Russland prosaisch

Ulrich Schmid hat ein literarisches Lesebuch zusammengestellt

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das vergangene Jahr stand ganz im Zeichen des Gedenkens an die Russische Revolution von 1917. Landauf, landab wurden Ausstellungen organisiert, fanden Feierlichkeiten statt, wurden historische Episoden nachgestellt, wie etwa Lenins Zugfahrt von Zürich über Deutschland und Helsinki nach Petrograd. Dass dabei dem Epochenjahr 1917 im Ausland viel mehr Aufmerksamkeit zuteilwurde als in Russland selbst, hat manchen überrascht. Auch auf dem Buchmarkt war entsprechend viel los: Dutzende Titel waren darum bemüht, an die Russische Revolution zu erinnern, sie aus heutiger Perspektive einzuordnen oder in ihrer Bedeutung neu zu bewerten. Das große Jubiläum mag auch den Anlass für das von Ulrich Schmid herausgegebene Russland-Lesebuch geboten haben. Einen entsprechenden Bezug stellt er zwar an keiner Stelle selbst her, doch scheint das auch gar nicht nötig zu sein: Der Boden für ein gesteigertes Interesse an Russland war ja ohnehin bereits bereitet. Dass der S. Fischer Verlag also im doch vornehmlich historisch begründeten Gedenkjahr auch die russische Literatur nicht aus dem Auge verloren hat, ist auf jeden Fall zu begrüßen.

Ulrich Schmid hat eine schöne Auswahl von insgesamt 25 Erzählungen getroffen, die zusammengenommen fast 200 Jahre russische Literatur abdecken. Die frühesten Texte stammen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die jüngsten sind in der unmittelbaren Gegenwart entstanden. Damit die Prosastücke nicht unvermittelt nebeneinander stehen, hat sie der Herausgeber zu sechs Kapiteln gruppiert, deren aussagekräftige Überschriften auch bereits etwas von der inhaltlichen Stoßrichtung der Erzählungen erahnen lassen. Sie lauten der Reihe nach „Die Prosa der Lyriker“, „Die Prosa der Ethnographen“, „Die Prosa der Dienstschriftsteller“, „Die Prosa der Experimentalisten“, „Die Prosa der Gefangenen“ und schließlich „Die Prosa der Emigranten“. Eine solche Anordnung ermöglicht es einem auch, zwischen den einzelnen Texten zumindest im Ansatz Kontinuitäten beziehungsweise Brüche zu erkennen.

Ein Lesebuch ist keine Anthologie und erhebt somit nicht unbedingt den Anspruch, für eine nationale Literatur repräsentativ zu sein. Der Auswahl der Texte kann daher durchaus mit Gelassenheit in Angriff genommen werden: Es dürfen auch experimentellere oder bis dato weniger beachtete Stücke Berücksichtigung finden. Auch müssen die Kriterien, die der Auswahl zugrunde liegen, nicht krampfhaft begründet werden. Mit anderen Worten: Der subjektive Zugang durch den Herausgeber ist geradezu willkommen. Schmid hat jedem der sechs Kapitel ein kurzes Vorwort vorangestellt, das jeweils etwa drei bis zehn Seiten umfasst. Darin stellt er die einzelnen Erzählungen in einen Kontext, indem er auf die Autoren und das literarhistorische Umfeld zu sprechen kommt. Zugleich bieten ihm diese einführenden Bemerkungen Gelegenheit, auch auf das eine oder andere „typische“ Merkmal der russischen Literatur einzugehen, das letztere von anderen Nationalliteraturen unterscheidet. Ein gutes Beispiel hierfür sind seine Bemerkungen zu den „Dienstschriftstellern“: Der Herausgeber führt aus, ein Schriftsteller habe in Russland seit jeher kaum einfach eine Privatexistenz führen können. Er habe sich immer in einer bestimmten Weise zur Staatsmacht verhalten müssen, sei dies nun in Opposition, als Opportunist oder aber in durchaus bewusster Unterstützung der offiziellen Diskurse. Derartige Ausführungen sind für die Leserinnen und Leser sehr wertvoll: Sie verweisen bei allem Auswahlcharakter der einzelnen Texte auf größere Zusammenhänge und helfen bei der jeweiligen Einordnung. Selbst diejenigen, die mit der russischen Literatur bereits gut vertraut sind, können aus solchen Kommentaren mitunter noch Gewinn ziehen. Damit ist zugleich auch gesagt, dass sich das Lesebuch auf jeden Fall an eine breite Leserschaft richtet.

Die getroffene Auswahl der Autoren und Erzählungen darf man als eine ansprechende Mischung bezeichnen. Es finden sich hier sowohl anthologische Texte wie Alexander Puschkins Der Sargschreiner, der der späteren russischen Prosa maßgeblich den Weg bereitet hat. Von den Klassikern sind aber ebenso Michail Lermontow, Lew Tolstoj und Anton Tschechow mit Beispielen vertreten. Den innovativen Ansatz des Projekts muss man denn auch nicht unbedingt hier suchen wollen. Neben die bekannteren Autoren stellt Schmid auch solche, die bei uns entweder vorwiegend als Romanautoren bekannt sind (Michail Bulgakow, Boris Pasternak) oder deren Namen kaum (mehr) einem größeren Publikum geläufig sind (Boris Pilnjak, Leonid Leonow). Sollte man daher eine einem bereits vertraute Erzählung überspringen wollen, bleibt man spätestens bei diesen Schriftstellern wieder mit Interesse hängen.

Am interessantesten sind in diesem Russland-Lesebuch aber die Erzählungen aus neuester Zeit, die man hierzulande noch gar noch nicht kennen wird. Es handelt sich nämlich um Originalbeiträge, die von Franziska Zwerg eigens für die Erzählsammlung übersetzt worden sind. Wadim Lewentals Beitrag Der verbannte Kaiser ist im Original 2015 in einem patriotischen Sammelband über die Krim erschienen. Der Autor verbindet darin das oströmische Kaisertum beziehungsweise die Krim mit Russland und stellt das Ganze in eine große imperiale Traditionslinie. Das ist zumindest ein interessantes literarisches Experiment, wenn auch die politischen Implikationen nicht nach jedermanns Geschmack sein dürften. Nicht von ungefähr hat Schmid diesen Text im Kapitel der Dienstschriftsteller untergebracht.

Weniger von literarischem, als eher von dokumentarischem Interesse ist hingegen Jana Jakowlewas Der Tag der Freiheit aus dem Abschnitt „Die Prosa der Gefangenen“. Jakowlewa war 2006 als Managerin einer Chemiefabrik verhaftet worden: Man warf ihr vor, mit einer unerlaubten Substanz gehandelt zu haben. Sie saß monatelang in Untersuchungshaft, bis sie dann freigesprochen wurde. Ihre Erfahrungen in der Gefangenschaft hat sie in Briefen verarbeitet, die manches über das Leben in Haft mitteilen, zugleich aber auch die Möglichkeiten und Einschränkungen des „Business“ in Russland reflektieren. Innerhalb des entsprechenden Kapitels findet Jakowlewa mit ihrem Bericht wiederum einen Echoraum in den benachbarten Gefängnistexten von Fjodor Dostojewski und Warlam Schalamow.

Etwas zu kurz gekommen sind im Lesebuch die Frauen: Neben dem doch eher publizistisch zu nennenden Text von Jakowlewa ist eigentlich nur Ljudmila Ulitzkaja mit einer „richtigen“ Erzählung vertreten. Der Untertitel Das große Lesebuch ist überdies ein wenig hochtrabend ausgefallen: Der an und für sich durchaus gelungenen Konzeption der Sammlung hätte ein bescheideneres „Ein Lesebuch“ eigentlich viel besser entsprochen.

Titelbild

Ulrich Schmid (Hg.): Russland. Das große Lesebuch.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
443 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783596906666

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