngeren Literaturwissenschaftlern und von (vor 50 Jahren in der Professorenschaft noch ganz seltenen) Literaturwissenschaftlerinnen die Forderung nach Kontextualisierung der von ihnen untersuchten Texte entgegengestellt, die Berücksichtigung auch ihrer Produktion, medialen Distribution und Rezeption. Demnach wären also unsere beiden Verse unbedingt auch in den Zusammenhang mit eben jenem Germanistentag zu stellen, bei dem die studentische Protestbewegung nicht zuletzt mit ihnen maßgeblich dazu beigetragen hat, dass er eine öffentliche Aufmerksamkeit wie wohl kein anderer Germanistentag davor und danach erreicht hat.

Vor einem Jahr wieder stand das Verspaar im Zentrum der Erinnerung des renommierten, damals 43 Jahre alten Germanisten Albrecht Schöne, die im Rückblick auf seine damalige Lehrtätigkeit alles andere als schön war. Sein in der F.A.Z. vom 15. November 2017 abgedruckter, vier Tage zuvor gehaltener Festvortrag mit dem Titel „Erinnerungen an die 68er-Revolte in Göttingen“ auf der öffentlichen Jahresfeier der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen wollte, so die abschließenden Worte, als „Erinnerungen daran“ verstanden werden, „wie die rühmliche 68er-Medaille auf ihrer finsteren Rückseite beschaffen war“. Schöne gehörte auf dem Berliner Germanistentag zu den Professoren, die von den protestierenden Studenten an ihrem Vortrag gehindert wurden. Ein in Sabine Kolochs Sonderausgabe erstmals veröffentlichtes maschinenschriftliches Protokoll von Eva D. Becker (1968 Assistentin des Literaturwissenschaftlers Helmut Kreuzer) zum Verlauf des Germanistentages notiert:

Chaos. ‒ Schöne, dessen Vortrag (Goethes Wolkenlehre!) nun angesetzt wird, rettet die Situation nicht, sondern fängt einfach an zu reden, kommt aber gegen das Megaphon der Studenten nicht an. ‒ Ende.

Schönes Erinnerung daran enthält auch einen marginalen Interpretationsansatz zu „macht die blaue Blume rot“. Er konzediert zunächst:

Zweifellos haben die antiautoritären Postulate der 68er entschieden beigetragen zu einer allgemeinen Veränderung des gesellschaftlichen Klimas, zum Abbau von „Herrschaftsverhältnissen“ nicht allein zwischen Professoren und Studenten. Ganz gewiss haben sie an den Universitäten Reformen angetrieben, für die es an der Zeit war.

Doch dann folgen zunehmend gravierende Einschränkungen dieser positiven Einschätzung:

Nur könnte man denken, und meine ich, dass es dazu mit der Zeit ohnehin gekommen wäre – ohne massive Folgeschäden für unsere Hochschulen und eher einvernehmlich vielleicht, ohne wütende „Klassenkämpfe“, ohne Enttäuschungen oder Verletzungen, wie sie auch mir zuteil wurden. […]

Im öffentlichen Bewusstsein gilt die Studentenrevolte weithin nur noch als eine rühmliche Befreiungsbewegung, bei der man gewisse Kollateralschäden halt in Kauf nehmen müsse. Aber diese von den 68er-Aktivisten und ihren Anhängern erfolgreich hochgehaltene Medaille hatte auch eine finstere Rückseite.

In Schönes persönlicher Erinnerung ist sie mit unserem Verspaar eng verbunden:

Was sich damals an den Universitäten abspielte, erreichte mich auf handgreifliche Weise zum ersten Mal im Oktober 1968 in West-Berlin bei einer Tagung des Deutschen Germanistenverbandes. Sozialistische „Basisgruppen“ der Studenten hatten diese Veranstaltung von vornherein als „zeremoniellen Ausdruck des Privatbesitzes [der Professoren] an wissenschaftlichen Produktionsmitteln“ gebrandmarkt und von langer Hand „zur materiellen Gewalt“ aufgerufen. Der Eröffnungsvortrag dieser mit interdisziplinären Aspekten des Faches befassten Tagung, den ich übernommen hatte, galt „Goethes Wolkenlehre“. Als ich den mit etwa tausend Zuhörern gefüllten Hörsaal betrat, hatten wohl fünfzig Studenten das Podium besetzt. Eine rote Fahne führten sie mit sich und als Transparent (auf die „Blaue Blume“ der Romantik als Sinnbild eines liebenden Unendlichkeitsverlangens bezogen) die reichlich lieblose Aufforderung: „Schlagt die Germanistik tot, macht die blaue Blume rot!“ Das Reizwort „Wolkenlehre“ ließ sich als geradezu programmatische Entfernung vom festen Boden der irdisch-materiellen Tatsachen ausgeben und damit gründlich missverstehen.

Die blaue Blume in Novalis‘ Romanfragment Heinrich von Ofterdingen und etlichen anderen Werken der Romantik als romantisches „Sinnbild eines liebenden Unendlichkeitsverlangens“ zu verstehen und die Kritik daran als eine gegen die „programmatische Entfernung vom festen Boden der irdisch-materiellen Tatsachen“, ist sicher nicht falsch, aber auch nicht ausreichend. Die Metapher der „blauen Blume“ stand in der Studenten-Parole für Formen antiaufklärerischer Irrationalität der Germanistik, für ihre nationale Fixierung auf deutsche Literatur der Vergangenheit und für die nationalsozialistische Vereinnahmung der Romantik. Eine zwei Jahrzehnte später erschienene kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zur Romantik-Rezeption im Dritten Reich von Ralf Klausnitzer hat den dafür bezeichnenden Titel Blaue Blume unterm Hakenkreuz.

Aufgegriffen wurde die metaphorische Entgegensetzung von blauer und roter Blume in der Studentenbewegung mit dem Titel einer kaum noch bekannten Zeitschrift der Basisgruppe Germanistik an der Ruhr-Universität Bochum um 1968. Sie hieß Rote Blume. Klaus-Michael Bogdal hat in dem bereits zitierten Rückblick daran erinnert:

Argumentativ weit ausgreifend, wie es um 1968 bei einer wissenschaftsgläubigen und nach rationaler Durchdringung verlangenden Generation nicht anders zu erwarten war, nennt die Rote Blume als „Wissenschaftliche Veranstaltungen wie wir sie uns wünschen“, „Germanistik und Schule“, „Germanistik und Gesellschaft“, „Literatur und Rezipient“ und „Literatur als Medium“.

Damit sind im Zeichen der Roten Blume einige der Problembereiche angesprochen, die auch beim Germanistentag 1968 eine große Rolle spielten und für die weitere Entwicklung nicht nur der germanistischen Literaturwissenschaft Folgen hatten.

Dieser Germanistentag fand nicht nur in der Presse, sondern auch in der seit den 1968er Jahren forcierten literaturwissenschaftlichen Forschung zur Geschichte des eigenen Faches entsprechende Beachtung. Zum Teil in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach haben u.a. Petra Boden, Jörg Schönert, Bernd Dammann und Sabine Koloch in den letzten Jahren die Geschichte der Germanistik um 1968 intensiv zu rekonstruieren versucht.

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und in der Süddeutschen Zeitung sind, so ein Ergebnis der Recherchen von Koloch und Dammann, je sechs Artikel über diesen Germanistentag erschienen, in der WELT und im Tagesspiegel je fünf, in der ZEIT drei sowie eine Reihe von Leserbriefen dazu, und auch der Spiegel berichtete darüber ausführlich. Er beginnt mit Hinweisen auf die Vorgeschichte:

Spätestens seit im Mai Germanistik-Studenten im Verein mit den Happening-Spezialisten der Kommune I das Berliner Germanische Seminar für fünf Tage besetzt und in „Rosa-Luxemburg-Institut“ umbenannt hatten, schwante dem Vorsitzenden des Germanistenverbandes, dem Hamburger Ordinarius Karl Heinz Borck, 45, Schlimmes. Forderungen der „studentischen Besatzer waren damals unter anderen: „Aufhebung persönlicher Lehrstühle“ und „kollektive Bestimmung von Forschungsvorhaben und wissenschaftlichen Publikationen“.

Zur längeren Vorgeschichte gehört, was der Spiegel-Artikel nicht erwähnt, auch ein Treffen von Hochschulgermanisten in Mainz Ende März 1965, über das Petra Boden in den Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 1/1999 informiert. Auf Drängen einer jüngeren Gruppe von Wissenschaftlern, so geht aus Brief-Dokumenten des Deutschen Literaturarchivs Marbach hervor, ruft Benno von Wiese diese zu einer Aussprache in Mainz zusammen. Dort wird beschlossen, den Germanistentag 1966 in München mit dem Titel „Germanistik und Nationalismus“ anzukündigen (später modifiziert  zu  „Nationalismus in Germanistik und Dichtung“) und dabei auch auf die nationalsozialistische Vergangenheit des Faches einzugehen.

Der Bericht im Spiegel über den Germanistentag 1968 endet mit der Beschreibung eines Desasters:

Anlaß für die studentische Kritik waren ebensosehr das Programm, das trotz Institutsbesetzungen und „kritischer Universität“ unverändert angesetzt worden war, wie auch die überholten Kongreß-Formen. Weder waren sie bereit, auf die Diskussion der gegenwärtigen Rolle der Germanistik zu verzichten, noch mochten sie sich mit dem Status bloßer Zuhörer abfinden.

Argumente und Aktionen der Studenten offenbarten zusammen mit anfänglichen Fehlern der Versammlungsleitung am Mittwoch schließlich „Spannungen, die quer durch diesen Saal, auch durch den Vorstand gehen“ – so der Berliner Ordinarius Eberhard Lämmert. Eine Mehrheit der Kongreß-Teilnehmer beschloß daraufhin, das Programm abzuändern und mit den Studenten und Schülern zu diskutieren.

Daraus entwickelten sich freilich vorwiegend stundenlange Geschäftsordnungspalaver. Als am nächsten Nachmittag ein Schiller-Trupp die Bühne besetzte und die Diskussion unter dem Vorwand abbrach, diskutieren zu wollen, beendete Student Volker Wild die gemeinsame Sprachlosigkeit mit der eigenmächtigen Feststellung, der „Scheiß-Germanistentag“ sei damit beendet.

In der ZEIT berichtete der damalige Cheflektor des Suhrkamp Verlages, Walter Boehlich, der schon vorher mit seinen verlegerischen Aktivitäten und als Publizist das Hochschulgeschehen zum Gegenstand öffentlicher Reflexionen gemacht hatte (nach Dammann gilt er mit Recht als einer der „geistigen Väter“ der Studentenrevolte in der Germanistik), gleich mehrfach über den Germanistentag. Schon der erste Bericht ergreift Partei für die protestierenden Studenten:

Am Morgen der gar nicht so feierlichen Eröffnung hatten Studenten mit einer roten Fahne und Spruchbändern (Die Germanistik ist der Schwanz des Papiertigers – Schlagt die Germanistik tot, macht die blaue Blume rot) das Podium besetzt. Sie wollten erst einmal diskutieren, aber die Mehrheit wollte erst einmal Vorträge hören. Man versprach ihnen Diskussionen, und nun nicht mehr nur zu festen Zeiten, sondern nach jedem Vortragspaar, nicht aber Diskussionen über die Vorträge vor den Vorträgen. Man versprach ihnen diese Diskussionen als Lohn für Wohlverhalten, für den Fall also, daß sie erst einmal Spielregeln akzeptierten, die die ihren nicht waren und die sie für diskriminierend hielten – oder für ein Instrument der Herrschaft.

Gegenstand der studentischen Proteste, so macht auch Boehlichs Bericht deutlich, war vor allem die Fragwürdigkeit der Organisation dieses Germanistentages, die kaum Gespräche und Diskussionen zuließ:

Das Schema war das alte: vierzehn Vorträge und zwei Arbeitsgemeinschaften an vier Tagen – also kaum Diskussion, also, wie der aufsässige Student Volker Wild es genannt hat; eine „Selbstfeier der Ordinariengermanistik“, die als solche von den Veranstaltern augenscheinlich bis zum letzten Augenblick nicht verstanden worden ist.

Die Inhalte der Germanistentage von 1966 und 1968 entsprachen hingegen dem Profil der 1968er Jahre durchaus. 1966  bezogen sich die Vorträge von Eberhard Lämmert, Walther Killy, Karl Otto Conrady und Peter von Polenz (1967 publiziert in der edition suhrkamp) vor allem auf die nationalsozialistische Vergangenheit des Faches. Das  Programm im Jahr 1968 (dokumentiert in Kolochs Sonderausgabe) stand im Zeichen einer interdisziplinären Öffnung der Germanistik im Dialog mit anderen Wissenschaften. Boehlich berichtete:

Die Themenkreise, als deren Absicht die Möglichkeit interdisziplinären Arbeitens vermutet werden darf, sahen im einzelnen vor: Germanistik und Naturwissenschaft, Germanistik und Mathematik, Germanistik und Romanistik, Germanistik und Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie, Germanistik und Soziologie, Germanistik und Politologie.

Im Rahmen eines Projekts „Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft“ am Zentrum für Literaturforschung in Berlin zählte Jürgen Link vor nun schon fast 20 Jahren zu den Errungenschaften der 68er Bewegung die Ausbreitung einer „transnationalen Mentalität“. Und er sah sie verbunden mit anderen Phänomenen der Grenzüberschreitung, sei es die von Klassen oder wissenschaftlichen Disziplinen. Wissensbereiche wie die soziale Semiotik, die Analyse der Massenmedien, die Soziolinguistik, die Kritische Theorie, die Diskurstheorie, die osteuropäischen Strukturalismen und Karnevalismustheorien, die Psychoanalyse oder die antipsychiatrischen Initiativen wurden im Gefolge der 68er Bewegung zu transnationalen Zonen und als solche institutionell integriert. Die wissenschaftsgeschichtliche Forschung hat inzwischen vielfach gezeigt, dass ‚1968‘ durch eine Pluralisierung und Ausdifferenzierung von Theorien, Methoden und Fragestellungen einen Modernisierungsschub in Gang setzte, der die Entwicklung der Germanistik in den folgenden Jahrzehnten nachhaltig prägte.

Was die wissenschaftsgeschichtlichen Rückblicke auf die Studentenbewegung bislang wenig beachtet haben, sind Ähnlichkeiten zwischen den damaligen Wissenschafts- und Literaturdebatten. Der Totsagung der Germanistik entsprach 1968 die Totsagung der Literatur. Das Jahr 1968 ist in die Literaturgeschichten unter dem Stichwort ‚Tod der Literatur durch Politisierung‘ eingegangen. Die Aktionen der Studentenbewegung hatten eine durch die Massenmedien potenzierte Wirksamkeit, vor der die politischen Einflussmöglichkeiten von Literatur verblassten. Unter dieser Erfahrung entstanden Sätze, wie sie im berühmt-berüchtigten Kursbuch 15 Karl Markus Michel formulierte: „daß die als Hort aller Unzufriedenheit, als Born der Zersetzung verschrieene Gruppe 47 nicht einmal ein Papiertiger ist, sondern ein Schoßhund.“ Und hier erklärte Hans Magnus Enzensberger die Literatur zwar nicht (wie er später betonte) für tot, sprach ihr aber (der Unterschied ist nicht so groß) „eine wesentliche gesellschaftliche Funktion“ ab.

Fixiert auf solche Aussagen, hielten viele die Studentenbewegung hinfort für den zeitweiligen Ruin der deutschsprachigen Literatur, von dem sie sich nur langsam erholt habe. Doch sogar im Kursbuch 15 zeigte sich die Literatur durchaus lebendig. Enzensberger selbst trat hier als Übersetzer spanischer Dichtung hervor, und neben fünfzehn Seiten Prosa von Beckett stehen zahlreiche Gedichte, darunter vier von Ingeborg Bachmann. 1968 feierte mit Erika Runges Bottroper Protokollen oder Peter Weiss‘ Viet Nam Diskurs keineswegs nur die Dokumentarliteratur ihre Triumphe. In diesem Jahr auch gelang Siegfried Lenz mit seinem Erfolgsroman Die Deutschstunde der literarische Durchbruch, Hubert Fichte mit dem Roman Die Palette, Rolf Dieter Brinkmann mit Keiner weiß mehr und Horst Bienek mit Die Zelle. Handkes Kaspar wurde in Frankfurt uraufgeführt, Frischs Biographie in Zürich. Günter Eich veröffentlichte die anarchischen Prosaminiaturen Maulwürfe, Canetti seine Reiseaufzeichnungen Die Stimmen von Marrakesch und in der Neuen Rundschau vorab den großen Essay über Kafkas „anderen Prozess“.

Das ist zwar alles schon vorher entstanden, doch 1968 hat sich kaum ein Autor davon abhalten lassen weiterzuschreiben. Als Enzensberger 1971 eine Sammlung seiner Gedichte 1955 – 1970 veröffentlichte, war klar, dass auch er 1968 auf das Schreiben von Lyrik nicht ganz verzichtet hatte. Günter Grass publizierte schon 1969 seinen Roman örtlich betäubt, der zwar nicht in Deutschland, doch immerhin in den USA außerordentliche Resonanz fand. Heinrich Böll schrieb nach 1968 seinen wohl bedeutendsten Roman Gruppenbild mit Dame und erhielt 1972, ein Jahr nach seinem Erscheinen, den Nobelpreis. Ingeborg Bachmann arbeitete 1968 an ihrem Todesarten-Zyklus, und Uwe Johnson begann mit der Niederschrift der Jahrestage.

1968 war also ein vielschichtiges und durchaus ertragreiches Jahr der deutschsprachigen Literaturgeschichte und darüber hinaus, blickt man auf die damaligen literaturtheoretischen Debatten zurück, ungemein folgenreich, auch für die Literaturwissenschaft. Vor allem der Begriff „Postmoderne“, der in Deutschland erst in den achtziger Jahren Karriere machte, wurde hier erstmals diskutiert. „The Case for Post-Modernism“ lautete der Untertitel eines Vortrags, den der amerikanische Literaturkritiker Leslie Fiedler 1968 in Freiburg hielt. Bevor er im amerikanischen Playboy unter dem Titel „Cross the Border – Close the Gap“ erschien, publizierte ihn in Deutschland die Zeitung Christ und Welt und eröffnete damit eine sich über Monate erstreckende Diskussion (siehe den Beitrag von Sascha Seiler in dieser Ausgabe).

Fiedlers Aufwertung der populären Kultur gegenüber den hermetischen, in hohem Maße interpretationsbedürftigen Kunstanstrengungen der literarischen Moderne und sein Appell, „die Kluft zwischen Bildungselite und der Kultur der Massen zu schließen“, hinterließ 1969 unübersehbare Spuren in Rolf Dieter Brinkmanns Acid-Anthologie der „neuen amerikanischen Szene“, in der unter dem Titel „Die neuen Mutanten“ auch die Übersetzung einer früheren Veröffentlichung Leslie Fiedlers mit ganz ähnlicher Stoßrichtung steht.

Noch nach der Protestbewegung blieb die Literatur von machtkritischen Impulsen der 68er Jahre geprägt. Die Kapitalismus- und Imperialismuskritik verschob sich dabei allerdings zu einer fortschrittsskeptischen Zivilisations- und Vernunftkritik. Das marxistische Interesse am „Antagonismus von Kapital und Arbeit“ wurde ersetzt durch das an hierarchischen Gegensätzen anderer Art: Elite und Masse, Vernunft und Wahnsinn, Systemrationalität und Lebenswelt, Zivilisation und Wildnis, Technik und Natur, Kopf und Körper, Mann und Frau. Die exzessiven Kontroversen zwischen Apologeten der Moderne und Programmatikern der Postmoderne verdeckten in den achtziger Jahren oft die Übereinstimmungen in jenem Misstrauen gegenüber Macht und Herrschaft, das um 1968 gewachsen war und noch heute in der Literatur und in der Literaturwissenschaft fortdauert – nicht zuletzt in ihren feministischen Impulsen.

Die Überwindung nationalliterarisch eingegrenzter Perspektiven, die geforderte Internationalität sowohl der Foschungsgegenstände als auch der wissenschaftlichen Methoden, kam in der Literaturwissenschaft der Etablierung der Komparatistik zugute. Tendenziell beseitigt wurden in ihr die Grenzziehungen zwischen „Hoch“- und „Trivialliteratur“ oder „Popkultur“. Die Philologie wurde zunächst sozial- und später kultur- und medienwissenschaftlich oder auch anthropologisch erweitert. Die interdisziplinäre Bereitschaft zur Kooperation mit anderen Wissenschaften und die Orientierung an fächerübergreifenden Kriterien der Wissenschaftlichkeit nahmen deutlich zu. „Literaturgeschichte“ bedeutete nicht mehr, bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit die Gegenwart zu ignorieren. Und die Tendenz, nicht „Werke“ zu interpretieren, sondern „Texte“ oder sogar nonverbale „Zeichen“ zu analysieren, war ein Symptom für die Bereitschaft, die Gegenstandsbereiche der Literaturwissenschaft erheblich auszuweiten.

Die Germanistik totzuschlagen, ist der Studentenbewegung nicht gelungen, obwohl es in den siebziger Jahren Ansätze gab, sie in eine Allgemeine und vergleichende Literatur- und Sprachwissenschaft zu transformieren. Aber mit einer anderen Parole (siehe die Abbildung in Sabine Kolochs Einleitung zu 1968 in der deutschen Literaturwissenschaft), keiner explizit fordernden, sondern einer anklagenden, hat sie doch wohl mit Erfolg dazu beigetragen, die Literaturwissenschaften zu modernisieren und zu verlebendigen: „Unter den Talaren / Muff von tausend Jahren“. Solche Politpop-Parolen genauer zu analysieren, im Hinblick auch auf ihre anonyme Autorschaft, ihre Medien, ihre Machart oder ihre Wirkung, ist bisher allerdings versäumt  worden, läge aber nach den Entwicklungen der Literaturwissenschaft seit ‚1968‘ nahe.

Anmerkung: Der Beitrag entspricht einem Vortrag vom 29. November 2018 bei einer von Martina Kopf und Sascha Seiler geleiteten Tagung über „Die 1968er Jahre. Rebellion – Provokation – Pop“ an der Universität Mainz (Gutenberg-Institut für Weltliteratur und schriftorientierte Medien , Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft). Siehe https://www.avl.uni-mainz.de/2018/10/25/tagung-die-1968er-jahre-komparatistisch/. Eine überarbeitete und mit Zitatbelegen und Literaturangaben erweiterte Fassung erscheint 2019 im Rahmen einer Buch-Ausgabe der Mainzer Tagungsbeiträge.

Nachbemerkung: Dem  Verfasser dieses Beitrags ist es auch nach Befragungen exzellenter Kenner der damaligen Protestszene bisher nicht gelungen, ein Foto des Plakats oder Transparents  ausfindig zu machen, auf dem „Schlagt die Germanistik tot. Macht die blaue Blume rot“ zu sehen ist. Sollte jemand ein Foto davon haben, veröffentlichen wir es in diesem Beitrag gerne mit einem persönlichen Dank.